Die Sache mit dem Fahrradhelm

Sommer 2018 – ich erfahre, dass Rainer Neumüller gestorben ist. Zuerst denke ich an eine Krankheit – er hatte in letzter Zeit abgekämpft ausgesehen – doch dann muss ich erfahren, dass er mit dem Rad in eine Schiene gekommen und gestürzt ist. Die Gehirnblutung hat er nicht überlebt.
Ich habe Rainer nicht gut gekannt, aber hin und wieder bei einem Fest, einer Vernissage oder sonstwo ein Wort mit ihm gewechselt. Und er ist mir oft in der Edelhofgasse und Umgebung mit dem Fahrrad begegnet. Wir haben uns stets freundlich gegrüßt – ich als aktiver Grüner im Bezirk, er als Organisator von Art18 – dem wichtigsten Kunstfest in Währing.

Leider trug er keinen Helm.

Oktober 2018 – ich sehe zu meinem Schrecken auf Facebook das Bild eines zerbrochenen Helms. Er gehört Susi Schrettner, einer Schulkollegin, die seit vielen Jahren AHS-Lehrerin in der Steiermark ist und mit der ich auf Facebook in regem Austausch bin. Sie ist aktive Sportlerin und hat gerade auf einen alten Traum hintrainiert: „Einmal auf Sardinien beim Halbdistanztriathlon der Challengeserie starten zu können ist immer ein großer Wunsch von mir gewesen!“ (Zitat Susi)
Dieser Traum endete bei einer Trainingsfahrt, als sie auf einer Kreuzung mit dem Rad von einem jungen Mann im Auto abgeschossen wurde. Der wollte ihr nichts Böses, war einfach unaufmerksam. Glücklicherweise wurde sie nicht schwer verletzt, aber die zahlreichen Prellungen und andere Verletzungen machen einen Start beim Triathlon unmöglich.
Die Bilder brauchen keine weitere Erklärung:

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Bild 1: Susi trug einen Helm

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Bild 2: Autoscheibe und Rückspiegel – so entstehen Schmerzen

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Bild 1: Dem Rad riss das Auto die Gabel ab.

Ich möchte mir nicht vorstellen was passiert wäre, hätte Susi keinen Helm getragen. Und ich denke an die Witwe und an die Kinder von Rainer, wenn ich wieder einmal mit der Radlobby streite, ob Helm tragen sinnvoll ist oder nicht. Dort treffe ich nämlich auf die Meinung, dass Helme mehr schaden als nützen. Das wird folgendermaßen begründet: Natürlich kann im Falle des Unfalls ein Helm vor Schäden bewahren, aber wer einen Helm auf hat, von dem glauben die Autofahrer, dass er quasi unverwundbar ist und gefährden ihn stärker als jemand ohne Helm, etwa durch dichteres Auffahren etc.
Außerdem – so haben Studien ergeben – fahren RadfahrerInnen mit Helm riskanter, weil sie sich geschützt fühlen.

Ob diese Studien seriös sind oder nicht, kann ich nicht beurteilen, weil ich sie nicht kenne. Sie machen aber Rainer nicht wieder lebendig und hätte Susi der Radlobby geglaubt, wäre sie jetzt möglicherweise schwer verletzt oder tot.
Der junge Mann hat ja sicher nicht gedacht „Oh, eine Radfahrerin mit Helm. Na die kann ich ja ruhig übersehen!“ Er hat sie einfach übersehen, mit oder ohne Helm.

Ich fahre seit vielen Jahren konsequent mit Helm, auch wenn es heiß ist. Und ich habe auch mein bitteres Erlebnis mit einem Sturz, als ich vor vielen Jahren am Donaukanal zu einem Termin fuhr – mit dem Mountainbike. Da hatte ich damals schon einen Helm auf, leider aber nicht bei dieser Fahrt, denn ich hatte den vollkommen falschen Gedanken, dass ich ihn in der Stadt nicht brauche.
Seitdem weiß ich, dass das genaue Gegenteil stimmt – gerade in der Stadt ist es besonders gefährlich, weil es wesentlich mehr Gefahrenquellen gibt als irgendwo im Wald. Und der Boden ist fast immer sehr hart, weil asphaltiert.
Damals bin ich auf den Kopf gestürzt und ohnmächtig liegengeblieben, weil ich einem Hund ausweichen wollte, der plötzlich über den Radweg lief. Große Blutlacke, wieder aufgewacht, von der Rettung ins Spital geführt und genäht worden – so das Steno dieser Geschichte. Glücklicherweise ist nicht mehr passiert. Ein Helm hätte mir damals viel erspart, die Narbe auf der Stirn habe ich heute noch.

Zu meinem eigenen Wohl pfeife ich auf die Studien und trage einen Helm. Und ich halte es generell für sinnvoll beim Radfahren einen Helm zu tragen. Beim Skifahren trugen in meiner Jugend nur Verrückte auf der Piste einen Helm, heute hat sich das geändert. Damals gab es auch jede Menge Kopfverletzungen.
Beim Radfahren ist die Sache ähnlich, die Gefahr wird erst dann geringer, wenn die Gefahrenquellen weniger werden. Vor zwanzig Jahren trugen die Motorrollerfahrer in Phnom Penh auch keine Helme, aber dort war die allgemeine Höchstgeschwindigkeit aller Fahrzeuge in der gesamten Stadt nicht höher als 25 km/h und man fuhr ausgesprochen rücksichtsvoll, deswegen hielt sich die Unfallzahl in Grenzen.

In Wien ist das leider ganz anders. Radfahrer sind störende Hassobjekte, die das schnelle Vorwärtskommen der PKW behindern. Viele Autofahrer wünschen sich ein Radverbot in der gesamten Stadt und empfehlen mit zynischem Lächeln allen Radfahrern die Donauinsel, wo sie in Ruhe fahren können, so viel sie wollen. Sie sind sich ihrer Blechstärke durchaus bewusst, wie ich in zahlreichen Gesprächen erfahren durfte.

Von vielen Menschen höre ich, dass die Straße nun einmal ein sehr gefährlicher Ort ist, wo alle anderen Verkehrsteilnehmer außer PKW-Fahrern (also Radfahrer, Kinder, alte Menschen bzw. Fußgänger generell) nichts verloren hätten und wenn sie es doch tun, dann sollen sie gefälligst aufpassen und den Autos nicht in die Quere kommen.

Bei solchen Bedingungen aufgrund einer Studie bewusst keinen Helm aufzusetzen, halte ich für eher nicht so intelligent. Die Autofahrer durch das Nicht-Tragen eines Helms erziehen zu wollen, könnte schief gehen. Von der Radlobby wüsste ich gerne die Namen oder zumindest die Anzahl derjenigen Radfahrer, die in den nächsten Jahren für die Statistik geopfert werden sollen.

Einen Namen aus der jüngsten Vergangenheit kann ich ihr schon nennen: Rainer Neumüller. Ein Name wird in dieser Statistik „bedauernswerte Einzelfälle“ jedoch sicher nicht auftauchen: mein eigener.