ZERRISSENE JEANS
Beobachtungen sind fein, aber wertlos, wenn daraus keine Schlüsse gezogen werden können. Sie zeigen auch immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit und haben dräuend im Hintergrund die Frage nach der Wahrheit hängen.
Fred Sinowatz hätte wohl gesagt „es ist alles so kompliziert“ und selbst bei dieser Aussage ist nicht sicher, ob er sie seinerzeit als österr. Bundeskanzler genauso gesagt hat.
Als Udo Jürgens vor vielen Jahren gesungen hat, dass er noch nie mit „zerrissnen Jeans“ durch San Franzisko gegangen ist, meinte er das Gegenteil von dem, was wir heute sehen. Die kaputten Hosen standen als Zeichen für Menschen, die a.) wenig Geld hatten, dafür b.) Freiheitsliebe und daraus resultierend c.) möglichst viel der Welt bereisten.
Dazu war San Franzisko zu dieser Zeit eine Stadt der Hippies, also der Blumenkinder, die gegen das Establishment in den USA kämpften und daher lange Haare als Protest gegen die Ordnung in Form eines akkuraten, braven Kurzhaar-Unterordnungsschnitts trugen.
Ich selbst habe das noch erlebt in meiner Zeit als Grundwehrdiener beim österr. Bundesheer. Damals hatte ich noch eine Menge Haare am Kopf und vorne eine lange Strähne.
Das war nicht erlaubt, Soldaten mussten als Zeichen der Unterordnung unter eine hierarchische Ordnung die Haare kurz tragen, da gab es genaue Vorschriften. Disziplin war gefragt und wild herumflatternde Haare waren undiszipliniert.
Also wurde ich vom Hauptmann zu einem Haarschnitt verurteilt und als Strafe zu einem Wochenenddienst.
Das war immer eine bittere Strafe, weil es an jedem Wochenende Parties jeder Art gab und ich da nicht dabei sein konnte. Auch an dem Freitag, an dem ich die Strafe bekam und am Abend noch raus durfte, fand so eine Party statt. Weil ich keine Chance mehr auf einen Friseurbesuch hatte, beschlossen meine Freunde spontan mir die Haare auf der Party zu schneiden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich in eine Badewanne setzte und leicht alkoholisierte Freunde an meinen Haaren herumschnippelten.
Dann waren sie kurz, sahen aber schrecklich aus.
Das wiederum brachte mir bei der nächsten Haarkontrolle einen weiteren Wochenenddienst wegen „Selbstverstümmelung“ ein. Das war auch verboten.
Mein Respekt vor dem Bundesheer rasselte ins Bodenlose und hat sich bis heute nur teilweise erholt. Lange Haare haben sich aber wenige Jahre später aufgrund erblich bedingter Glatzenneigung ohnehin erledigt.
Kommen wir zu den Jeans zurück. Sie haben, seitdem sie Modehosen sind, stets eine symbolische Aufladung: Ursprünglich Arbeiterhosen aus dem robusten „Denim“-Baumwollstoff, mit Nieten als Schutz vor dem Zerreißen, eroberten sie die Welt im Sturm und wurden bald überall getragen. Wobei das nicht ganz stimmt, in erster Linie gab es sie in der westlichen, von den USA massiv beeinflussten Konsumwelt. Sie veränderten sich, als sie zu Modeobjekten wurden. Die Schnitte folgten der Mode, es gab sie als Schlaghosen, als hautenge Röhrljeans, als Jogging-Jeans und in der DDR als schrecklich geschnittene Ostblockjeans.
Und es gab noch eine weitere Entwicklung, die uns dem ursprünglichen Thema näher bringen. In den 1980er-Jahren gab es immer häufiger Jeans, die in der Fabrik auf „gebraucht“ getrimmt wurden, das nannte man „stonewashed“, weil man sie mit Steinen zerrieb, um sie so aussehen zu lassen, als wären sie über viele Jahre von Arbeitern bei ihrer Arbeit getragen worden.
Auch die normalen Jeans sahen nach einigen Jahren so aus, dafür musste man sie aber sehr oft tragen und tatsächlich Strapazen aussetzen.
Solchen Menschen wehte der Nimbus wagemutiger Abenteurer voraus, braungebrannte Cowboys, die jeden Abend am Lagerfeuer sitzen und ein wildes, freies Leben führen. Sie starben zwar aufgrund der filterlosen Zigaretten, die sie den ganzen Tag rauchten, ziemlich elendiglich an Lungenkrebs, dafür war das Leben halt wild und frei.
Wer so eine Jeans hatte, musste auch ein wilder, freier Abenteurer sein, begehrt von den schönsten Frauen.
Die Marketingindustrie erkannte das Potenzial und befeuerte den Trend so gut es ging. Die Jeans wurden immer mehr stonewashed, was auch dazu führte, dass sie immer dünner wurden. Das war ausgesprochen praktisch für die Jeansindustrie, denn die wollte ja möglichst vielen Menschen möglichst oft neue Jeans verkaufen. Wenn diese von Beginn an fast schon kaputt waren, mussten die Konsument:innen auch viel öfter neue Hosen kaufen.
Irgendwann waren die Jeans so stonewashed, dass sie schon als Neuware zu zerreißen begannen. Das führte aber nicht zu einem Gegentrend, sondern die Werbeindustrie trat die Flucht nach vorne an und machte zerrissene Jeans zum Trend. Jetzt wurden sie schon in der Fabrik künstlich zerrissen, um den alten Mythos an die Spitze zu treiben: Seht her, ich habe so viel gearbeitet und so wilde Dinge erlebt, dass meine Hosen schon total zerrissen sind.
Warum ich mir keine guten, neuen Hosen kaufe? Diese Frage darf nicht gestellt werden und wird von den braven Käuferinnen und Käufern auch nicht gestellt. Sie sind nämlich das Gegenteil von Hippies oder irgendwelchen anderen Typen, die gegen das Establishment sind, ganz im Gegenteil: Sie folgen jedem Trend, und sei er noch so absurd. Sie hecheln der künstlich erzeugten Mode hinterher, hängen an den Lippen der Marketingindustrie und verkörpern den Boden des Konformismus, indem sie jede Art von Reflexion aufgegeben haben.
Hätten sie das nicht, würde ihnen auffallen, was sie eigentlich tun. Die zerrissenen Jeans kosten nämlich deutlich mehr als welche, die nicht kaputt sind. Sie zahlen also extra dafür, dass sie etwas Kaputtes bekommen – für mich eins der besten Zeichen einer kaputten Gesellschaft.
Der wichtigste Aspekt ist aber die unglaubliche Arroganz, die Menschen vor sich hertragen, die sich zerrissene Jeans kaufen. Diese werden nämlich möglichst billig von Arbeiterinnen in prekären Verhältnissen erzeugt, damit die Gewinnspanne für Industrie und Handel möglichst groß ist.
Je teurer die Jeans, desto mehr Geld bleibt in den Kassen, allerdings nicht in denen der Arbeiterinnen, die sie erzeugen. Die bekommen irgendwo in Indien, Bangladesh oder der Türkei einen Hungerlohn, der meistens sogar unter dem Existenzminimum liegt. Sie arbeiten unter extremen Umweltbedingungen und sind gefährlichen Chemikalien schutzlos ausgesetzt, die man bei der Erzeugung solcher Jeans braucht.
Sie schneiden Löcher in neue Hosen und tragen selbst Hosen mit Löchern, weil sie sich keine anderen leisten können.
Sie wissen, dass diese absichtlich zerstörten Hosen von Menschen gekauft werden, die dafür mehr Geld zahlen als für Hosen, die nicht kaputt sind.
Ist das nicht ein bisschen krank? Mit der Arroganz meine ich den Luxus, sich keine Reflexion zu leisten. Die Konsument:innen leben in einer schönen, neuen Welt (durchaus im Sinne von Aldous Huxley) und sind sehr ungehalten, wenn man diese stört. So ungehalten wie damals das US-amerikanische Establishment über die Hippies war.
Das Außerhalb ihrer Blase interessiert sie nicht, darüber denken sie nicht nach und die Konsumindustrie tut ihr Möglichstes, sie am Nachdenken zu hindern.
Ich habe in meiner Jugend auch Stonewashed-Jeans getragen, allerdings nur so lange, bis der Stoff dünner zu werden begann. Dann kam mir das seltsam und irgendwie falsch vor und ich hörte damit auf.
Ich war damals noch kein Grüner, aber der Gedanke an diese sinnlose Umweltzerstörung war scheinbar schon irgendwo in mir.
Zerrissene Jeans sind nämlich die Quadratur der Umweltverschmutzung und sinnlosen Ressourcenverschwendung plus sozialer Ausbeutung. Man braucht Ressourcen, um sie zu zerstören und noch viel mehr Ressourcen, um noch mehr zerstörte Jeans zu produzieren, die ja nicht lange halten, weil sie nicht lange halten sollen. Befeuert wird dieser Kreislauf zusätzlich noch durch die immer schneller wechselnden Modetrends. Die Konsument:innen kaufen die Hosen inzwischen oft nicht mehr, um sie wirklich zu tragen, sondern um sie zu kaufen – der Trend der Fast-Fashion bzw. der Ultra-Fast-Fashion.
Wie geht es weiter?
Wir haben hier einen typischen Fall, bei dem Verbote nichts nützen. Selbst wenn es EU-weit verboten würde, kämen die Hersteller auf immer neue Ideen, wie sie das Verbot umgehen könnten, denn es gibt damit sehr viel Geld zu verdienen.
Auch von den Konsument:innen dürfen wir hier nicht viel erwarten. Es gibt derzeit keine Hinweise auf eine Trendwende weg von der Wegwerfgesellschaft, ganz im Gegenteil. Es wird mehr konsumiert als je zuvor und die Konsumgegenstände werden zunehmend umweltschädlicher, was sich sehr gut an den unfassbaren Plastikmüllbergen ablesen lässt, die jedes Jahr deutlich anwachsen. Die wenigen Gegentrends fallen statistisch nicht ins Gewicht.
Die Natur wird uns früher oder später einen Riegel vorschieben. Je länger wir damit warten, umso höher wird ihr Preis sein.