Die Abgehobenheit

Philosophen gelten als abgehoben von der Realität der Welt und sitzen angeblich im gläsernen Palast über den Wolken und ein Flugzeug gilt als abgehoben, wenn es sich in die Luft erhoben hat.

Ich stelle eine andere Frage: Wo finden wir Abgehobenheit in der gesellschaftlichen Entwicklung? Zur Diskussion stehen folgende Punkte:

1.) Die Finanzindustrie
Finanz- und Realwirtschaft haben sich schon so weit getrennt, dass die Frage nach einer Verbindung inzwischen gestellt werden kann ohne auf großes Kopfschütteln zu stoßen. Durch die Entkoppelung des Dollars vom Gold unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher fand hier ein entscheidender Schritt statt. Durch die fast vollständige Aufhebung der Kontrolle des Staates über die Finanzindustrie unter Bill Clinton konnte diese ohne jegliche Grenzen wachsen. Eine winzige Eigenkapitalquote und zugleich die Möglichkeit Gelder fast nach Belieben hebeln zu können haben zum Aufbau von Finanzblasen und etwa Systemen geführt, die wir heute als „Derivatehandel“ und „Hedgefonds“ kennen.
Provokant gesagt: Die einzige Verbindung der Finanzwirtschaft zur Realwirtschaft besteht darin, dass erstere der zweiteren schaden kann und dafür keinerlei Konsequenzen zu befürchten hat (Welches Gesetz regelt, dass ein 22-jähriger Investmentbanker irgendwo in London auf den Knopf drücken kann und in Indien eine Hungersnot auslöst? Eben.).

2.) Die Ernährung
Der Großteil der Menschen in der westlichen Industriewelt hat nichts mehr mit der Kultur zu tun, aus der wir stammen, nämlich der Agri-Kultur. Wir sehen Fleisch nur in Plastiktassen eingeschweißt oder überhaupt fertig gebraten und hübsch angerichtet. Wir bekommen Brot aus dem Schnellbackofen im Supermarkt und sehen auch hier nicht, woher es stammt. Das gilt für fast alle Lebensmittel. Wir haben abgehoben von der Natur. Was bleibt ist Sport (meist im Fitnesscenter) oder die Fahrt ins Grüne (mit dem Auto bis auf den hoffentlich asphaltierten Parkplatz vor dem Wirtshaus im Wald).

3.) Die sozialen Kontakte
Wer setzt sich heute noch eine Woche mit KollegInnen zusammen und bespricht, wie es läuft und wie es allen geht? Oder nur einen Tag lang. Vielleicht eine Stunde? Meist nicht einmal das.
Freunde hat man auf Facebook und wenn man sie doch trifft, dann für sehr kurze Zeit, denn man muss an diesem Abend noch zu zwei anderen Festen oder kann nur gemeinsam einen Stehkaffee trinken, weil dann schon der nächste Termin ruft. Meetings werden kürzer und mit mehr Themen vollgestopft.
Wer bespricht ein Thema noch ohne Zeitdruck bis in die Tiefe, in der beide Gesprächspartner sagen können: Wir haben es vollständig bearbeitet.
Freundschaften und sogar Familien tendieren auch in diese Richtung. Wir haben abgehoben.

Abheben tut man letztlich immer von der Erde, deswegen stellt sich auch die Frage nach einer neuen „Erdung“ der Menschen. Wie soll diese aussehen und was soll sie auslösen?
Ich glaube, dass uns die globale Entwicklung, in der wir uns befinden, dorthin bringen wird. Es könnte allerdings ein schmerzhafter und teurer Weg sein und dafür sind wir dann selbst verantwortlich.
Felix Baumgartner wurde vom UNO-Generalsekretär plus den Medien als „mutigster Mann der Welt“ gefeiert. Das ist nun doppeldeutig: Für das Abheben oder für das wieder Zurückkommen? Vielleicht ja für beides.
Ich glaube, wir werden noch längere Zeit in diesem Widerspruch verweilen müssen, eventuell gehört das auch zu unserem Menschsein.