Die Demokratie der Leichtgläubigkeit

Gedanken zu einer ARTE-Philosophiesendung („Kritisches Denken in Zeiten von Fake News“, von und mit Raphael Enthoven, als Gast Gerald Bronner, Soziologe in Paris).

Eine scheinbare Demokratisierung des Wissens durch das Internet hält leider nicht, was sie verspricht. Man kann sich zwar uneingeschränkt jede Art von Information schnell besorgen, wird aber dabei nicht mehr von einem Diskurs geleitet oder gebremst, den es vor dem WWW durchaus gab, etwa im akademischen Kontext.
Wer auf der Uni durch Bücher, Fachzeitschriften und Artikel mit wissenschaftlichen Arbeiten Informationen zu einem bestimmten Thema sammelte, stieß dabei auch auf Gegenmeinungen, Konkurrenztheorien usw. Durch die langsamere Rezeption blieb Zeit zum Überlegen, Nach-Denken und natürlich zur Diskussion mit anderen, die man z.B. in einem Institut oder sonst wo traf.
Abende waren nicht zwangsläufig von Voll-Entertainment geprägt und es gab keine tragbaren Bildschirme, auf die man den ganzen Tag glotzen konnte. Nicht einmal das Fernsehen strahlte rund um die Uhr Programm aus.
Wir müssen uns diese Zeit nicht zurückwünschen, aber wir können durchaus einen Blick darauf werfen, um aus den Unterschieden eine kritische Haltung aufzubauen.

Deswegen gab es genauso spinnerte Ansichten, Verschwörungstheorien und extreme Positionen, aber sie verbreiteten sich nicht so schnell wie heute. Man könnte etwas polemisch sagen: Es gab auch damals die Dorftrottel, nur hatten sie kein Internet.

Das Problem reicht aber tiefer. Durch die blitzschnelle Informationssammlung entsteht ein Überfluss, der bewältigt werden muss, um zu einer fundierten und abgesicherten Meinung bzw. Haltung zu kommen, die in Folge Sicherheit für die Bewältigung der großen oder auch kleineren Lebensfragen bietet. Diese Bewältigung scheitert aber oft an mehreren Hürden:

1.) Denken ohne Denken gelernt zu haben funktioniert nicht. Das ist ja genau der Grund, warum in einem Studium auch die Verarbeitung und Strukturierung von Wissen und Information gelehrt und gelernt wird. Könnten das Menschen von selbst, wären diese Kurse, Vorlesungen und Seminare komplett überflüssig.

2.) In Folge kann der Überfluss nicht geistig aufgegessen werden, ähnlich wie wir es tw. auch bei unseren Ernährungsgewohnheiten sehen. Auch dort wird viel, manchmal sogar sehr viel weggeworfen. Im Wissensbereich landen diese überflüssigen Artikel im virtuellen Mist. Das reicht aber nicht, denn der Rest muss trotzdem irgendwie bewältigt werden und hier setzt ein zusätzliches Phänomen ein.
Auf der Uni bzw. anderen, vergleichbaren Lernmöglichkeiten erfolgt die Strukturierung in angeleitetem Selbststudium bzw. in der Diskussion mit anderen. Wenn es das nicht gibt, muss anders strukturiert werden. Das funktioniert durch Vorschläge von außen, also etwa durch scheinbar stimmige Gesamttheorien, denen man glaubt, ohne sie zu hinterfragen, weil man/frau das Hinterfragen nie gelernt hat.

3.) Die Sicherheit strukturierten und reflektierten Denkens ist nicht gegeben, daher sucht man sich die notwendige Sicherheit durch Bestätigung Gleichgesinnter. Mit anderen Worten: man begibt sich in eine Blase und bleibt, da dort alles auf sich selbst referenziert wird. Man kann das mit einer Sekte vergleichen, in der man von der Außenwelt abgeschnitten wird. Hier kommt noch das gruppendynamische Phänomen dazu, dass die Identität durch einen gemeinsamen Außenfeind stärker wird. Diese so dringend gesuchte Identität der im Internet verlorenen Individuen, der Idioten (übersetzt: Vereinzelten), die keine soziale Geborgenheit mehr kennen, alleine daheim vor dem Bildschirm hockend. Viele von ihnen schotten sich in der Öffentlichkeit noch zusätzlich ab, mit Kopfhörern und Smartphones, auf die pausenlos gestarrt wird.
Dort befindet sich ja auch das Ich, das verwirrt und in Folge auch ängstlich auf die Umwelt zu reagieren beginnt, weil die früher gewohnten Haltepunkte nicht mehr vorhanden sind. Langsam entfernen diese Menschen sich von der Gemeinschaft und werden asozial, rücken das Ich ins Zentrum (werden ego-zentrisch) und so entstehen z.B. die Impfverweigerer, die den sozialen Sinn der Covid-Impfung nicht mehr verstehen, weil sie mit sozialem Sinn nichts mehr anfangen können.
Die letzten sechzig Jahre an Dauerpenetration mit Werbung, die ausschließlich auf das Ich fokussiert, zeigen ihre Wirkung, der wichtigste Satz lautet jetzt „Ich will alles und das jetzt gleich“.

4.) Das immer schneller werdende Internet macht aus den Menschen Ungeduldige, die Warten nicht mehr aushalten können und in Folge keinen Triebaufschub mehr dulden. Durch die Verstärkung ihrer Blase in Verbindung mit dem aufgeblasenen Ich beginnen sie die schnelle, die sofortige Triebbefriedigung als ihr Recht anzusehen und entsprechend einzufordern. Das Essen wird zum Fast-Food, das Auto zum Rennwagen und das Fernsehen zum Netflix, wo der Qualtinger nur mehr selten zu Gast ist und sagt „I waaß zwoa no ned wo i hin wü, oba dafür bin i gschwinder durt.“

5.) Durch die gefühlte Orientierungslosigkeit richtet sich der Fokus, die Motivation auf die eine Wahrheit, die scheinbar hilft die Komplexität nicht aushalten zu müssen. In diesem Fall helfen Argumente nichts mehr, der Ideologie ist immanent, dass sie nicht kritisierbar ist, weil Kritik daran verboten ist. Die Leichtigkeit des Lebens innerhalb eines akademisch reflektierten und durch soziale Absicherung stabilen Weltbildes wird ersetzt durch die Leichtigkeit des „Mono-Theorismus“, an den sich passende Teile anheften und von dem nicht passende Teile sofort abgestoßen werden. Man nennt das „Bestätigungsverzerrung“ und es bedeutet, dass man nur mehr Fakten als solche akzeptiert, die die eigene Grundannahme bestätigen. Dadurch wird keine anstrengende Argumentation mehr notwendig, kein Austausch.
Das im Ergebnis leichte, weil schwer erarbeitete Wissen wird ersetzt durch den leichten Glauben, die Leichtgläubigkeit. Dazu passend sind Verschwörungstheorien reizvoller, lustvoller, als die komplexen offiziellen Theorien und extreme Ansichten bieten eine sichere Ecke anstelle des scharfen Windes am unsicheren Grat der Relativierung.

Wer nichts mehr weiß, muss alles glauben – dieser Satz beginnt an Bedeutung zu gewinnen und führt uns sanft, aber konsequent in eine düstere Prognose, wenn nicht gar in eine dystopische Soziallandschaft, in der die Menschen fette Pizza und noch fettere Burger bewegungslos mit übersüßten Limonaden hinunterspülen und nur mehr über kurze Worte am Bildschirm kommunizieren.

Guido Schwarz, 9. Februar 2022