Peter Kruse zum Thema Soziale Netze

Endlich ein alter Mann mit Bart! So der erste Gedanke. Dann zeigt sich: Der ist gar nicht alt, zumindest nicht im Kopf. Ich habe sowohl eine kurze Rede (Peter Kruse (D) auf YouTube zum Thema soziale Netze – Internet zu Gast beim Dt. Bundestag am 5. Juli 2010) als auch seinen halbstündigen Auftritt auf der re:publika 2010 zusammengefasst und kommentiert (meine Kommentare kursiv).

Steigen wir gleich ein:

Wenn wir uns das INternet mit dem Web 2.0 ansehen, dann ist der Vergleich mit einer Revolution durchaus angebracht:

1.) Extrem hohe Dichte eines neuen Netzes,
2.) extrem hoher Austausch und extrem hohe Spontanreaktionen,
3.) plus kreisende Erregungen im Netzwerk (Re-Twitter-Funktion).

Das fußt auf Bedürfnissen der Menschen:
1.) Informationssammlung
2.) Spuren hinterlassen
3.) zu Bewegungen zusammenschließen = mächtig werden.

Ergebnis: Hochschaukelung, das System wird mächtig und nicht vorhersehbar – weil nicht linear, der Schmetterlingseffekt steht dazwischen.

Fazit: Es entsteht eine grundlegende Verschiebung der Machtverhältnisse vom Anbieter zum Nachfrager.
Große Firmen etwa verlieren binnen ganz kurzer Zeit stark an Sympathie und Image, vor allem, wenn sie falsch reagieren und das neue System mit alten Mitteln bekämpfen. Kruse: Umsatzrückgang kann man nicht mehr durch die Erhöhung von Werbemitteln oder Preissenkung wettmachen – der Dialog mit dem Kunden ist notwendig und meist neu zu lernen.

Vorhersehbarkeit geht daher nur mehr durch Empathie – der Wahrnehmung dessen, was zur Zeit resonanzfähig ist im System. Wenn man einigermaßen nah dran ist an den Menschen und am Markt, dann kann man ein Gefühl bekommen für die Resonanzmuster der Gesellschaft.

Die Folge: Wir bekommen einen extrem starken Mitarbeiter, Bürger und Kunden.

Internet-Thesen von Peter Kruse:

1.) Die Schärfe des Disputes pro und contra Internet ist Indikator für unzureichend reflektierte Wertedifferenzen.

Diese Werte werden vom limbischen System gesteuert und interpretieren blitzschnell alle Alltagssituationen. Sie stülpen feste, früh entstandene Werte über und bauen so Stress ab („Ah, das ist das also…“ „Das ist X, das kenne ich – mag ich – mag ich nicht etc.“). Ähnlich können wir das Phänomen interpretieren, dass sich 90 % aller Autofahrer zu den 10 besten Prozent rechnen. Mathematisch geht as nicht, aber wenn wir das nicht täten, könnten wir nicht mehr Auto fahren, weil wir ständig über unsere eigene mögliche Inkompetenz stolpern würden.

Spannender sind aber die kulturellen Wertewelten – also sozusagen das limbische System einer Gesellschaft.
Eine Untersuchung ergab, dass sich die Wertesysteme bezogen auf das Internet in zwei Welten spalten: Die „Digital Visitors“ finden das Netz gut, Freundschaften orten sie dort aber nicht. Die „Digital Residents“ finden das Netz auch gut, legen ihre Präferenzen punkto echten Freundschaften aber auch genau dort hinein. Fazit: Wenn diese beiden Gruppen über „Freunde im Internet“ reden, kommen sie zwangsläufig in einen Konflikt, und zwar wegen der hinter den Phänomenen und Gegebenheiten steckenden Wertewelten, die sich unterscheiden.
Zur Erklärung: Die Visitors finden die Aktivitäten (Flashmobs organisieren, Online-Petitionen, Twittern etc.) bezogen auf das Internet zwar wichtig, mögen sie aber nicht, sie widersprechen ihren dahinter verankerten Werten.

Die Untersuchung ergab, dass die beiden Gruppen in allen Altersschichten etwa gleich verteilt sind!

2.) Die Veränderungen durch das Internet sind systembedingt und daher außer durch Abschaltung des Netzwerkes nicht zu stoppen.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn das bedeutet: Die Gesellschaft hat das Internet erzeugt, weil sie es braucht, so wie ein Landlebewesen eine Lunge hat, um zu atmen, und keine Kiemen.
Das lässt das Gedankenspiel biomorpher Strukturen in Gesellschaften reizvoll erscheinen. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft verhält sich in gewisser Weise wie ein Organismus, wie ein Lebewesen sozusagen.
Wir können das gut bei Ameisen oder Termiten, aber auch bei Fischschwärmen beobachten, wo Einzeltiere so gut in ein Gesamtsystem integriert sind, dass sie quasi automatisch so reagieren, wie es für das System am besten ist. Das dahinter sichtbare Ziel ist das Überleben des Systems durch möglichst gute Anpassung an die äußeren Gegebenheiten. Das Überleben der Individuen steht dazu in einem dialektischen Verhältnis (eigentlich in einem aporetischen, aber die genauen Ausführungen dazu erspare ich den mir sonst nicht mehr so geneigten LeserInnen) – mit anderen Worten: sie widersprechen sich und bedingen einander und sind beide notwendig. Es kann die einzelne Termite nicht ohne ihren Staat überleben und der Staat nicht ohne die einzelne Termite. Das Verhältnis erscheint leicht verschoben, denn es muss nur EIN Staat zugrunde gehen, damit alle Individuen sterben. Wenn jedoch ein Individuum stirbt, geht der Staat nicht zugrunde. Das lässt den vorläufigen (!) Schluss zu, dass der Staat (die Gemeinschaft, die Gesellschaft…) das wichtigere System ist. Es lässt aber auch den ebenso vorsichtigen Schluss zu, dass Individuen nicht einen ganzen Staat beherrschen sollten.
Das Phänomen, warum Menschen trotzdem gerne einen allmächtigen Führer in Form eines Einzelwesens für alle Entscheidungen erschaffen, führt in eine andere Diskussion, hat aber meiner Meinung nach mit einer leicht pervertierten Überbewertung (inklusive der dazu passenden Wehleidigkeit) des Individuums zu tun. Aber vielleicht gehört das ja auch zur menschlichen Entwicklung.

Kruse führt hier die oben erwähnten Faktoren noch einmal genauer aus:

Drei zentrale Faktoren zur Wirkungssteigerung in Netzwerken:

1.) Die Zahl der Netzknoten und deren Verbindungen (hohe Koppelungsdichte)
2.) Der Grad der Spontanaktivität der Knoten im Netz (starkes Grundrauschen)
3.) Das Vorhandensein länger kreisender Erregungen (dynamische Engramme)

In diesem System ist Selbstaufschaukelung ein Basisprinzip: Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Autokatalyse durch emotionale Resonanzen.

Das mit den emotionalen Resonanzen ist so eine Sache. Es handelt sich hier um einen Begriff aus der Systemtheorie, ich erkläre es aber ein wenig anders: Das Bauchgefühl gewinnt wieder an Bedeutung. Spontane Reaktionen (und manche Wissenschafter behaupten, überhaupt alle Entscheidungen) werden nicht rational und bewusst getroffen bzw. finden auf diese Weise statt. Das entmündigt uns übrigens nicht, aber das ist ein anderes Thema. Die unglaubliche Vielzahl und Differenziertheit der Informationen, die wir ständig bekommen, löst Schutzmechanismen aus. Der frontale Kortex ist derjenige Gehirnteil, der in der Evolution als letztes hinzugekommen ist. Dort sitzt die Vernunft. Unter Stress (auch z. B. bei Überinformation) schaltet er sich weg, weil der Körper die Gehirnteile in umgekehrter Reihenfolge ihrer Entstehung abschaltet. Unter Stress kann man nicht mehr klar denken, heisst das.

Also bleibt die emotionale Entscheidung.

Autokatalyse ist die positive Rückkoppelung, also in diesem Falle die Aufschaukelung.

Das führt zur nächten These:

3.) Die Social Software des Web 2.0 ist ein Angriff auf die etablierten Regeln der Macht und erzwingt ein grundlegendes Umdenken.

Handlungsmotive von Einzelnen haben schon in der Vergangenheit immer nach Netzwerken gesucht, die ihre Möglichkeiten aufschaukeln (Macht der Massenmedien). Jetzt suchen wir nicht mehr das Netzwerk, meint Kruse, sondern ES sucht UNS.

Das würde wiederum für meine These des biomorphen Struktur sprechen, die sich im Organismus quasi als neues, wichtiges Organ verankert, seinen Platz sucht.

Kruse legt noch eine Hypothese drauf:

4.) Das Internet führt zur Erhöhung des Selbst-Bewusstseins der Gesellschaft. Eine Re-Politisierung jenseits der Parteien ist nur konsequent.

Das Spannende daran: Die Menschen sind nicht unbedingt prinzipiell politisch uninteressiert oder faul – sie wollen nur eine neue Form der Politik. Die alte Form dürfte die Notwendigkeiten unserer Welt nicht mehr abdecken. Dass das die Politiker als letzte Gruppe erkennen, ist jedoch interessant, wenn es auch nicht sehr verwunderlich erscheint, da ihr Muster die Reaktion und nicht die Aktion ist.

Die Musterbildung im Netz, so ergänzt Kruse, ist nur von denen durchschaubar, die auch mitten drin sind.
Kruse leitet Handlungsparameter ab:

1.) schnell und expansiv auch ohne Unterstützung der alten Medien
2.) penetrant und dauerhaft ohne Rückgriff auf etablierte Strukturen
3.) schlagkräftig und organisiert ohne Hierarchie und Führungsansprüche

Das wird möglicherweise nur schwer zu schaffen sein und ev. nur in Schritten gehen. Hierarchie etwa steckt so tief in uns drin, dass es wahrscheinlich mehrere Generationen braucht, um neue kollektive Ordnungsprinzipien zu entwickeln. Als Gruppendynamiker darf ich hinzufügen: Wir kennen sie noch nicht!

Kruse bringt den Satz von Max Winde (auf Twitter): Die sozialen Netze werden die Politik verändern. Ihr werdet euch noch wünschen wir wären politikverdrossen.

Und er gibt noch einen Tipp: Vergessen Sie Expertengremien – wenn Sie sich über das Netz unterhalten, dann tun Sie es bitte im Netz.

Seine letzte Hypothese lautet daher:

5.) Die Lawine donnert bereits zu Tal. Überzeugungsarbeit ist nicht notwendig. Und bist Du nicht willig, so brauch ich… Geduld!

Und er meint: Entspannt zurücklehnen! Denn diese Systeme werden eine Dynamik bekommen, aufgrund derer wir es uns gar nicht leisten können, sie nicht entsprechend zu beachten.

Ich ergänze, was mir daher notwendig erscheint:

1.) Das Social Web kritisch hinterfragen, um seine Grenzen kennen zu lernen und die darin möglicherweise verborgenen Perversitäten und Grenzüberschreitungen (Kinderpornographie, Mobbing etc.) beschreiben und bekämpfen.

2.) Die Kontrolle vieler (Wikipedia-Modell) über die Kontrolle Einzelner (staatliche Zensur) stellen. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft.

3.) Durch die Förderung lokaler, nachhaltiger Energieerzeugung die Aufrechterhaltung der Knoten gewährleisten. Parallel dazu der Ausbau demokratischer Strukturen in den Regionen und auf lokaler Ebene (Gemeinden etc.). Dezentral kontrollierte Netze können nicht abgeschaltet werden.

Wer das Herz am rechten Fleck hat, wünscht sich keinen Crash

…Das ist das Fazit von Robert Misik, der mir in seinem Podcast ein bisschen den Kopf zurecht gerückt hat. Ich mag nicht alle seine Analysen, aber diesmal hat er quasi ins Schwarze getroffen (nämlich mich, da passt dieses Wortspiel). Wer es sich selbst ansehen will:

http://derstandard.at/1324170167037/Videocast-von-Robert-Misik—Folge-212-Wir-wollen-den-totalen-Finanz-Kollaps

Kurz und knackig herbei geleitet: In einer Zeit, in der Blicke nach vorne weniger lustig sind als Blicke nach hinten und viele Grundsäulen einer Kultur zusammenbrechen oder zumindest wackelig erscheinen, ist es einfach sehr schwer, optimistisch und voller Freude in die Zukunft zu blicken. Zusätzlich sehe ich Entwicklungen, die auf etwas zuzusteuern scheinen und die mir missfallen.
Und dann lese ich noch an jeder Ecke von kommenden oder in Wahrheit schon da seienden Krisen und ähnlichen Gebilden. Und ich sehe hamsterartige Weihnachtseinkäufe und Menschen, die ihr Geld ausgeben, statt es zu sparen. Das tut man übrigens immer dann, wenn man nicht an eine gute Zukunft glaubt und das Vorhandene noch schnell in sich hinein stopfen will. Da das innere Aufnahmevermögen begrenzt ist, dient das erweiterte Konsum-Ich als Reserve-Auffangbehälter.

Der Blick auf die in allen Medien ständig gezeigten Umweltkatastrophen macht es auch nicht einfacher und so taucht irgendwann das Bild auf: Hoffentlich ist das alles bald vorbei. Und natürlich – hier bleiben auch die schlimmsten Pessimisten Optimisten: Danach soll es besser weitergehen. In Form eines Neuanfangs, einer besseren, gerechteren, schöneren, saubereren Welt.

Was sagt die Geschichte? Gab es das jemals? Und vor allem: Gab es das jemals für alle, sprich: für den Großteil einer Bevölkerung, einer Kultur?

Diese Frage ist schon weitaus schwieriger, denn die Geschichtsschreibung ist hier stets verzerrend. Und vor allem wissen wir meist nicht, wie und wie viel verzerrt wurde. Letztlich bleibt aber folgende Frage offen: Lernen Gesellschaften aus Kataklysmen (Katastrophen) und Krisen? Ist das, was danach kommt, in der Entwicklung eine Stufe höher, reifer, besser (im Sinne eines Hegelianischen Idealismus)? Oder beginnt es wieder von vorne, mit den gleichen Dummheiten, den selben Entwicklungen, hin zum nächsten Knaller? Hat die Postmoderne die Wahrheit?
Was wurde aus dem Zusammenbruch des römischen Reichs gelernt? Was aus den Kreuzzügen? Aus der großen Pest? Aus dem dreißigjährigen Krieg? Aus der französischen Revolution? Aus dem ersten und dem zweiten Weltkrieg? Aus dem Finanzkollaps von 2008? Was habe ich selbst aus meinem durchaus schweren Motorroller-Unfall 2009 gelernt?

Was die Mayas, die Azteken, die Inkas, die Babylonier, die Armenier, die Buschmänner und unzählige andere Völker gelernt haben, wissen wir: Nichts, weil es sie nicht mehr gibt. Sie haben nicht einmal gelernt, wie man sich selbst vernichtet, weil es niemand mehr gab, der das lernen und als Wissen weitergeben konnte.

Was wir gelernt haben, ist die Entwicklung von Methoden, mittels derer Wissen weiter gegeben werden kann. Wir haben heute die Medien dazu, das Wissen zu sammeln und zu konservieren, somit auch weiterzugeben.

Die Frage ist nur: Was lernen wir daraus?

In erster Linie scheinbar nur wenig, weil wir das Wissen nicht mit Methode sammeln und vor allem nicht auswerten. Zumindest erscheint mir das so. Selbst das Internet mit Clouds und Terabyte-Speichern etc. sammelt ungeordnet und der allergrößte Teil besteht somit aus Wissen, mit dem wir nur schwer oder gar nicht etwas anfangen können.

Selbst wenn wir das könnten, wenn wir das Wissen von ein paar gescheiten und integren Menschen aufbereiten lassen, bedeutet das noch nicht, dass wir die Ergebnisse verwenden. Sie müssten zuerst durch die politische Mangel und würden durch Einzel- und Gruppeninteressen hindurchgewaschen. Was dann noch übrig bleibt, mag sich jede(r) selbst ausmalen. Und auch wenn dies funktioniert, müssten Entscheidungsprozesse stattfinden und danach die passende Umsetzung. Das erscheint mir noch unwahrscheinlicher als das Lernen durch Katastrophen – die prägen sich wenigstens lange ein und wirken nach.

Die Alternative ist somit das Lernen auf die harte Tour, sprich: durch Notwendigkeiten und Fakten. Das ist aber wiederum das Crash-Szenario. Und selbst hier handelt es sich leider möglicherweise nicht um Lernprozesse, sondern einfach um Zyklen von Wachstum und Niedergang. Das ist zwar ein sehr natürliches Szenario, aber kein besonders erfreuliches, weil es viel Leid inkludiert. Das ist auch ein Fazit von Robert Misik: Wer auf die Krise hofft, ist frivol (im Sinne von leichtfertig und das heißt wiederum, dass es sich jemand leicht macht mit seinen Schlussfolgerungen).

Die Psychologie dahinter ist interessant: Wer auf die Krise hofft, empfindet sich nicht als Teil derselben. Natürlich wissen auch die Krisenpropheten, dass sie mitten drin sind, aber sie fühlen sich in einer Schutzglocke, die sie gerne mit „Wahrheit“ bezeichnen. „Wir haben es gewusst und deswegen kann uns jetzt nichts passieren“ meinen sie. Warum glauben sie das? Haben sie wirklich vorgesorgt, besitzen sie die Rettungskapsel, die möglicherweise einzig und allein aus ihrem Glauben gebaut ist? Haben sie die Weichen so gestellt, dass sie als Sieger, als Überlebende, als Profiteure aus der Krise emporsteigen?

Ich fürchte, so einfach wird es nicht sein. Es gibt keine Inseln der Seligen und auch keine abgelegenen Bauernhöfe, auf denen man in selbst gestrickter Endzeitromantik und eben solchen Pullovern überdauert. Dazu sind wir zu klein, zu global geworden. Es gibt weder Rückzugsgebiete noch genügend hohe Mauern.

Wenn es eine echte Weltwirtschaftskrise gibt, dann trifft sie uns alle. Und selbst diejenigen, die es am wenigsten trifft, sind dann immer noch schlechter dran als jetzt. Das müssten wir in Kauf nehmen. Niemand von uns kann sagen, ob und wie er am Ende rausgespült wird. Und wir müssten auch in Kauf nehmen, dass es kein echtes Happy-End gibt, dass also (und auch das ist sein Fazit von Robert Misik) keine neue Gemeinsamkeit entsteht, auf der man einen neuen Staat aufbaut, der besser und glücklicher ist als der jetzige. Möglicherweise reagieren in der Krise die Menschen so wie immer, nämlich panisch um sich schlagend und alles rundherum in den Abgrund reißend. Krieg wäre vielleicht der totale Krieg, der beim ersten Versuch noch verhindert werden konnte. Nur gibt es diesmal keine Amerikaner, die uns befreien können. Und auch sonst niemand auf dieser Welt. Und auf die Außerirdischen warten ist auch nicht unbedingt erfolgsversprechend, denn die heißen möglicherweise alle Godot.

Was bleibt nun übrig? Das friedliche Evolutions-Szenario scheint unmöglich, das Crash-Modell hingegen unerwünscht.

Ich versuche, eine Entwicklung zu skizzieren, durchaus in dem Bewusstsein, dass sie unglaublich viele unbekannte Variablen enthält.

Die Erderwärmung kommt, aber sie lässt uns noch so viel Zeit, dass wir die wichtigsten Maßnahmen treffen können. Öl geht so langsam zu Ende, dass Alternativen entwickelt und ausgebaut werden können. Da Geld in erster Linie ein virtuelles Glaubensinstrument ist, kann es als solches ohne echten Realwirtschaftscrash reformiert und repariert werden. Etliche Maßnahmen greifen und wir kommen dem Zusammenbruch gefährlich nahe, schlittern aber daran vorbei. Eine Weltwirtschaftswährung entsteht, auch wenn das noch dauert.
Die Schwellen- und Entwicklungsländer profitieren so stark von den neuen Technologien, dass ihre Kaufkraft unsere marode Wirtschaft rettet. Zugleich geht dies mit wesentlich grüneren Methoden, als wir jetzt noch glauben. Auch die aufkeimende Demokratieentwicklung greift und zieht die übrig bleibenden Diktaturen mit sich. Die Korruption sinkt, der Wohlstand steigt und die Bevölkerungsexplosion kommt zu einem Stillstand. Wir können die 10 Milliarden Menschen gerade noch so lange ernähren, bis sich die Menschheit auf einem niedrigeren Niveau einpendelt.

Alles in allem wäre das erstens ein reizvolles, zweitens ein friedliches und drittens ein durchaus herausforderndes Szenario. Und eigentlich auch ein Lerneffekt. Sogar für die ganze Menschheit.

Neulich am Heiligen Abend sah ich ein Arbeiterdenkmal

Tatort: H&M-Filiale Mahü, erster Stock, Mauritz-Kassa. Eine lange Schlange steht an, nur eine von vier Kassen ist offen. Der Kassier sieht die ungeduldig werdenden Kunden und greift zum Telefonhörer, worauf es in der ganzen Filiale erschallt: „Patrick bitte, Patrick zur Mauritz-Kassa, Patrick bitte!“

Zeit vergeht, die Schlange wird länger. Eine Dame (wahrscheinlich „Stockmanagerin“ oder so) kommt, greift auch zum Hörer und wiederholt den Spruch.

Zeit vergeht, dann schlurft langsam ein top-gestylter junger Schnösel daher: Erdbebenhose, modisch-hautenges Hemd und ein Wahnsinn von einer blonden Föhnfrisur, neidisch könnt ma werden!

„Was is?“

„Kassa machen, hop hop.“

„Ich will keine Kassa machen.“

Der Stockmanagerin wurde klar, dass der junge Schnösel jetzt Kassa machen sollte, weil die lange Schlange sonst die Föhnfrisur in einen „Bad Hair Day“ verwandelt hätte.

Mit widerwilligem Blick fertigte er einen Kunden und mich ab, dann verzog er sich wieder, da die Stockmanagerin verschwunden war.

Hoffentlich verschwindet der Patrick bald im hintersten Winkel eines dunklen Lagers und bleibt dort für sehr lange Zeit. Und hoffentlich gibt man ihm dort keinen Föhn.

Kleine Wunder

In Namibia wird an die Menschen das so genannte BIG (Basis Income Grant) ausgezahlt – umgerechnet 8 Euro. Dieses Geld steht jedem Menschen ab seiner Geburt zu, jedoch leider nicht in ganz Namibia, sondern nur in einem Ort namens Otjivero. Mittels einer Karte und des Fingerabdrucks kann man sich das Geld jeden Monat auszahlen lassen. Nicht alle geben es für vernünftige Dinge aus.

Hochgerechnet würde es 5,7% des Namibischen Budgets kosten und mit sofortiger Wirkung 30% aller Menschen aus der Armut emporheben.

Interessant ist die Grundidee dahinter: Jeder Mensch hat von Geburt an ein Recht zu leben. Diejenigen, die vorher schon da waren, sind die einzigen, die ihm dieses Recht geben oder verweigern können. Sie bilden zusammen die Gemeinschaft und die ist es auch, die das BIG auszahlt. Da der Staat in Namibia jedoch in seiner Entwicklung noch nicht so weit ist, übernimmt eine evangelische Kirche plus europäischen Sponsoren das BIG.

Das Problem: Es handelt sich hier wiederum um Almosen, die von den Reichen an die Armen verteilt werden. Die haben kein Anrecht darauf. Der evang. Bischof kommentiert das so: Es sollte nie Geld für die Armen zuerst durch die Hände von Reichen gehen.
Das hat was.
Aber was ist die Alternative? Die Reichen sind ja eben deswegen reich, WEIL sie das Geld haben. Das führt uns zur „Im-Zentrum-Diskussion“ von neulich. Mit dem Mörtel und mit dem Chef von Berndorf. Alle dort versammelten Reichen stellten sich als totale Wohltäter dar, sozial bis in die Knochen, jeden Cent re-inverstierend, natürlich zum Wohl der gesamten Menschheit. Nur sie selbst wären geknechtet und würden ohnehin schon fast alles in Form von Steuern abgeben. Jetzt noch 0,3 % mehr Grundsteuer? Unmöglich! Sie wären sofort pleite, denn in Wahrheit wäre all das Geld, das sie haben, ja bei genauer Betrachtung nur Schulden und sie würden… ach egal, die Reichen wollen sich nichts wegnehmen lassen, das ist ja nicht neu.

Gestern hat Christian Felber im Club 2 die Idee eingebracht, Vermögen von über einer Million Euro mit 1 % zu besteuern. Wilde, etwas hilflos wirkende Aufregung – das könne man doch nicht machen, die hätten sich das alles hart erarbeitet und das würde letztlich zu einer vollkommen ungerechten Umverteilung (bei diesem Wort heulen manche Menschen noch viel viel mehr auf) führen. Selbstverständlich wäre das ab-so-lut indiskutabel, niemals, wir geben nichts her (der Niki Lauda sagt es uns eh täglich in der Werbung: Ich habe doch nichts zu verschenken!). Und außerdem. Und überhaupt. Da könne ja jeder kommen!

Und dann war ich gestern noch in einer Arbeitsgruppe, in der ein Banker (Bank Austria, Bereich Lobbying) meinte: Die meisten Unternehmer wären ohnehin komplett altruistisch und würden sich maximal ein paar Cent da und dort für eigene Bedürfnisse aus dem Topf nehmen, den Rest des Profits jedoch in Lohnerhöhungen ihrer Mitarbeiter investieren. Fazit: lauter Heilige, weder gierig noch sonst irgendwas. Und es gäbe auch keine reichen Griechen, die ihr Geld in die Schweiz gebracht hätten – vielleicht ein paar kleinere Beträge, aber sonst nicht, das wäre doch aufgefallen!

Je mehr ich darüber nachdenke, desto interessanter wird es: Eat the Rich! Das ist immer noch ein Ausweg, wenn man sonst nichts mehr zu Fressen hat, auch wenn die wahrscheinlich nicht sehr gut schmecken. Leider betrifft das auch mich, denn im Vergleich zum Mörtel bin ich arm wie eine Kirchenmaus (punkto Geldvermögen und Grund etc.), aber im Vergleich mit den meisten Menschen auf dieser Welt bin ich reich. Und ich will keine Mauern bauen, um das zu schützen, was ich angehäuft habe.

Da muss es eine bessere Lösung geben. Gegen das bedingungslose Grundeinkommen spricht bei uns vor allem, dass dieses Geld dann nicht mehr durch die Hände der Reichen fließen würde und sie eines starken Machtmittels beraubt würden. Verständlich, dass sie das nicht wollen.

Was heißt das jetzt? Wir werden auf das eine oder andere spannende Ereignis warten müssen, nach dem uns sowieso keine Alternative mehr bleibt. Scheinbar brauchen wir Menschen das, ohne starken Leidensdruck gibt es keine Veränderung.

Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut

Es ist lange her, da wurde Kaiser Franz-Josef I. zu etwas eingeladen, was man heute mit „Event“ bezeichnen würde. Laut Wikipedia trug sich folgendes zu:

Der Suizid des Architekten Eduard van der Nüll, Miterbauer der Wiener Staatsoper, angeblich als Reaktion auf eine Kritik des Kaisers, veranlasste Franz Joseph, zu kulturellen Angelegenheiten nur noch sehr zurückhaltend Stellung zu nehmen. Der Kaiser äußerte sich, statt irgendein Urteil abzugeben, bei kulturellen Anlässen nur noch mit der stereotypen Phrase: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!“ Er war sein Code für Unverbindlichkeit und Gleichgültigkeit.

Als ich neulich auf ebay ein Gebot für eine Schallplatte abgab, wurde mir mitgeteilt, dass ich der Höchstbieter bin. Dazu stand der Satz „Hope you win.“

Und Fürst Rainier von Monaco pflegte zu jedem Gewinner des Grand Prix beim Siegerempfang zu sagen „Ich bin froh, dass Sie es sind.“

Was hat das zu bedeuten? Wieso freuen uns Sätze, Nachrichten, Glückwünsche etc., die nicht von Herzen kommen, die nicht einmal von Menschen generiert sind? Bei ebay ist das eine simple Floskel, die von einem Computerprogramm hingeschrieben wird. Es gibt niemanden, der „hofft“, dass ich gewinne. Ein Programm kann nicht hoffen, und es ist auch kein Adressat da, denn „you“ ist jeder, der das liest.

Wieso hat sich der Architekt umgebracht, nur weil sein Werk dem Kaiser nicht so besonders gut gefallen hat? Wir finden die einzige Erklärung in der scheinbaren Erwünschtheit des Patriarchats. Es ist der gleiche Grund, aus dem Menschen sich die „Gala“ kaufen und begierig nachlesen, welcher Prinzessin irgendwo der Hut davon geflogen ist. Scheinbar haben viele Menschen den Wunsch, sich einer Obrigkeit unterzuordnen. Das kann ein König oder ein Chef sein. Das hat auch seinen Sinn, viele Errungenschaften unserer modernen Gesellschaft wären ohne Hierarchien und den damit verbundenen Ober- und Unterordnungen nicht denkbar. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der Unterordnung zwecks Erreichen eines gemeinsamen Zieles und der völligen Unterwerfung der gesamten eigenen Person unter eine Autorität, die man nicht einmal kennt. Im extremsten Fall geht das bis zur Aufgabe des eigenen Lebens, gerne auch mal ohne sinnvollen Grund.