Warum Wegwerfen sexy ist

1.) Die meisten Menschen fahren mit dem Auto zum Lebensmittelgeschäft und müssen schwere Sachen nicht mehr nach Hause tragen.
2.) Die meisten Menschen kaufen Mineralwasser in Plastikflaschen, weil diese leichter zu tragen sind.

Der Spruch ist altbekannt: Wir leben in einer bequemen Wegwerfgesellschaft.

Und, hat das Emotionen ausgelöst? Etwa: Buh, das kann nicht sein, das gehört sofort geändert… Nein, hat es nicht, weil es zu einer wertfreien Beschreibung geworden ist, weil es alle tun, weil ein guter Teil des Reichtums der Reichen und auch derer, die die Macht haben, darauf beruht. Wir alle profitieren davon, zumindest eine Zeit lang. Es dient unserer Bequemlichkeit, und diese wiederum ist Zeichen unseres Wohlstands.
Schon vor Jahrtausenden wurden diejenigen Menschen bewundert, die sich Bequemlichkeit (nicht hart arbeiten müssen, sich von hübschen Frauen an heißen Tagen Luft zufächern lassen etc.) leisten konnten. Das war ein Zeichen für Macht, Einfluss und Reichtum.

Wer will nicht gern mächtig, einflussreich und wohlhabend sein? Daher gilt die Gleichung: Bequemlichkeit = Wohlstand. Die einen sind bequem, weil es so einfach ist, die anderen, weil es für sie gesellschaftlichen Aufstieg oder zumindest Erhalt der Stellung bedeutet. Der Ostbahn-Kurti hat in seinem Lied „Arbeit“ folgende Strophe gesungen:

„Vorbei an die grauen Häuser, voller z´samg´stauchte Leut, z´erscht mit´n Radl, dann mit´n Moped, aufs Auto spart er bis heut…“

Das ist gesellschaftlicher Aufstieg, mit dem Moped ist es bequemer als mit dem Fahrrad und mit dem Auto bequemer als mit dem Moped. Ich leite daraus eine vorsichtige Arbeitshypothese ab: Der Mensch strebt nach maximaler Bequemlichkeit, sofern sich kein höheres Ziel bietet, für das er bereit ist, einen Teil der Bequemlichkeit aufzugeben. Wenn ich heute auf den Kilimandjaro steige, dann muss ich einiges an Bequemlichkeit aufgeben. Ich werde mich etwa 6 Tage lang nicht duschen können und in keinem ordentlichen Bett schlafen. Auch hier gibt es Abstufungen: Wer bereit ist, die so genannte „Coca Cola Route“ zu gehen, gemeinsam mit knapp 18.000 anderen Touristen jährlich, der erhält dafür die Bequemlichkeit von Hütten mit Betten. Wer eine schönere Route wählt, muss in Zelten schlafen.
Das höhere Ziel ist das Erleben der schöneren Route.

Aber was ist das höhere Ziel für denjenigen, der es endlich geschafft hat, sich ein eigenes Auto zu leisten, auch wenn es sich nur mit Ach und Krach ausgegangen ist? Was könnte den bewegen, es nicht oder weniger zu benutzen? Eines ist ganz klar: Umweltschutz ist kein solch höheres Ziel, denn das bedeutet, dass er sein Auto nicht benützt, der Nachbar aber schon, denn dem ist Umweltschutz vollkommen egal. Er würde seine direkt erlebbare Bequemlichkeit gegen ein Zukunftsziel tauschen, das er möglicherweise in der eigenen Erlebenswelt gar nicht mehr erreicht, etwa weil die Auswirkungen erst seine Enkelkinder zu spüren bekommen.
Er würde diesen Schritt also nur tun, wenn es ein direkt erlebbares Ziel gibt, etwa eine neue Freundin, die aus der grünen Ecke kommt und mit der er nur Sex haben kann, wenn er auf die tägliche Autofahrt ins Büro verzichtet. Da dieser Fall wahrscheinlich eher selten eintritt, verändert er unsere Diskussion nicht merklich.

Wenn das auch für andere Lebensbereiche gilt, dann gibt es nur eine logische Konsequenz: Die Bequemlichkeit wird erst aufgegeben, wenn sie entweder nicht mehr erhältlich ist (es gibt plötzlich kein Erdöl mehr und Elektroautos liegen noch in den Schubladen der Autokonzerne) oder so teuer, dass das zu erbringende Geldopfer zu große andere Opfer fordert. Wir könnten es bei den Fetisch-Produkten (das sind diejenigen, die pervers hohe Notwendigkeit zu besitzen scheinen: Auto, Handy, Fernseher) erleben, dass es zu seltsamen Entwicklungen kommt: Hungernde Menschen sitzen im Auto und fahren mit eingefallenen Wangen am Supermarkt vorbei, in dem sie sich nichts kaufen können, weil das Geld im Tank gelandet ist.

Derzeit verursacht der Drang nach Bequemlichkeit noch weitere perverse Auswüchse: Statt Lebensmitteln wird Biosprit erzeugt. Weil wir das besser nicht sehen wollen, verlagern wir diese Erzeugung an Orte, wo es uns nicht auffällt, etwa nach Südamerika oder nach Afrika. Die dort ansässigen Menschen können sich dagegen nicht wehren und so können die europäischen und amerikanischen Firmen dort machen, was sie wollen. Vertriebene bzw. getötete Menschen oder grässliche Umweltschäden sind belanglos angesichts der Notwendigkeit, unsere Bequemlichkeit zu erhalten.

Wenn ich mit meinen Freunden rede, dann verteidigen diese ihre Bequemlichkeit mit 1.000 Argumenten, die mir vor allem dann nicht einleuchten, wenn ich einen Schritt zurück mache und versuche, das Ganze zu betrachten.
Lebensmittelhandel: „Die Konsumenten wollen das so.“
Konsumenten: „Der Lebensmittelhandel bietet mir nichts anderes an.“
Ich bin es leid, mir von allen Seiten das Gegackere um die Frage nach Henne oder Ei anzuhören.

Ich fürchte, wir werden unsere Bequemlichkeit mit samt der Wegwerfgesellschaft erst aufgeben, wenn wir gezwungen sind, sie selbst wegzuwerfen. Wird es die Natur sein, die uns eine fette Breitseite verpasst, oder schaffen wir das selbst? Das ist nur eine der noch nicht beantwortbaren Fragen.

Ohne Bienen noch fünf Jahre

In einem sehr interessanten Vortrag („Das Kartenhaus Weltfinanzsystem) in der Akademie der Wissenschaften skizzierte Dr. Dirk Solte (Ulm) gestern verschiedene Zukunftsszenarien.

Interessant die Erkenntnis, dass die Natur problemlos ohne uns Menschen auskommt, vielleicht in einem anderen Zustand als jetzt, aber ihr ist es völlig egal, ob wir sie zerstören, denn wir zerstören sie immer nur für UNS.

Er schlägt daher einen gesunden Egoismus vor: den würden wir brauchen, um die Welt und somit uns selbst davor zu bewahren, außer Balance zu geraten. Nachhaltiges Umweltmanagement und Wertschöpfungswachstum (notwendig für knapp 10 Milliarden Menschen in wenigen Jahrzehnten) lassen sich durchaus vereinbaren.

Ein Beispiel dafür, was passiert, wenn wir das mehr oder weniger labile Umweltgleichgewicht stören, sind die Bienen: Würden wir sie auf einen Schlag ausrotten, hätte die Menschheit noch geschätzte fünf (!) Jahre weiterzuleben. Dann würden alle Nahrungsmittel in einer Kettenreaktion verschwunden sein („Versuchen Sie einmal als Mensch die Blütenbestäubung zu übernehmen – Viel Spaß!“).

Sein Fazit: Die stärkste Kraft des Menschen ist sein Wille („Die Menschen wollten fliegen – und haben es geschafft.“). Wir sollten den gemeinsamen Willen aufbringen die notwendigen finanzpolitischen Schritte zu machen, damit es nicht zu einem Kollaps kommt.

Ich darf hier ein altes Zitat von Immanuel Kant bringen: „Der vereinigte Wille aller ist jederzeit gut.“

Beim Kudlicka – Teil 2

Mit dieser Geschichte begeben wir uns in die Vergangenheit (ins Jahr 1990), sie ist mir aber noch so in Erinnerung, als wäre es erst letztes Jahr gewesen. Kurz die Vorgeschichte: Im Sommer ein Jahr zuvor hatte ich mir einen zweiten Motor für eine alte Vespa gekauft, leider mit steckender Kurbelwelle und einem nur halb abgezogenen Zylinder, in den der Kolben hineingerostet war. Trotz diverser Tricks (für Kenner: 2 Seegerringe plus Spreizmetallstückchen etc.) bekam ich das Polrad nicht runter und den Zylinder sowieso nicht. In meiner beginnenden Verzweiflung fuhr ich zu meinem Automechaniker, auf dass er mit seinen besseren Werkzeugen vielleicht Erfolg hätte. Er hatte nicht, wollte aber auch keine Gewalt anwenden (“wer weiß, wie das da drin im Motor aussieht und was ich dann kaputt mache”), also zog ich unverrichteter Dinge wieder von dannen.

Am Heimweg über neue Lösungen sinnierend bemerkte ich plötzlich, dass ich am direkten Weg zum Kudlicka war – Schicksal wahrscheinlich. Auch ein Parkplatz in der engen Österleingasse war mir vergönnt und ich ging direkt in die kleine Werkstatt, wo ein (kroatischer) Mitarbeiter vom Kudlicka gerade an einer Rally zangelte.
Auf meine Bitte um einen guten Tipp für das Polradabziehen meinte er: „Wo ist Motor? Herbringen!“ – gesagt getan, schon hatte er den nächsten Ratschlag: „Rüber zum Kudlicka“ – d. h. auf die andere Straßenseite ins Geschäft.
Das war gerade ohne Kundschaft und der Kudlicka meinte „legen Sie Motor rauf“. Dann öffnete er eine der berühmten Schubladen hinter dem Tresen und holte eine Schachtel mit Seegerringen raus – leider ohne die gewünschte Größe zu finden. Mit kurzem Brummen verschwand er und kam mit den richtigen Ringen wieder. Einsetzen, einen kleinen Teil aus einer Beilagscheibe ausschneiden, als Verspannung in den Seegerring hineinhämmern, Stecknuss, Polrad springt raus. Also, normalerweise tut es das, diesmal tat es das nicht. „Jebem ti oca!“ der mit stoischer Miene vorgebrachte Kommentar.
„Wir brauchen Pressluftschrauber, rüber in die Werkstatt!“
Dort angekommen bewaffnete sich der Kudlicka (er ist inzwischen deutlich über 80 Jahre alt, hat sich aber optisch seit dem ich ihn kenne – 25 Jahre – nicht verändert) mit der großen Pressluftpistole und stürzte sich auf die Polradmutter. Geknattere, Druckluftgepfauche, kaputte Polradmutter und ein weiteres „Jebem ti oca“.

Dann ging es richtig los. Der Kudlicka hat nur den einen stoischen Gesichtsausdruck, aber ein Funkeln in den Augen verhieß nichts Gutes für das feststeckende Polrad.
Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter (ich war ab dem Zeitpunkt nur mehr zuschauender Statist) wurden auf Kroatisch Pläne geschmiedet, wie vorzugehen wäre.
Ergebnis: Der Zylinder muss runter! Der alte Mann holte aus einer Ecke die Mutter aller Flacheisen und begann den Zylinder zu bearbeiten – ohne jeden Erfolg.

Jetzt packte ihn der Ehrgeiz – der 50 Jahre alte Motor müsste doch zu packen sein! Eine Lötlampe war mit einer gigantischen Stichflamme schnell angeheizt und der Kudlicka begann den Motor abzufackeln. Armageddon schien nahe, Stichflammen in allen Farben, wahrscheinlich durch die Umengen MoS2-Spray, die bereits überall im Motor verteilt waren. Gestank, das Fauchen der Lötlampe und auch der Gehilfe neben mir nur mehr Statist.
Dann packte der Kudlicka eine massive Eisenstange und einen riesigen Hammer und begann den Kolben aus dem Zylinder zu schlagen (egal, der war sowieso kaputt und hätte nach dem Zylinderschleifen durch einen Übermaßkolben getauscht werden müssen).
Es kam Bewegung in die Sache, leider war das Ergebnis: Schlacht gewonnen, Patient tot – der Zylinder hatte das auch nicht überstanden („ah, das ist nichts, das kann man reparieren und ich hab guten Zylinder samt Kopf im Keller, fertig geschliffen“).

Der Kudlicka war jetzt so richtig in Fahrt gekommen und der Satz „machen wir jetzt den ganzen Motor auf“ war keine Frage mehr, sondern eine Feststellung – nein, eine Drohung gegenüber dem Motor, dem widerspenstig zu zähmenden.
Mit schwerem Gerät ging es zur Sache: Schrauben, abfackeln, hämmern, wieder abfackeln – irgendwann gab der Motor auf und seine metallenen Eingeweide preis. Und plötzlich löste sich wie von Geisterhand das Polrad. Nach insgesamt 1,5 Stunden und zahlreichen „Jebem ti ocas“ war die Schlacht letztlich doch gewonnen, der kleine, leicht gebeugte Feldherr Kudlicka in seinem obligaten blauen Arbeitsmantel hatte gesiegt.
Ich meinte, dass ich noch die Teile ins Auto rüberbringen würde und dann ins Geschäft zahlen käme (es waren 1,5 Stunden x zwei Personen geworden). Darauf meinte der Kudlicka: „Sie brauchen nicht kommen, das war eine GELEGENHEIT!“

Ich werde nie erfahren, ob er meinte, dass es eine Gelegenheit für MICH oder für IHN war. Ich hätte mit meiner Erfahrung und meinen Werkzeugen den Motor nie und nimmer aufbekommen.
Als Hintergrund muss man wissen, dass es beim Kudlicka auf seine Tages- oder auch gerade vorherrschende Minutenverfassung und -stimmung ankommt. Ich hatte Glück und sinnierte auf der Heimfahrt darüber, wie die Vespa-Welt aussehen wird, wenn es den Kudlicka irgendwann einmal nicht mehr gibt.
Vom alten Kudlicka kann ich wahre Leidenschaft lernen, gepaart mit der philosophischen Haltung des wahren Stoikers. Außerdem weiß er, wie man Vespas zangelt.

Möge er uns noch lange erhalten bleiben, das Wiener Original aus Kroatien, der Herr der Vespas, diese unvergleichliche Mischung aus Grantscherm und gütigem Opa, der in seinem zeitlosen Imperium im 15. Hieb jungen und nicht mehr ganz jungen Rollerfahrern ihr Hobby oft überhaupt erst ermöglicht hat.

Kerl, was machst Du auf meinem Basilikum?

Mangels Garten gibt es bei mir am Fensterbrett eine stattliche Sammlung an Basilikumstauden. Sie gedeihen prächtig, werden regelmäßig gegossen und sind mein ganzer Minigärtnerstolz.

Heute morgen beim Gießen hab ich es entdeckt, komische kleine schwarze Kügelchen. Also genauer hinschauen, und plötzlich: – Löcher! Zuerst nur eines, dann mehrere, schließlich ein bis aufs Gerippe abgenagtes Blatt. Auf den Blättern darunter eben schwarze Kügelchen.

Trotz großem Schreck machte ich mich sofort auf die Suche nach dem gierigen Übeltäter, leider erfolglos, trotz genauer Inspektion war nichts zu entdecken.

Also schütteln. Und siehe da, nach einiger Zeit konnte sich die dicke, fette, grüne Raupe nicht mehr halten und stürzte unter markerschütterndem Schrei in die Tiefe, sprich: Auf meinen Parkettboden.
Dort versuchte sie sich unsichtbar zu machen, was ihr auf dem grünen Basilikum gut gelang, am braunen Parkettboden nicht mehr ganz so gut.

Erwischt, Kerl! An deiner Scheiße gefunden (die schwarzen Kügelchen).

Letzlich konnte ich mich der Raupe gegenüber großzügig zeigen und spendierte einen Freiflug in Nachbars Garten (auf die Paradeiserstauden).

Irgendwann wird sie mir als Schmetterling am Nerv gehen.

Beim Kudlicka

Es ist wie ein Ausflug an einen zeitlosen Ort (Captain Kirk vom Raumschiff Enterprise würde sagen, der Kudlicka befindet sich „außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums), in eine schon lang nicht mehr existierende Welt.
Der Kudlicka ist eines der letzten verbliebenen Vespa-Geschäfte Wiens. Der Filipo macht keine alten Vespas mehr und hat auch keine Ersatzteile mehr, der Jahelka verkauft moderne Plastikroller und beim Faber gibt es großteils nur mehr junge Mechaniker, die nichts mehr von alten Vespas verstehen – einen aus der „alten Garde“ haben sie noch und bieten auch die Restauration alter Vespas an – hier muss sich jeder selbst ein Bild machen.

Der Kudlicka ist der letzte seiner Art. Wenn man in die Österleingasse im 15. Bezirk fährt, betritt man eine andere Welt. Ich war nach knapp 25 Jahren wieder dort, um Ersatzteile für meine alte Vespa zu kaufen, und der Herr Kudlicka sieht immer noch genauso aus wie vor einem Vierteljahrhundert, an ihm als Person scheint die Zeit vorübergegangen zu sein. Auch seine Stimmungsschwankungen gibt es noch und das ist auch sein gutes Recht. Das Geschäft hat sich auch nicht verändert, wenngleich das Haus gegenüber mit seinem Innenhof, auf dem unzählige Generationen von Vespa-Fahrern Gasseile gewechselt und Kupplungen eingestellt haben, letztes Jahr abgerissen wurde.
Aber das Geschäft gibt ets noch und nach wie vor stehen alte Vespas dort herum. In der Auslage liegen – leicht verstaubt – Gepäckträger, Rennauspuffanlagen und Zylindersets – wie schon seit Jahrzehnten, wie schon seit immer.
Der Kudlicka ist inzwischen über 80 und steht jeden Tag hinter der Buddel, auch am Samstag. Der Herr daneben ist nicht, wie viele inklusive meiner Wenigkeit glauben, sein Partner, der Radakovits, sondern der „Sergio“, und auch er ist seit über 25 Jahren der Gleiche, mit seinem Akzent und seiner speziellen Art, die Augenbraue hochzuziehen.

Wer etwas vom Kudlicka will, der muss sich umgewöhnen. Der Kudlicka hat fast alles, aber nicht immer hat er Lust, es dir zu verkaufen. Der Kaufvorgang hat etwas Magisches – Du betrittst das Geschäft und trägst dein Anliegen vor. Danach „entsteht“ der jeweilige Gegenstand irgendwo unter der Buddel. Der Kudlicka sieht dich meist wortlos an und greift mit einer Hand (ohne von dir wegzublicken) hinunter, zieht es hervor und legt es auf die Theke. Dann sagt er irgendeinen Preis. Du zahlst und gehst, aber Du verlässt das Geschäft mit einem völlig irrwitzigen Gefühl von Unsicherheit, gepaart mit Dankbarkeit. Wo kam das her, wieso hat er genau das unter seiner Buddel? Es ist nämlich egal, ob Du einen kleinen Schraubnippel für ein Gasseil brauchst oder eine ganze Vespa. Er hat alles unter der Buddel.
Wenn er etwas dort nicht hat, dann wird er leicht mürrisch. Er geht halt nicht mehr so gerne herum. Dann dreht er sich um und greift nach hinten. Spätestens dort hat er es. Mir ist es sogar passiert, dass er über die Straße in ein anderes Lager gegangen ist, um mir einen Spiegel zu holen. Ein einschneidendes Erlebnis, ohne Frage, wenn einem diese Ehre zuteil wird. Da fragt man nicht mehr nach dem Preis, da zahlt man gerne und ohne zu zögern.

Das mit den Preisen ist auch eine interessante Sache. Er weiß sie einfach, immer und von allem. Es sieht aber so aus, als würde er sie sich in dem Moment gerade ausdenken, und es sieht vor allem so aus, als ob er sie aufgrund deines Gesichts, deiner Person festlegt. Er mustert dich kurz und dann sagt er eine Zahl. Und du zahlst. So einfach ist das beim Kudlicka.
Manchmal kann man auch ein wenig handeln oder bekommt eine Kleinigkeit, die man noch braucht, gratis dazu, eine Dichtung oder so etwas.
Es ist völlig unklar, woher der Kudlicka seine Ersatzteile bekommt und auch, nach welchen Kriterien er sie verkauft. Ich vermute, es ist seine momentane Stimmung und ob er dich gerade heute sympathisch findet oder nicht.
Neulich bekam ich einen Kolben für eine Vespa GS 150, Übermaß 57,2 mm (mein alter Kolben war angerieben, zerbrochen, kaputt). Er hatte ihn direkt hinter sich liegen, und das ist kein gängiges Modell. Der Kolben war auch kein indischer Nachbau von GOL, sondern ein markenloser Kolben, aber sehr gut gearbeitet. Er hat ihn aus einem Zylinder gezogen, der dort ebenfalls herumlag. Einfach so.
Der Preis war bis auf wenige Cent der gleiche wie der, den ich im Internet bei einem deutschen GS-Spezialisten bezahle. Einfach so, der Kudlicka hat ihn sozusagen aus der Hüfte geschossen.
Als er mir letztes Jahr eine Vergaserdüse verkaufte, bei der die Düsenbohrung schlicht und einfach nicht vorhanden war (ich hatte es erst zuhause entdeckt und bin wieder hingefahren), ging er auf die Straße, blickte kurz durch, nahm die Düse und schleuderte sie in hohem Bogen in die Baugrube auf der anderen Straßenseite.
Dann bekam ich eine neue, mit Bohrung. Ich glaube, er mag mich.

Nicht alles ist rosarot beim Kudlicka. Er hat immer wieder Ersatzteile, die nicht optimal passen und man kann sich nicht sicher sein, wie gut eine Reparatur sein wird. Auch das hängt vom Glück und von der Stimmung ab, in der er sich befindet. Das Problem: er ist der letzte seiner Art, man kann nirgends sonst mehr hinfahren, nur er (und seine Mechaniker) kennen sich noch aus, nur er hat die Teile, die man sonst nirgends mehr bekommt und schon gar nicht in Wien. Das Internet ist kein vollwertiger Ersatz und wenn man zum Generalimporteur fährt und etwa einen Zylinderkopf für eine Vespa GS haben will… nun, das soll jeder selbst ausprobieren, vielleicht hat man ja Glück, vor allem für die PX-Modelle gibt es noch Neuteile.

Wenn der Kudlicka einmal aufhört, bricht die Vespa-Szene in Wien zusammen. Eine neue Ära wird beginnen, man wird sich nicht mehr am Samstag Vormittag in der Österleingasse über den Weg laufen, außer der Sergio übernimmt das Geschäft. Er ist inzwischen auf einer ähnlichen „Welle“ wie der alte Kudlicka und er kennt sich auch gut aus.
Hoffen wir das Beste, hoffen wir auf ein langes Leben des Herrn Kudlicka, hoffen wir darauf, dass diese Enklave in Zeit und Raum noch lange besteht. Wir haben es uns verdient, beim Kudlicka einkaufen zu dürfen. Es wäre an der Zeit, eine Am-Schauplatz-Folge zu drehen: Beim Kudlicka, dem Vater der Vespas und der Vespa-Fahrer.