Die Philosophie des Virus

Eine philosophische Betrachtung der Corona-Pandemie

Der französische Filmemacher Alain de Halleux nennt seinen Film über Corona „Sand im Weltgetriebe“ und legt damit den Finger auf die Wunde der Wachstumsideologie. Wir haben unsere Systeme ausgereizt, mindestens was die Ausbeutung von Mensch und Natur betrifft, im religiösen Sinne könnte man sagen, wir haben uns versündigt.

Um die Komplexität des Themas zu verstehen, müssen wir es auf mehreren Ebenen betrachten. Der Film hat mir dabei geholfen und mich vielfach inspiriert.

ERSTE EBENE: DAS VIRUS SELBST

Es (das Virus – oder der Virus?) ist angeblich nicht lebendig, weil es kein eigenes Stoffwechselsystem hat, es ist nur ein genetischer Code, oder – optisch dargestellt – eine Kugel mit einer Art von Stacheln, vergleichbar mit einer Treibmine.
Es ist winzig klein, Teil einer unsichtbaren Welt, in Relation so groß zu uns wie wir zur Welt. Es entsteht, verändert sich und zeigt doch so etwas wie ein eigenes Leben, in jedem Fall eine eigene Existenz. Es ist bedrohlich, hartnäckig, bekämpfbar, vielleicht sogar ausrottbar. Es existiert in vielen Formen und gehört zu unserem Leben.

Seine Variante Covid-19 hat die erste echte, weltweite Pandemie unserer Zeit ausgelöst. Dieses Virus und noch viele andere befallen lieber den Menschen als eine aussterbende oder stark dezimierte Gattung oder Art wie den Königstiger oder das Rentier. Es sucht sich die erfolgreichste und am weitesten verbreitete Gruppe von Lebewesen, um sie zu befallen. Es braucht lebende Zellen, um sich zu vermehren, um überhaupt zu existieren.
Für das Virus sind wir die Welt, so wie die Erde für uns die Welt ist, die wir befallen, in Besitz nehmen, verändern und zerstören. Wenn wir das geschafft haben, gehen wir genauso zu Grunde wie das Virus, wenn es seine gesamte Wirtspopulation ausgerottet hat.

Der Unterschied zwischen uns und dem Virus besteht eigentlich nur darin, dass wir die Wahl haben, wie wir mit unserer Welt umgehen.

„Luft… Luft! Das ist euer einziger Gedanke. Und während ich eure Lungen zerstöre, zerstört eure Maschine die Lunge der Erde. Das ist unser beider Dilemma. Wir leben von der Zerstörung und töten am Ende, was uns am Leben erhält“ sagt das Virus in dem Film.

Wer ist gefährlicher für das Leben der Menschen? Das Virus Covid-19 oder der Mensch selbst? Und wer ist verantwortlich für die derzeitige Corona-Situation mit Wirtschaftseinbrüchen, Depressionen, Armut und einer Vielzahl weiterer Folgen? Das Virus ist nur eines von tausenden Viren, die es in unserer Welt gibt und mit denen wir seit Anbeginn der Menschheit leben müssen.
Was ist das Besondere an gerade diesem Virus? Was ist der Unterschied zu anderen Viren?

ZWEITE EBENE: DAS VIRUS UND DIE WELT

Es ist nicht unbedeutend, ob das Virus in einem geheimen Labor im chinesischen Wuhan gezüchtet wurde oder von einer Fledermaus bzw. dem Schuppentier Pangolin stammt und auf einem Tiermarkt auf den ersten menschlichen Wirt übertragen wurde. Genau genommen ist es jedoch nur dann von zentraler Wichtigkeit, wenn alle bisherigen Viren (Grippe, Ebola, SARS, MERS etc.) künstlich gezüchtet wurden. Das wäre dann eine vollkommen andere Ausgangslage, als wenn die zweite Art des Ursprungs die Realität ist: Durch die ständig zunehmende Abholzung der Urwälder überall auf dieser Welt plus der massiven Bevölkerungszunahme geraten die bisherigen Balancen der Natur unter Druck und brechen zusammen. Dann kommt es zu vermehrtem Kontakt zwischen wilden Tieren und Menschen und irgendwo springt dann ein Virus auf einen Menschen um und verbreitet sich.
Diese Krankheiten heißen Zoonosen, weil sie von Tieren auf Menschen überspringen, auf Menschen, die dafür nicht bereit sind, weil sie nicht mehr nahe an der Natur leben.

Die Verbreitung wäre früher auch kein Problem gewesen, denn sie wäre lokal begrenzt geblieben. Selbst in frühen Globalisierungszeiten wäre das Virus nicht weit gekommen, denn nach einigen Wochen am Schiff wären entweder alle Träger gestorben oder geheilt und immunisiert in Europa oder wo auch immer angekommen.
Mit dem Flugzeug gelangt das Virus in wenigen Stunden rund um die Welt. Es sind wir, die das Virus verbreiten und es ist unsere Art zu leben.

Wir bleiben bei der zweiten Ursprungsvariante und identifizieren die Gründe für diese Pandemie.

1.) Starker Druck auf die Naturlandschaften, speziell die Urwälder, aufgrund der unkontrollierten Ausbeutung.
2.) Bevölkerungswachstum ohne geeignete Infrastruktur.
3.) Massiv ausgebauter Flugverkehr der letzten Jahrzehnte.
4.) Wenig Resilienz durch die Schwächung der Sicherheitsstrukturen

Diesen vierten Punkt gilt es zu erläutern. Die Resilienz ist die Widerstandskraft gegen Außeneinflüsse eines Systems. Die dominanten Strukturen der meisten Gesellschaften weltweit sind von zwei neoliberalen Grundprinzipien geprägt:

• Privat statt Staat – das bewirkt die Schwächung der staatlichen Strukturen.
• Nur die Stärksten sollen überleben – da in unserer Gesellschaft Stärke durch Macht ausgedrückt wird und Macht durch Geld, sollen die Reichen überleben.

DRITTE EBENE: DAS VIRUS UND DIE NATIONALSTAATEN

Als der österr. Bundeskanzler höchstpersönlich die Balkan-Route geschlossen hatte, durchströmte einen großen Teil der ÖsterreicherInnen das wohlige Wonnegefühl, das wir alle haben, wenn wir die Türe schließen und der kalte Schneesturm und mit ihm alles Grausliche draußen bleibt.
Wer am warmen Feuer sitzt, interessiert sich eher weniger für andere, die irgendwo draußen sind. Wenn diese anderen noch dazu auch gerne die wenigen Plätze rund um das wärmende Feuer hätten und wir diese anderen gar nicht kennen, wird aus dem Desinteresse klare Ablehnung.
Wer uns dann verspricht, diese anderen verlässlich draußen zu halten, bekommt unseren Applaus bzw. unsere Stimme.
Wir könnten zwar die menschlichen Eigenschaften Empathie und Mitleid auspacken, doch leider kommt uns die Behaglichkeitsdifferenz dazwischen, wie Eugen Roth treffend beschreibt:

„Ein Mensch liest, warm am Ofen hockend
Indem das Wetter nicht verlockend,
dass draußen, im Gebirg verloren,
elendiglich ein Mann erfroren.
Der Mann tut zwar dem Menschen leid,
doch steigert´s die Behaglichkeit.“
(Eugen Roth: „Traurige Wahrheit“ in: Von Mensch zu Mensch)

Dummerweise gibt es rund um das Feuer nicht genügend Holz und so müssen wir die Türe öffnen, um Nachschub zu holen. Ein Großteil unserer Konsumgüter kommt inzwischen aus Fernost, vor allem aus China. Rohstoffe bekommen wir aus Afrika und Südamerika und die Produktion der meisten Waren ist auch schon in Länder ausgelagert, in denen man billiger produzieren kann als in Europa.
Das ist äußerst bequem, denn wir verlagern die Umweltverschmutzung somit an das andere Ende der Welt und hoffen, dass sie auch dort bleibt. Zudem müssen uns die Arbeitsbedingungen am anderen Ende der Welt nicht kümmern und auch hier hoffen wir, dass die Menschen dort bleiben. Falls sie das nicht tun, kann man ja ein wenig nachhelfen. Wenn dann grausliche Bilder von zerstörten Landschaften und gequälten Menschen auftauchen, sagen wir einfach „Fake News“ dazu und müssen sie dann nicht ernst nehmen.

Und dann kam Covid19 und auf einmal mussten wir entdecken, dass unsere Behaglichkeit am Feuer gestört wird. Weil ein Mensch in China auf einem Markt ein Stück infiziertes Buschfleisch gekauft hat, dürfen wir unsere Oma nicht mehr besuchen. Der Bundeskanzler erklärt mit trauriger Miene, dass wir leider nicht zum Frisör dürfen und auch aus dem Strandurlaub in Dubai wird nichts, wenn wir nicht hinfliegen können.

Das Virus interessiert sich nicht für Nationalstaaten oder Grenzen. Es hat sich gezeigt, dass diese nicht so dicht gemacht werden können, dass sie durch das Virus unüberwindbar sind. Inselstaaten können das vielleicht eine Zeit lang, aber auch das misslingt meist. Das Virus zeigt, wie schwach unsere Identität ist, wenn wir sie auf Nationalität bauen. Die draußen, die im anderen Land sind so wie wir, deswegen können wir uns gegenseitig anstecken.
Im Frühling 2020 erwartete die Welt ein Schreckensszenario in Afrika, doch das trat nicht ein. Es stellte sich heraus, dass Covid-19 eine Krankheit alter Weißer ist, nicht junger Schwarzer. Das Virus weiß nichts von „White Supremacy“ und befällt alle. Es erwischt uns dort, wo wir auf die eigentliche, uralte Stärke des Homo Sapiens vergessen haben – die Kooperation.
Binnen kürzester Zeit brachen die Säulen der EU in sich zusammen: freier Personen- und Warenverkehr, das Defizitziel von max. 3% des BIP, aber auch die Solidarität in vielen Bereichen.
Das Virus zeigt uns, dass Abschottung nicht der richtige Weg ist.

VIERTE EBENE: DER VIRUS UND DIE GESELLSCHAFT

Schnell wird der Ruf nach mehr Freiheit laut. Wir wollen auf das Gewohnte, auf das als normal Empfundene auf gar keinen Fall verzichten und wenn, dann nur ganz kurz und möglichst wenig.
Da in unserem System das Geld der ausschlaggebende Faktor ist, gewinnen diejenigen, die das Geld haben. Ihre Bequemlichkeit wird fast nicht eingeschränkt, sie können zum Golfspielen nach Südafrika fliegen und sich Luxusgüter nach Hause liefern lassen. Sie können in ihrem großen Garten Freunde einladen und müssen sich auch nicht in enge U-Bahnen quetschen, weil in der Garage steht der Range Rover.
Selbst wenn wir nicht die Klischees strapazieren, bleibt übrig, dass das Geld regiert und die Politik dem Ruf des Geldes folgt. Auch die Entscheidungen punkto Pandemiebekämpfung werden leichter verständlich, wenn man sich ansieht, wem sie vor allem nützen.

WAS UNS DAS VIRUS ZEIGT

Es zeigt unsere menschliche Vergangenheit, aus der wir entstanden sind. Wir sind Produkte der Evolution der letzten zwei Millionen Jahre und haben Fähigkeiten entwickelt, aber auch deren Grenzen. Wir können Krisen gut bewältigen, wenn wir a.) zusammenhalten und b.) eine Perspektive haben, also ein Ende definieren oder erkennen können.

Wir sind soziale Wesen, die andere Wesen brauchen, um leben zu können. Das zeigt uns schon die Geburt, nach der wir auf fremde Hilfe angewiesen sind und ohne diese sehr schnell sterben. Unser Stress-System ist auf kurze, durchaus auch starke Stress-Spitzen eingestellt und kann diese gut bewältigen. Ein hohes Dauerbrummen an Stress macht uns kaputt und die Pandemie mit ihren ständig wechselnden Entscheidungen, den aufeinander folgenden und uns willkürlich erscheinenden Lockdowns bringen uns an Grenzen, die wir in der Größe und Art ihrer Folgen noch gar nicht einschätzen können.

Das Virus greift uns bei den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit an, aus der die Verletzlichkeit entstanden ist. Je schneller und effizienter unsere globale Wirtschaft arbeitet, desto verletzlicher wird sie, da die Puffer längst wegrationalisiert wurden. Es gibt keine Leerräume mehr, keine Rückzugsgebiete, weder für Tiere noch für Menschen, fast jeder irgendwie nutzbare Quadratmeter ist privatisiert und kommerzialisiert. Wir haben unser Leben und die Natur ausgepresst bis zum letzten Tropfen und jetzt kommt die Dürre in Form des Virus. Und wir haben die Menschen ausgepresst, die jetzt oft mehrere Jobs brauchen um sich das Leben leisten zu können.

Die größte Verletzlichkeit ist wohl derzeit die Abhängigkeit von der Produktion lebensrelevanter Produkte durch Menschen, Unternehmen und Nationen, deren Ziel nicht das Gemeinwohl ist. Wir können das sehr gut an den Pharmafirmen erkennen, die auch in der Pandemie das tun, was sie immer getan haben: ihren Profit maximieren, die Preise durch Verknappung in die Höhe treiben und maximal erzielbare Gewinne generieren und abschöpfen.
Besonders abhängig ist Europa von China, wo fast alles produziert wird, was wir hier brauchen, von landwirtschaftlichen Produkten über jede Art von Konsumgütern bis hin zu großen Teilen der medizinischen Versorgung.
Wir haben rationalisiert und alles ausgelagert, was irgendwie möglich war.
Ganz besonders effizient, aber auch ganz besonders verletzlich ist die „Just-in-Time-Produktion“. Sie bricht bei der kleinsten Störung zusammen.
Es war in Europa zwar möglich sehr schnell eine Produktion von Schutzmasken der einfachsten Art zu entwickeln, das gilt aber nicht für komplexere Produkte oder gar technisch hochwertige Dinge wie medizinische Instrumente oder Pharmazeutika.
Es zeigt sich, dass die Schwächen globalisiert wurden, nicht die Stärken. Wenn das schwächste Glied der Kette zusammenbricht, bricht das gesamte System zusammen.

Einer dieser Zusammenbrüche zeigt sich im Gesundheitssystem, wo der Ausdruck „kaputtgespart“ wohl mancherorts seine Berechtigung hat. In einem auf Effizienz und Profitmaximierung ausgerichteten System ist die oberste Maxime die der Kosteneinsparung. Das beginnt beim Personal, geht über die medizinischen Geräte und endet beim Klopapier.
In einer Diskussion wären sich wohl schnell alle einig, dass Gesundheit wichtig ist und ein gut funktionierendes Gesundheitssystem auch Kosten verursachen darf. Nicht mehr ganz so einig wären sich die DiskutantInnen bei der Frage, wie viel es kosten darf und wer dafür zu sorgen hat, dass es funktioniert. Die einen meinen, dies müsste staatlich organisiert sein, die anderen wollen es in privater Hand sehen.
Die Pandemie kam nicht überraschend, sie wurde weltweit durch ExpertInnen vorausgesagt, die natürlich nicht wissen konnten, wo genau sie entstehen wird und wann. Einige ostasiatische Länder hatten aus den Erfahrungen mit SARS und MERS gelernt und waren besser vorbereitet, andere mehr oder weniger gar nicht.
Aber auch hier ist das Thema komplex.

Das Virus zeigt unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod. Es zeigt unsere kulturellen Strukturen, unsere Grundwerte und wie wir damit umgehen. Sehr schnell tauchte ein Grundwiderspruch auf, nämlich der von jung und alt. Für die jungen Menschen ist es gut möglichst viel Freiheit zu haben, um sich gut entwickeln zu können. Jugendliche wollen sich treffen, über Kontakte mit Gleichaltrigen ihre soziale Kompetenz aufbauen, sie wollen möglichst viel differenzierte Interaktion, in der Schule, beim Mannschaftssport, in Lokalen, in Diskos, Clubs, Bars und privaten Feiern. Für sie ist jeder Lockdown schlecht.
All das verbreitet das Virus und trifft dann die Alten, die sich dagegen schlechter wehren können. Für sie ist jeder Lockdown gut.
Was ist nun wichtiger: das Leben der Jungen oder das Leben der Alten?
Mit anderen Worten: Wie viele Tote sind wir bereit zu akzeptieren?

Das Virus deckt aber noch etwas anderes auf: das Wegschauen, das Verleugnen, das Flüchten. Auch das gehört zu unserer Gesellschaft und zum Menschsein. Es zeigt unsere weniger schönen Seiten, den Egoismus, etwa bei den Hamsterkäufen oder wenn Menschen die Corona-Regeln brechen, zum Golfspielen nach Südafrika fliegen oder Parties feiern.

Das Virus zeigt die Grenzen unserer psychischen Widerstandskraft, und zwar die der Individuen und die der Gesellschaft. Nach einem Jahr Pandemie ist klar, dass Kinder und Jugendliche zum Teil stark betroffen sind, die Kliniken und Ambulanzen platzen aus allen Nähten: Angststörungen, Depressionen, Suizid, aber auch körperliche Schäden durch Bewegungsmangel und noch vieles mehr haben so massiv zugenommen, dass die Alarmglocken schrillen.
Durch Homeschooling und Homeoffice geraten Familiensysteme an ihre Belastbarkeitsgrenzen. Wenn beide Elternteile plus Kinder in einer kleinen Wohnung im Lockdown leben, arbeiten und lernen müssen, zeigen sich sehr schnell die Grenzen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Dazu kommen der fehlende Urlaub und die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten.

Das Virus hat uns einen Blick in die Zukunft werfen lassen. Seit Jahrzehnten perfektionieren und bewundern wir ein Wirtschaftssystem, das von uns die Idiotie („Vereinzelung“) verlangt. In einem System, das nur durch ewiges Produktions- und Konsumwachstum funktioniert, müssen immer mehr Menschen immer mehr Dinge kaufen. Sie müssen sie weder brauchen noch verwenden, es reicht, wenn sie möglichst viel davon kaufen. Die Spitze dieser Entwicklung ist derzeit die „Fast Fashion“. Der weltweite Bekleidungsdiskonter Zara produziert bis zu 300 neue Linien jedes Jahr und möchte, dass die KundInnen möglichst jede Linie kaufen. Jeden Tag eine neue Mode. Da die Menschen diese Bekleidung nicht mehr tragen können, wird sie weggeworfen, ohne je getragen worden zu sein. Die Dinge werden wegen des Kauferlebnisses gekauft (sieben Sekunden Adrenalinausschüttung) und das ist nach dem Kauf vorbei.
Der Feind dieses Systems sind die „Commons“, die gemeinsam genützten Dinge. Wer Dinge gemeinsam benützt, gar tauscht oder repariert, gilt als „Kommunist“ und wird belächelt oder beschimpft, in jedem Fall sozial stigmatisiert.
Das Virus zeigt uns, was mit uns geschieht, wenn wir vereinzelt werden, wenn wir uns selbst zu den Idioten (und Idiotinnen) machen, die wir laut dem System sein sollen, das uns erzählt: geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut. Ein System, das die Wirtschaft über das Leben stellt und das mit dem Argument erklärt, dass Arbeitsplätze verloren gehen können. Genau die Arbeitsplätze, die genau dieses System mit aller Kraft vernichtet, weil Personalkosten den Gewinn schmälern.

Das Virus zeigt uns, wie schnell wichtige Dinge knapp werden, obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben. Es zeigt uns die Schwäche eines Systems, das von vielen als unfehlbar beschrieben wird, das sich angeblich selbst reparieren kann.
Wir leben in einer Welt, die es in der Form erst seit dem Ende des zweiten Weltkriegs gibt. Und genau diese Welt hat jetzt das erste Mal einen Schock bekommen. Es gab das erste Mal eine Angebots- und eine Nachfragekrise zur gleichen Zeit. Das war auch in der bisher größten Krise (Finanzkrise 2009) nicht der Fall. Das erste Mal stehen weltweit Flughäfen leer, Autofabriken still und die Tourismusindustrie befindet sich am Rande des Abgrunds.

Das Virus zeigt, was aus uns wird, wenn wir uns isolieren. Vor ein paar Jahren saß ich in einem Kaffeehaus, als fünf junge Mädchen hereinkamen und sich an einen Tisch setzten. Sie redeten kein einziges Wort miteinander, sondern starrten über eine Stunde auf ihre Handy-Bildschirme, um dann wieder zu gehen.
Jetzt sollen wir das tun, was wir bisher freiwillig getan haben: möglichst über Bildschirme miteinander kommunizieren, möglichst viele Maschinen benützen und uns von ihnen möglichst abhängig machen. Wir sollen möglichst wenige Menschen treffen und möglichst viel online kaufen, um unsere Wohnungen nicht verlassen zu müssen.

Das Virus hat uns auch gezeigt, was wir brauchen und was nicht, welche Berufe für das Funktionieren unserer Gesellschaft wichtig sind und welche nicht. Es hat uns auch gezeigt, dass wir genau diese Menschen, die in diesen Berufen arbeiten, schlecht bezahlen, dass wir sie ganz unten in der Pyramide ansiedeln, an deren Spitze die Hedgefondsmanager stehen und die Anwälte und die EigentümerInnen großer Unternehmen.
Schlecht bezahlen tun wir die Pflegekräfte, die Müllmänner, die Putzfrauen, die Menschen, die unsere Kläranlagen reparieren und warten und noch viele andere.

Das Virus zeigt uns die Randbereiche unserer Gesellschaft. Es wirkt wie ein Röntgengerät, das uns in die Tiefe schauen und die Knochen erkennen lässt. Wir sehen auf einmal die Menschen in unserer Gesellschaft, die bisher unsichtbar waren, weil sie gerade mal mehr recht als schlecht existieren. Wir sehen die blitzschnell zusammenkrachenden Existenzen, die wir bisher nicht gesehen haben, weil sie knapp unter der Wahrnehmungsschwelle waren. Wir sehen Menschen, die bisher irgendwie über die Runden gekommen sind, weil sie am Rand der Gesellschaft von dem lebten, was jetzt nicht mehr runterfällt.
Es zeigt uns die Grenzen eines an die Grenze getriebenen Effizienz-Profitsystems, mit Fluglinien, die niemals wirtschaftlich gearbeitet haben und nur durch staatliche Subventionen bisher existieren konnten.
Es zeigt uns die Grenzen zwischen dem, was wir brauchen und dem, was wir uns wünschen. Es zeigt die Perversion in vielen Lebensbereichen. Wir züchten 1,7 Milliarden Rinder auf der Welt – Milchkühe nicht eingerechnet. Die Bio-Masse dieser Rinder ist größer als die aller Menschen.

Es zeigt uns die Maschine, in der wir uns befinden. Damit sind nicht nur die vielen Maschinen gemeint, die uns umgeben und unser Leben beeinflussen, ob das jetzt das Handy ist oder das Auto oder der Computer oder die Beatmungsmaschine, sondern ein System, von dem viele bisher dachten, dass es als Ganzes sowieso nicht mehr steuerbar ist und quasi wie von alleine funktioniert.
Und jetzt verlangt diese Maschine nach massiven Eingriffen, nach Steuerung, nach vernetzten Entscheidungen für Millionen von Menschen.

Damit zeigt uns das Virus die Machtlosigkeit der Mächtigen. PolitikerInnen sind sich nicht sicher, wie und auf welcher Grundlage sie Entscheidungen treffen sollen. Sie richten sich bisher nach der Macht der Mächtigen und finden diese in den Wirtschaftssystemen und ihren Lobbys. Die allerdings kämpfen nur für ihre eigenen Interessen.

Und dann zeigt uns das Virus noch das, was Michel Foucault „Bio-Politik“ genannt hat: Ein Gesundheitsproblem dient als Vorwand um das Kollektiv zu kontrollieren. Krisen verlangen nach Kontrolle und sowohl demokratische wie auch autoritäre Systeme folgen diesem Ruf. Mich erinnert das an 9/11, wo der Terroranschlag in den USA von der dortigen Regierung zum Anlass genommen wurde, ein repressives Kontroll- und Überwachungssystem massiv auszubauen, das übrigens nicht mehr abgebaut wurde, so wie in allen anderen Staaten dieser Erde, die dem Beispiel der USA gefolgt sind, angeführt von China mit seiner inzwischen fast lückenlosen Überwachung.
Jetzt zeigt uns das Virus die Strukturen unserer politischen Systeme, es wirkt wie ein Turbo, wie ein Verstärker des schon Vorhandenen.
Zugleich mit dem Ruf nach mehr Freiheit erschallt der Ruf nach mehr Kontrolle – die Freiheit für mich, die Kontrolle für die anderen. Das Virus zeigt die Grenze des Individualismus, der darin gipfelt, dass ich gerne in meiner kleinen Gasse ein Fahrverbot für alle außer für mich selbst möchte – vielleicht noch für meine besten Freunde oder Besucher. Dafür hätte ich aber gerne ungehinderte Fahrt im Rest der Stadt, und zwar in der Geschwindigkeit meiner Wahl, denn sonst ist ja meine Freiheit eingeschränkt.
Das Ziel, quasi der Idealzustand ist eine auf mich zentrierte Welt, in der ich alle Rechte und Freiheiten habe, aber keine Verantwortung. Dieser Zustand wird in der Bibel als „Paradies“ beschrieben, eine Welt, in der ich wohl behütet lustwandeln kann und mich um nichts kümmern muss.
Dummerweise bin ich in so einer Welt alles andere als frei, denn ich darf nicht die Früchte des Baumes der Erkenntnis essen. Hier ist die Grenze meiner Freiheit. Wenn ich es doch tue, werde ich aus dem Paradies vertrieben und muss die Verantwortung für mein Leben übernehmen, also mein Brot im Schweiße meines Angesichts verdienen.
Das Virus zeigt uns, dass uns das System bisher das Paradies vorgegaukelt hat und die Politikerinnen und Politiker uns die Verantwortung abgenommen haben, allerdings zum Preis der Freiheit und Selbstbestimmung.
Jetzt agieren wir wie Kinder, die selbst- oder zumindest mitbestimmen wollen, aber noch nicht wissen, wie das geht. Aus Millionen BürgerInnen werden Millionen Möchtegern-Virus- und Impfexpertinnen und -experten.
Politische Parteien und demokratische Wahlen scheinen als Mittel nicht mehr zureichend zu sein, aber was gibt es sonst?

DAS VIRUS ALS CHANCE

So seltsam es klingt, Covid-19 könnte so etwas wie eine globale Impfung sein, also eine kleine Portion von etwas Tödlichem, auf das wir uns einstellen, so dass wir eine globale Immunantwort finden können.
Die Menschheit kann möglicherweise Resilienz aufbauen, wenn sie die Botschaft versteht.
Warum kam diese Pandemie genau jetzt?
Vielleicht liefert die Summe aller globalen Veränderungen die Antwort. Diese Mischung aus Naturzerstörung, Wachstumsideologie, Globalisierung, Tourismusindustrie, Überflussgesellschaft, Ausbeutung und noch vieles mehr ist möglicherweise an einem Punkt angelangt, an dem bestimmte Auslöser so häufig auftreten, dass irgendwann ein Einzelereignis den Stein ins Rollen bringt.

„Ihr entwickelt zwar einen Impfstoff gegen mich, aber warum nicht gegen die Maschine? Einst habt ihr ihre Auswüchse mit einem Impfstoff bekämpft, den ihr Demokratie nanntet. Doch jetzt mutiert die Maschine, und zwar so schnell, dass eure Demokratie sie nicht mehr stoppen kann“ sagt das Virus im Film.

Schreckt die Dystopie auf?

„Wer glaubt, 2020 sei nur ein Krisenjahr und danach wird alles besser, oder wieder wie vor der Krise, der irrt. Ich glaube, in zehn Jahren wünschen wir uns 2020 zurück.“ Das sagt die Klimaschutzaktivistin Carola Rackete, die als streitbare Kapitänin in der Flüchtlingskrise bekannt wurde.
Stimmt das? Werden wir wesentlich ernstere Krisen als Covid-19 bewältigen müssen? Und wenn ja, müssen wir uns dann nicht jetzt bereits darauf vorbereiten? Und wie sollen diese Vorbereitungen aussehen?

Falls dieses dystopische Szenario zur Wirklichkeit wird, werden wir ohne Zusammenhalt, Kooperation und funktionierende Lebenserhaltungssysteme nicht weit kommen.
Eine dieser Krisen kennen wir bereits und sie könnte sich als die schlimmste herausstellen: die Klimakrise.
Ähnlich wie die Corona-Pandemie gab es seit Anbeginn der Menschheit auch noch nie einen so tiefgreifenden Klimawandel.
Der Unterschied besteht in der Geschwindigkeit und im Auslöser. Im Gegensatz zu anderen ähnlich gravierenden Klimawandelzeiten findet der jetzige zehnmal oder hundertmal so schnell statt. Und im Gegensatz zu allen schnellen Klimawandeln, die allesamt entweder durch Vulkanausbrüche oder durch einschlagende Himmelskörper ausgelöst wurden, ist dieser hausgemacht.

Maßnahmen sind schwierig, denn es handelt sich um komplexe Probleme. Es reicht nicht, an einer Schraube zu drehen, denn das löst nicht eine Veränderung aus, sondern möglicherweise zehn und davon sind neun unvorhersehbar.
Ein Beispiel: Die Zoonosen entstehen nicht nur bei der Übertragung von Viren von Wildtieren auf Menschen, sondern auch in der industriellen Tierhaltung, also bei der Lachszucht und der Fleischzucht. Entscheidend ist die Art und Weise, wie die Tiere gehalten werden. Wenn auf der einen Seite Menschen glauben, dass sie täglich Fleisch brauchen, haben wir auf der anderen Seite eine Entwicklung hin zu einer Tierhaltung, die wiederum Krankheiten produziert, denn jeden Tag Fleisch geht nur, wenn es billig ist. Billiges Fleisch lässt sich nur durch Ausbeutung der Umwelt erzeugen.
Wenn jetzt neue Virenstämme auftauchen, dann führen die Menschen dies nicht auf ihren stark gestiegenen Fleischkonsumwunsch zurück. Das ist Komplexität.

Werden wir lernen?

Was werden wir aus der Pandemie lernen? Werden wir danach weniger sinnlose Business-Flüge machen? Werden wir mehr in der näheren Umgebung Urlaub machen oder zum Ausgleich noch mehr möglichst billig rund um die Welt fliegen?
Werden wir die notwendigen Dinge für eine Krise wieder lokal produzieren oder wird künftig noch mehr in China und Afrika gemacht, weil es ausschließlich um den Preis geht?
Werden wir die Botschaft des Virus verstehen und – noch viel wichtiger – werden wir daraus Konsequenzen ziehen?
Werden wir in Zukunft in Diktaturen leben, die nach außen hin einen Rest von demokratischem Anschein bewahren oder werden wir neue Formen der Politik erfinden und anwenden?
Werden wir wie konterdependente Kinder nur gegen die Autorität demonstrieren oder selbst Verantwortung übernehmen, auch wenn diese nicht unbedingt angenehm ist? Wir können unsere eigene Konterdependenz daran erkennen, dass wir zwar sofort schreien, wenn der Staat Daten von uns verlangt, aber in der nächsten Sekunde all unsere Daten einem anonymen und völlig unkontrollierbaren Internetkonzern zur Verfügung stellen. Wie Kinder haben wir noch nicht gelernt hier vernünftig zu handeln.
Früher kannte man die Burg und den Burgherrn und wusste, wohin man mit den Mistgabeln gehen musste, um etwas zu ändern. Heute sind die Herrschaftssysteme unbekannt oder unsichtbar, global verteilt, virtuell und da wir nicht wissen, wie wir uns gegen sie auflehnen sollen, lehnen wir uns gegen die auf, die wir greifen können. Falls das die falschen sind, werden wir scheitern.
Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist die Rückkehr in das, was vor Corona war, also in ein System, das hundert Mal gefährlicher für die Menschheit ist als das Covid-19-Virus.
Es hat uns gezeigt, wie sich ein kleines Ereignis massiv auf ganze Menschheit auswirken kann. Vielleicht hilft es uns auch zu erkennen, dass uns die Klimakrise alle betrifft, auch wenn sie noch nicht die spürbaren Auswirkungen auf unser Leben hat.
Wir brauchen eine neue Zukunft und wenn wir uns berechtigterweise nach Normalität sehnen, dann sollte diese ein Teil der neuen Welt sein, in der mehr Menschen ein besseres und möglichst alle ein gutes Leben haben.

Was wir tun müssen

Das wichtigste wird sein, lokale Gemeinschaften zu finden oder aufzubauen, innerhalb derer wir bereit sind gemeinsam auf einen Teil unserer Bequemlichkeit und unseres Wohlstands zu verzichten. Im Idealfall auf das, was uns sowieso nicht mehr glücklich macht. Die wenigsten Menschen halten es aus auf etwas zu verzichten, wenn alle anderen rundherum das nicht tun. Die Vernetzung dieser Gemeinschaften wird die Aufgabe der größeren politischen Strukturen sein.

Noch können wir etwas tun, um zu verhindern, dass wir unsere Erde zerstören. Wir besitzen keine zweite, auf die wir wechseln können. Die Zahlen sind längst bekannt, das Wissen ist vorhanden, die Ist-Situation ist klar sichtbar. Was jetzt fehlt, ist gemeinsames, schnelles Handeln. Wir wissen, was das Richtige ist, jetzt müssen wir es auch tun.

Möglicherweise hilft uns Covid19 dabei. Und wenn nicht, dann wird das nächste Virus kommen und uns oder unsere Kinder möglicherweise noch deutlich härter treffen als Covid19.
Wir haben die Wahl und ich habe mich schon entschieden.

Und das sind die Schlussworte des Virus in dem Film:

„Die Maschine wird mich überleben. Schade. Ich hätte so gerne gesehen, wie ihr sie bändigt, sie zum Schweigen bringt. Ihr schafft das, da bin ich mir sicher. Denn ihr Menschen habt Waffen, die weder ich noch die Maschine kennen: Liebe, Humor, Kreativität.“

(Die Zahlen und Fakten dieses Artikels stammen aus dem Film „Corona – Sand im Weltgetriebe“)