Der Sandler

Landesversammlung der Grünen Wirtschaft Wien und Niederösterreich. Funktionärswahlen, Vorträge, Diskussionen, Buffet – das alles an einem von uns sehr gern gewählten Veranstaltungsort, der IG Architektur auf der Gumpendorferstraße, nur eine Ecke weit vom Apollo-Kino.
Die Stimmung ist gut, der Caterer hat diesmal geschmorten Kürbis zubereitet und sonst noch einige gute Dinge. Lockere Gespräche, Kennenlernen der neuen Landesleitung von Niederösterreich, dazu ein gutes Bier. Geraucht wird vor der Tür, die dann zeitweise offen steht.

Plötzlich drängt sich ein Sandler hinein. Er tut ein wenig so als hätte er drinnen irgend was zu erledigen, es ist aber fast sofort klar, um wen es sich handelt: klein, gebückt, zerlumpt angezogen, mit einem großen weißen Plastiksack, aber schneller durch die Türe als ihn wer aufhalten kann.
Er lässt sich flugs in eine kleine Sitzgruppe fallen und ruft „Capuccino!“

Wer ist für ihn zuständig? Sollen wir ihn rauswerfen – irgendwo meint das jemand, allerdings eher beiläufig. Ich denke mir, dass er eigentlich nicht stört, sofern er nichts fladert oder unangenehm auffällt.
„Capuccino“ ruft er noch mal und ein Kollege lacht „Hey, wird sind kein lokal, das ist privat!“

Er schaut unverständig, spricht scheinbar kein Deutsch. Ich bringe ihm ein Bier und meine, dass wir leider keinen Kaffee haben. Er trinkt das Bier aus, lehnt sich in seinem Sessel zurück und grinst freundlich, zumindest mit den Zähnen, die er noch besitzt, also eher spärlich. Seine Sprache ist nicht verständlich, zumindest nicht für uns. Polnisch? Ungarisch? Russisch? Auf jeden Fall prostet er uns mit „Nastrowje“ zu und ruft „Polak“.
Dann kramt er ein wenig in seinem Sack herum und als wir uns wieder mit uns beschäftigen, fängt er zu singen an. Offensichtlich hat das Bier seine Laune gehoben. Die Lautstärke ist beachtlich und die Unterhaltung wird schwierig. Wieder werden Stimmen laut, dass man ihn eventuell hinausbefördern sollte, bevor er sich dauerhaft einnistet.
Ich blicke aufs Buffet und sehe, dass wir noch mehr als genug Kürbis haben, der sowieso nach Veranstaltungsende weggeworfen wird. Also hole ich ihm eine Portion, die er annimmt und aufisst. Da er während des Essens nicht singen kann, haben wir das Problem gelöst. Zur Sicherheit bringe ich ihm noch eine zweite Portion. Das funktioniert, er singt nicht weiter, sondern ruht sich ein wenig aus.
Dann beginnt er zu schauen, was so herum liegt. Ein dicker Architektur-Bildband fällt ihm in die Hände und wandert langsam Richtung seines Plastiksacks. Irgendwer weist ihn darauf hin, dass ihm das nicht gehört. Er grinst breit und sagt ein paar Worte. Dann ruft er „Zigarra“. Da ihm niemand eine Zigarre oder Zigarette anbietet, beginnt er aus Prospekten auf dem Tisch vor ihm irgendwelche Werbeartikel rauszureissen und in seinen Plastiksack zu stecken. Dann nimmt er wieder den Bildband und verstaut ihn im Sack.
Ich gehe hin und bitte ihn, den Band wieder heraus zu nehmen. Er tut so, als würde er mich nicht verstehen, grinst breit und ruft „Capuccino!“.

Mir reicht es, ich nehme das Buch einfach aus dem Sack und bringe es in Sicherheit. Langsam stellt sich die Frage, wie wir ihn wieder loswerden und Beate bittet mich bis zum Schluss zu bleiben, sie hätte Angst wenn sie mit ihm alleine fertig werden müsste.

Auf einmal steht er auf, schnappt seinen Sack und marschiert wortlos zur Türe. Ihm dürfte fad geworden sein, es gab nichts mehr zu holen und so wandert er zu den Fahrrädern, die ums Eck an Fahrradständern lehnen. Dort probiert er bei jedem einzelnen ob es abgeschlossen ist. Dummerweise für ihn sind alle angehängt und er trollt sich.

Was mich nachdenklich macht:

Der Sandler ist ein Opportunist. Er hat gelernt eine gewisse Frechheit an den Tag zu legen und davon zu profitieren. Sein etwas ungestümes Eindringen hat uns überrumpelt und genau das war wahrscheinlich geplant. Es dürfte öfter funktionieren, ebenso wie er öfter ein Bier bekommt oder eine Zigarette, damit er sich wieder „schleicht“, wie wir auf Wienerisch zu sagen pflegen.
Nicht immer wird er freundlich aufgenommen, aber das ist das Berufsrisiko. Er nimmt außerdem was er bekommen kann und ist nicht heikel. Seine Sprache ist sein Schutz, er kann jederzeit auf „verstehe nix“ umschalten. Wenn jemand doch Polnisch oder Russisch kann, dann bleibt ihm immer noch schweigen, sich deppert stellen oder sonst etwas. Er grinst freundlich und lacht, nickt und schickt immer wieder positive Signale. Und er nimmt einfach alles mit was nicht niet- und nagelfest ist. Dabei ist er aber durchaus wählerisch und hat sich in unserem Fall etwa den wertvollsten Bildband heraus gesucht. Wahrscheinlich hatte er selbst keine Ahnung, was er damit machen könnte. So sind die Opportunisten, irgendwas wird sich schon ergeben, im Notfall kann man das Buch immer noch zerreissen und es sich in den Blättern gemütlich machen.

Jede Gesellschaft produziert solche Opportunisten und in jedem von uns steckt einer. Die Schlangen, die sich vor dem großen Schlussverkauf sammeln, die Spurwechsler am Gürtel, die Markensammler in den Supermärkten – alle wollen profitieren, ökonomisch günstig aussteigen, etwas gratis haben, Geiz ist geil. Wenn kleine Geschenke vor den Wahlen verteilt werden, dann nimmt man zuerst und schaut dann nach, was man da eigentlich bekommen hat. Danach kommt die wählerische Phase, das Goodie muss ein gutes sein, irgendwie brauchbar, essbar, verwertbar.

Die Sandler sind Randfiguren. Sie leben nicht besonders gesund und werden meist nicht sehr alt – wobei sie ohnehin keine Pension bekommen und es daher umso schwerer haben, je älter sie werden. Sie sind selten ganz jung, zumindest nicht in unserer Gesellschaft, in Afrika etwa sieht das anders aus, dort betrifft es schon die Kinder.

Die Sandler haben eine Art Vertrag mit der Gesellschaft. Sie schnorren und bekommen auch etwas, so lange sie nicht unangenehm werden. Sie sind immer nur geduldet und nie erwünscht. Sie sind alle Opportunisten und müssen es sein, um einigermaßen durchzukommen. Sie zeigen uns die Grenzen unseres Wohlstands, unserer Toleranz, unserer Akzeptanz, unserer Großzügigkeit, unserer Kleinlichkeit, unseres Stolzes und unserer Gier. Eigentlich können wir froh sein, dass wir sie haben.

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