Das Phänomen Macron und was das mit den Grünen zu tun hat

Politische Themen sind immer heikel, denn ich bin nicht für alles ein Experte. Diesmal schildere ich einfach meine Gedanken zu den letzten französischen Wahlen, also zur Präsidentschaftswahl und der danach abgeschlossenen Wahl der Nationalversammlung. Und was das mit der derzeitigen Lage der österr. Grünen zu tun hat. Aber der Reihe nach:

Macron hat einen Erdrutschsieg eingefahren und somit die absolute Mehrheit plus das starke Präsidentenamt. Die Konservativen sind extrem geschrumpft und die Sozialisten nur mehr eine Kleinpartei, obwohl sie mit Hollande noch den letzten Präsidenten hatten. Auch die Front National mit Le Pen ist winzig geworden.
Die Wahlbeteiligung liegt bei nur mehr ca. 43% und auch wenn ein sehr schönes Wetter war, ist das doch erstaunlich.

Die wirklich spannende Frage für mich lautet: Was bedeutet das für uns? Ich versuche eine Antwort.
Nicht nur in Frankreich ist zu beobachten, dass die großen, oder besser: ehemals großen Parteien massiv schrumpfen und teilweise in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Das betrifft links wie rechts und dürfte eher mit der Etabliertheit zu tun haben als mit Größe oder ideologischer Ausrichtung.
Ich glaube, dass den Menschen genau das auf die Nerven geht, was ihnen (bzw. ihren Eltern) früher getaugt hat, nämlich die Machtansammlung, die dazu geführt hat, dass die Parteien Angebote machen konnten. Über die Partei bekam man eine gewisse Form von Sicherheit wie z.B. einen Job bei der Gemeinde oder beim Bund, eine Gemeindewohnung, aber auch einfach die Sicherheit einer gewissen Stabilität und Planbarkeit.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Karten großteils neu gemischt, vor allem die Wirtschaft wurde zum Wunder und es gab einfach viel zu verteilen. Die Parteien beherrschten diese Verteilung gut und taten sich im Proporz nicht weh. Die Zukunft war sichtbar, ein wenig kleinbürgerlich, aber gut.

Heute ist das anders. Nichts, aber auch gar nichts an der Zukunft ist sicher. Wir stehen de facto vor großen weltpolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen und viele Menschen haben den Verdacht, dass sie dadurch betroffen sein werden oder es jetzt schon sind. Kaputte Pensionssysteme, unsichere Jobaussichten, Klimawandel, Scheidungsrate und noch viel mehr.
Die Altparteien (wozu tw. auch die Grünen inzwischen gehören) haben keinerlei Antwort oder nur eine konservative, also den Versuch, alles irgendwie zu bewahren und die Menschen glauben zu lassen, dass das funktioniert.
Viele sind aber nicht dumm genug um das zu glauben.
Vor allem aber versuchen die Parteien ihre Machtstrukturen zu erhalten und sind bereit alles dafür über Bord zu werfen, dessen sie sich früher gerühmt hatten. Die Konservativen entledigen sich konservativer Werte schneller als man schauen kann und die Sozialisten pfeifen in der gleichen Sekunde auf Menschenrechte und alles, was dazu gehört.
Auch die Grünen in Österreich müssen sich hier Kritik gefallen lassen. Sie vertreten zwar ihre alten Werte, kommen damit aber intern immer schlechter zurecht, etwa mit der Basisdemokratie oder dem Widerspruch zwischen Opposition und Regierung. Dass sie noch dazu wenig bis nichts zu verteilen haben, ist auch nicht gerade ein Vorteil und so bleibt ihnen zwar eine solide WählerInnenbasis, die ist aber nicht sehr groß.

Die Bürgerinnen und Bürger suchen sich etwas Neues. Davon konnten in Österreich die NEOS profitieren, die bei der letzten Nationalratswahl neu waren. Neu wird gewählt, weil es neu ist und weil man die Hoffnung hat, das Neue könnte anders sein und im Idealfall besser.
Sie suchen aber auch nach neuen Formen der Politik und wählen „Bewegungen“, auch wenn hinter diesen etablierte Politiker wie Macron oder bei uns Kurz oder Pilz stecken. Macrons Denken ist nicht neu, sein Wirtschaftsprogramm neoliberal und er strebt wahrscheinlich genauso nach Macht wie die etablierten Parteien. Aber er verspricht anders zu sein und der Wunsch nach dem Anderen ist offensichtlich so groß, dass es funktioniert hat.
Macron hat die klassischen Wahlzuckerln verteilt und die Franzosen haben sie gelutscht, weil sie unter dem Deckmantel des Neuen verteilt wurden. Darin kann man durchaus einen Protest gegen die etablierten Strukturen sehen, von denen immer mehr Menschen nicht mehr profitieren können.

Und dann ist da noch der Wunsch nach dem starken Mann. Es ist übrigens tatsächlich immer ein Mann, nach dem gerufen wird, niemals nach einer starken Frau. Da auch die meisten Frauen nach einem Mann rufen, haben die Grünen noch ein weiteres Problem.
Dieser Ruf ertönt immer, wenn etablierte Strukturen keine Sicherheit mehr bieten oder – und das ist meiner Ansicht nach doppelt gefährlich – die aufgrund des Wohlstands errungenen Dinge als gefährdet dargestellt werden. Dann wird der alte starke Mann durch einen neuen ersetzt oder die Demokratie durch ein autoritäres System. Trump ist ein gutes Beispiel, Erdogan ein zweites, Orban ein drittes, Macron ein viertes und Mama Merkel kann als Ausnahme durchgehen, die die Regel bestätigt.
Wahrscheinlich werden in den nächsten Jahren andere Länder nachziehen und überall werden die neuen, starken Männer von niedrigen Wahlbeteiligungen profitieren.
Das ist ein interessantes Phänomen, das sich wahrscheinlich nur durch die Summe einiger Ursachen erklären lässt:

1.) Panem et circenses. Die Menschen haben Brot (Pizza, Pommes, Burger, Kebab – die ganze Palette an Convenience-Food), dazu ein Auto, einen Flachbildfernseher und ein Smartphone. Bequeme Menschen gehen nicht wählen, sondern schauen die Barbara-Karlich-Show. Und wenn sie wählen gehen, dann entscheiden sie sich meist für den Kandidaten, der ihnen am glaubwürdigsten verspricht, dass ihre Privilegien erstens wohlverdient, zweitens gerecht und drittens unantastbar sind.

2.) Die Parteien haben über viele Jahrzehnte erfolgreich versucht die Menschen von der Politik fernzuhalten. Sich damit zu beschäftigen war ihrer Meinung nach nicht notwendig, weil man ja ohnehin gute Politik für die Bürger macht und politische Bildung somit verschwendete Zeit ist. Daher gibt es auch in der Schule keinen Politikunterricht und das Studium der Politikwissenschaft bringt eine Handvoll antiautoritär denkende Protestierer hervor, die man leicht in den Griff bekommt.
Die meisten Menschen haben somit keine politische Bildung und können A von B nicht unterscheiden, weil sie es nicht gelernt haben. Sie glauben somit, dass sie durch Nicht-Wählen eine Proteststimme abgeben. Da aber nur Parteien gewählt werden und nicht der „Protest“, funktioniert das nicht, sondern es tritt das Gegenteil von dem ein, was sie erreichen wollen: Die Parteien (oder auch die Bewegungen, das ist egal) werden gestärkt. Da diese Menschen aber wenig bis keine politische Bildung haben, fällt ihnen das nicht auf und die Parteien werden ihnen das sicher nicht erklären.
Viele Menschen haben es satt, wie sie regiert werden, ihnen fällt aber keine andere Lösung ein als nicht wählen zu gehen.

3.) Ein für mich bisher neues Phänomen ist die „starke Reziprozität“ (vom Ökonom Ernst Fehr, Standard-Interview vom 2.9.2017). Michel Reimon hat das gut zusammengefasst: „Wenn ein politisches System von einem Menschen nicht als fair empfunden wird, dann ist diese Person bereit, dafür zu bezahlen, dass dieses System bestraft wird. Sie ist also bereit, sich selbst zu schädigen und weniger als zu Beginn zu haben, wenn sie nur die Unfairness des Systems sanktionieren kann. Und die rationale Argumentation, dass es ihr besser geht, das System zu akzeptieren, geht ins Leere.“ (Aus einem Facebook-Beitrag ebenfalls 2.9.2017)
Nicht wählen gehen wird ebenfalls als Bestrafungsinstrument eingestuft, genauso wie eine Protestpartei zu wählen oder einfach nur eine, die neu ist und somit eine sichtbare Alternative zum Bestehenden.
Auch hier haben die Grünen das Problem, dass sie zu den etablierten Parteien gezählt werden und das in vielen Bereichen wohl völlig zu Recht. Ein Phänomen dieser Etabliertheit ist in den Interviews der SpitzenpolitikerInnen zu erkennen, nämlich darin, dass sie auf Fragen jeglicher Art nicht mehr antworten. Sie bringen vorbereitete Sätze und Satzgruppen, die sich meist gar nicht auf die Frage beziehen. Sie bekommen von ihren BeraterInnen eingetrichtert, ja nichts anderes zu sagen als diese Sätze, denn alles andere könnte gegen sie verwendet werden. Nicht ohne Grund erinnert das an eine Gerichtsverhandlung, obwohl es genau das nicht sein sollte.
Ein weiteres Merkmal für die Etabliertheit ist die Beteiligung an Regierungen. Vorher war man solidarisch mit Bürgerinitiativen, jetzt bekämpft man sie. Das mag inhaltlich sinnvoll und sachpolitisch notwendig sein, für das Image ist es katastrophal. Spätestens seit die Grünen irgendwo in einer Regierung sitzen, sind sie für manche Menschen nicht mehr die Protestierer aus der Hainburger Au.
Auch hier finden wir die starke Reziprozität – ich bekomme von altgedienten GrünwählerInnen immer öfter an den Kopf geworfen, dass wir leider nicht mehr die sind, die damals in der Au noch ehrlich gegen alles waren. Das stimmt durchaus. Erstaunlich ist die Reaktion, nämlich jetzt nicht mehr die Grünen wählen zu können. Das bedeutet ja, dass diese Menschen entweder nicht zur Wahl gehen und damit eine der besonders etablierten Parteien stärken – bei der kommenden Nationalratswahl wird das möglicherweise der erklärte ideologische Gegner sein, also ÖVP oder FPÖ, oder sie wählen doch. Das bedeutet aber, dass sie eine Partei wählen, die bisher für sie unwählbar war. Jetzt wird diese gewählt und, sofern man/frau vorher wirklich grün war, wählt man jetzt gegen die eigenen Interessen – das ist genau das, was Michel Reimon mit „sich selbst schädigen“ meint.
Die Alternative ist „Neue“ zu wählen. Ob das funktioniert, wird sich erst nach der Wahl zeigen.
Das „starke“ an dieser Reziprozität (man könnte auch das psychologische Modell der Reaktanz verwenden) ist die Übertreibung, die hier zu beobachten ist. Eine „jetzt ehemalige“ Grünwählerin hat das so erklärt: Weil ihr ein Bauprojekt in der Nachbarschaft nicht gefällt, wählt sie bei der Nationalratswahl nicht mehr grün. Die beiden Dinge haben auch bei genauester Betrachtung nichts miteinander zu tun, denn die Bundespartei hat keinerlei Einfluss auf Wiener Bauprojekte, aber das ist ihr vollkommen egal. Sie konstruiert sich eine eigene Wirklichkeit, in der sie sich die Wahlentscheidung legitimiert. Von etwas wegzukommen, dem man lange Zeit verbunden war, verlangt einen besonders großen ersten Schritt, quasi wie eine Rakete, die zu Beginn besonders viel Energie braucht, um die Erdanziehungskraft zu verlassen.
Daher sammelt die ehemalige Grünwählerin jede Menge Anlässe, die ihr in Summe kräftig genug sind. Sie ist dabei nicht wählerisch – alles, was irgendwie passt, wird in den Topf geworfen, siehe obiges Beispiel. Auf meine Frage, was das eine mit dem anderen zu tun hat, ist sie einfach nicht eingegangen.

Ich finde es nur schade, dass sie sich die Konsequenzen nicht vorher überlegt. Nach der letzten Wiener Wahl hat mich ein älterer Herr angerufen um mir zu sagen, dass er diesmal rot statt grün gewählt hat, um den Strache zu verhindern. Als ich ihn gefragt habe, was er denn auf Bezirksebene gewählt hat, wo dieses Problem ja gar nicht zur Debatte stand, wurde es ruhig am Telefon. Er hatte im Bezirk auch rot gewählt. „Das war wahrscheinlich ein Fehler“ meinte er dann kleinlaut.
Ich habe das Gefühl, dass sich viele Menschen nicht mehr die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wie das System funktioniert und welche Konsequenzen ihre oft spontan und aus einer Emotion getroffenen Entscheidungen haben. Das macht sie auch extrem leicht beeinflussbar. Es gewinnt dann derjenige, der am lautesten schreit, optisch am auffälligsten oder ganz einfach nur neu ist oder zumindest neu erscheint.
Die Gesellschaft wird sich dadurch wahrscheinlich massiv verändern.

Das werden wir wahrscheinlich auch am 15. Oktober beobachten können.

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