D´Leut wolln d´Woahrheit hoid ned wissen…

…und so wer I hochkant ausseg´schmissn.

Das sang Georg Danzer in seinem Lied „Der Danzer“, wie so oft seiner Zeit voraus. Aber vielleicht war es auch schon immer so. Menschen wollen belogen werden, wenn es ihren Interessen dient.
Das derzeit aktuellste Beispiel findet sich bei künstlich von einem Computerprogramm generierten Bildern, die von den Menschen als echt eingestuft werden, auch wenn klar erkennbar ist, dass dem nicht so ist.
Die künstlich generierten Bilder werden von Programmen erzeugt, die als Rechenzeilen keine Schnittstelle zur Realität haben und daher nur Daten verarbeiten können, die ihnen eingespielt werden.
Die von solchen Programmen erzeugten Bilder haben daher nicht das, was wir als „Wissen“ bezeichnen. Sie haben z.B. keine Ahnung, dass Menschen fünf Finger haben und somit sehen viele dieser Bilder aus, als hätten die dort generierten Menschen verkrüppelte Hände, mit viel zu langen Fingern oder seltsam verbogenen. Manche Finger haben viel zu dicke Knöchel und manche Hände nur vier oder auch sechs Finger.

Trotzdem glauben viele Menschen, erschreckend viele, dass diese Bilder echte Fotos sind. Und wenn man sie auf die verkrüppelten Finger oder andere seltsame Teile dieser Bilder hinweist, werden sie aggressiv und wollen das nicht hören bzw. lesen.
In letzter Zeit tritt dieses Phänomen gehäuft auf sozialen Medienplattformen auf wie etwa Facebook. Dort gibt es unzählige Gruppen, die eine Vergangenheit verherrlichen, die es in der Form nie gab.
Das ist insofern verständlich, als die 1950er bis 1980er tatsächlich eine Zeit waren, in der es viel Fortschritt und Wohlstandswachstum gab, aber noch keine bekannten Umweltprobleme, wenig Kriege, die unser Leben irgendwie beeinflusst haben und durch das ständige Wirtschaftswachstum auch eine gewisse Stabilität.
Es war eine Zeit, auf die viele Menschen gerne zurückblicken und im Extremfall verherrlichen. Dann war dort alles gut, im Vergleich zu heute. Diese nach hinten gewandte Weltsicht macht natürlich den Blick nach vorne schwer bis unmöglich. Das ist vor allem dann schlecht, wenn dieser Blick dringend notwendig wäre, etwa weil schnelle Maßnahmen notwendig sind. Aus der Blickrichtung nach hinten sind solche Maßnahmen nicht zu sehen und werden somit auch nicht als wichtig empfunden, meistens sogar als störend, weil sie die derzeitige Bequemlichkeit angreifen würden.

Auch hier ist eine steigende Aggressivität zu beobachten. In den sozialen Medien toben sich diese Menschen dann aus und zeigen so etwas wie ihr wahres Gesicht, indem sie entsprechende Aussagen machen. Sie sind dort anonym, zeigen weder ihr Gesicht noch ihren Namen und fühlen sich unangreifbar.
Dann werden die guten, alten Zeiten beschworen, etwa so: „Yes the young ones these days will never know or enjoy the good times we had back then. Women were women and men were men.“
Ein anderer schreibt: „NATURAL BEAUTIES – NO purple hair, tattoos, piercings in nose, fat flabby, or black lip stick.“

Das ist interessant, weil er nennt künstlich erzeugte Frauenbilder „natural beauties“ – obwohl sie das exakte Gegenteil von natürlich sind. Noch deutlicher wird es bei diesem Kommentar: „Real women not the fake one’s we have today.“
Dieser Mann empfindet künstlich erzeugte Frauenbilder für realer als echte Frauen. Die bisher einzige Erklärung für dieses seltsame Phänomen habe ich bisher bei Klaus Theweleit in seinem Buch „Männerphantasien“ gefunden.
Als ich den Typen auf das gefakte Bild aufmerksam gemacht habe, dass nämlich die Gesichter der Frauen alle gleich aussehen, antwortete er „Drillinge“.
Die Wahrheit ist oft unbequem, deswegen wird man auch hochkant hinausgeschmissen, wenn man die Bequemlichkeit der Menschen stört. Das haben viele Umweltaktivistinnen und -aktivisten schmerzlich zu spüren bekommen, als sie den Autoverkehr behinderten, indem sie sich auf die Fahrbahn klebten.

Theweleit zeigt, wie Männer sich ganz bestimmte Frauenbilder erschaffen und dann versuchen, die Realität nach diesen Bildern zu gestalten. Alle Frauen, die nicht so sind wie die Wunschbilder, werden bekämpft. Derzeit erleben wir möglicherweise den Beginn einer Renaissance dieser künstlichen Frauenbilder, etwa im US-amerikanischen Trend der „Trad-Wifes“. Das sind Frauen, die versuchen einem traditionellen Frauenbild jenseits des Feminismus zu entsprechen: Sie machen sich für den Mann hübsch, damit er etwas Nettes zu sehen bekommt, wenn er vom harten Arbeitstag nach Hause kommt. Sie putzen, kochen und kümmern sich um die Kinder. Einen eigenen Beruf haben sie nicht und brauchen sie auch nicht, denn der Mann verdient genug, um das Leben der gesamten Familie finanzieren zu können. Sie sind in gewisser Weise Teil des Haushalts und tun das, was der Mann von ihnen verlangt – wie die Mikrowelle oder der Staubsauger. Sie hassen Feminismus und Emanzipation und empfinden dies als unnatürlich. Frauen, die diesem Bild nicht entsprechen, können und dürfen nicht real sein – deswegen bezeichnet sie der Facebook-Held oben auch als „fake ones“. Die Trad-Wifes sehen auch aus wie Frauen aus der Zeit, die sie bevorzugen. Sie sind weiß, blond, schlank und haben auf keinen Fall Tattoos oder Piercings.
Wer erinnert sich noch an die Austro-Pop-Gruppe STS? In ihrem Lied „Fürstenfeld“ besingen sie den Steirer vom Land, der in die Großstadt nach Wien kommt und dort auf einmal ganz andere Frauen sieht als er es gewohnt ist: „Schwarze Lippen – grüne Hoar, da kannst ja Angst kriagn, wirklich woar.“
Das dürfte auch das Angstbild des Posters sein, wenn er von lila Haaren und schwarzen Lippen spricht und beides als unnatürlich empfindet. Roter Lippenstift dürfte okay sein, blondierte Haare auch – das entspricht dem klassischen Schönheitsbild, das auch genormt sein muss. Jede Abweichung macht Angst, daher wird „Diversity“ auch abgelehnt und bekämpft.

Die Gefahr entsteht in den Echoräumen, die diese Menschen im Internet finden und wo sie sich wohlfühlen. Dort sind sie in ihrer Blase und verstärken sich gegenseitig. Je geschlossener diese Blasen sind, desto verdichteter, desto radikaler, extremer die dortigen Meinungen. Ab einem gewissen Zeitpunkt bzw. einer gewissen Intensität stecken die Menschen in der Blase so fest, dass sich ihre Identität dorthin verlagert. Ihre bisher vielfältig gestaltete Identität wird einseitig bzw. das, was man als „einfältig“ erkennt. Wir können hier eine Parallele zur Sektenbildung erkennen. Sekten leben auch davon, dass sie die Menschen von der Realität trennen (und natürlich auch von den sozialen Beziehungen dieser Realität) und dadurch in eine Abhängigkeit von einer ganz bestimmten Realität zwingen.

Das ist gruppendynamisch kein neues Phänomen, es tritt normalerweise aber nicht in dieser Stärke, in dieser Intensität auf. Es gibt meistens noch einen Realitätsbezug, etwa wenn die Menschen aus ihrer Blase hinaus ins echte Leben müssen – um einzukaufen oder ihrer Arbeit nachzugehen.
Wer jedoch arbeitslos ist und sich alles nach Hause liefern lässt, muss aus seiner Blase gar nicht mehr hinaus. Irgendwann beginnt dann die Realität Angst zu machen, weil sich die Menschen dort nicht mehr zurechtfinden. Sie flüchten sich so komplett wie möglich in die Scheinwelt ihrer Social-Media-Blase. Die echte Welt wird als gefährlich, bedrohlich empfunden und die Menschen bekommen Angst davor. Damit sie mit dieser Angst zurechtkommen können, müssen sie die echte Welt als unecht einstufen. Die Frauen dort sind dann nicht echt, sie sind „fake“.

Das ist ein relativ neues Phänomen, das es früher nicht gab. Der Unterschied liegt in der Gemeinschaft, die diese Menschen heute finden können. „Es gab immer schon in jedem Dorf einen Trottel, aber heute hat er Internet“ heißt der passende Spruch. Heute können sich die Dorftrottel zusammentun und sich eine gemeinsame Wirklichkeit schaffen, in der sie zumindest virtuell wirken können.
Wenn diese Menschen dann aus ihrer Blase ausbrechen (freiwillig oder nicht), dann stößt ihre Wirklichkeit auf die Realität. Das führt im besten Fall zu einer Rückführung dieser Menschen in die Realität, im schlechtesten Fall zum Amoklauf. Dann wird alles bekämpft, was nicht dem virtuellen Idealbild entspricht, im Extremfall die gesamte Welt, als deren Opfer sich diese Menschen – in der Logik fast immer Männer – empfinden. Wenn sie in der echten Welt kommunizieren, dann mit den Worten ihrer Blase. Wenn das klarerweise als schräg oder verrückt abgelehnt wird, empfinden die Menschen, dass man „nichts mehr sagen darf“.

Wohin führt das? Werden in Zukunft noch mehr Menschen in diesen Blasen leben? Und was passiert, wenn diese Blasen platzen? Wenn die Menschen raus müssen aus ihren Bunkern in die reale Welt, könnte das zu Problemen führen. Mir fällt eine gute Doku über Gated Communities ein, sozusagen die Blasen der realen Welt. Dort leben Menschen hinter hohen Mauern, gut durch Stacheldraht und mehr von der Außenwelt abgeschirmt. Sie wohnen in sauberen Einfamilienhäusern mit Garage und kleinem Vorgarten mit gestutzten Bäumchen und Plastikrasen. Ihre Kinder gehen in Schulen, die sich innerhalb dieser Areale befinden. Die größte dieser Gated Communities befindet sich in Sao Paulo in Brasilien. Dort zeigen sich seit ein paar Jahren die negativen Auswirkungen: Jugendliche, die aus diesem Areal kommen, finden in der echten Welt keine Jobs, weil sie unter einem Glassturz aufgewachsen sind und sich in der realen Welt nicht zurechtfinden. Wenn sie sich um einen Job bewerben, dann nützen ihnen die makellosen Zeugnisse ihrer Eliteschule nichts, weil sie damit in der Realität überhaupt nichts anfangen können. Sie sind am Arbeitsmarkt unbrauchbar.

Welcher Gegentrend wird uns wieder zurückführen in die Realität? Noch habe ich auch keine gute Antwort auf diese Frage.

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