Und nach Corona?

Vor weit über hundert Jahren hatte die damals noch junge Firma Dupont eine Sprengstofffabrik, in der es häufig Unfälle gab, mit Toten und Verletzten. Man bekam dieses Problem erst in den Griff, als man die Vorarbeiter samt ihren Familien mitten in der Fabrik ansiedelte. Danach sanken Anzahl und Schwere der Unfälle drastisch.

Wir haben es hier mit einem Widerspruch zwischen Chance und Risiko zu tun. Die Chance bestand darin, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Gewinn zu erzielen, das Risiko in den Unfällen.
Die Vorarbeiter waren für den Arbeitsablauf verantwortlich, mussten die Risiken aber nicht oder fast nicht mittragen. Erst als ihre Familien Teil des Risikos wurden, waren sie bereit auf einen Teil des Gewinns zu verzichten und Sicherheitsmaßnahmen einzuführen, die letztlich dazu führten, dass die Firma Dupont ein relevanter Player in der Sicherheitstechnikbranche wurde.

Was hat das mit Corona zu tun?
Menschen fühlen Risiken nicht, wenn sie davon nicht selbst betroffen sind und sind daher auch nicht bereit, diese Risiken mit eigenem Aufwand zu minimieren. Und sie sind auch selten bereit ihr Handeln zu verändern, wenn die Beibehaltung keine Konsequenzen mit sich zieht. Wenn ein Manager oder eine Managerin eine Firma an die Wand fährt und dafür auch noch einen Bonus bekommt, wird er/sie daraus maximal lernen, es das nächste Mal wieder so zu machen.

Corona zeigt uns jetzt die eigene Beteiligung, indem klar wird, dass wir es sind, die die Viren verbreiten, und zwar durch unsere Ansprüche an die Globalisierung. Zugleich wollen wir unsere Gewohnheiten, vor allem aber Luxus und Bequemlichkeit nicht einschränken. Jemand hat im Internet geschrieben, dass Corona uns in Hausarrest schickt, wie Kinder, die darüber nachdenken sollen, was sie falsch gemacht haben.
Luxus war ursprünglich das Besondere, das seinen Reiz durch den Mangel in der Normalität bekam. Das Zeichen war der Preis. Heute haben wir den Anspruch auf billigen Luxus für alle, mindestens aber für uns selbst.
Dass das nicht lange gut gehen kann, zeigt das alte Handwerkerbeispiel: Der ideale Handwerker soll schnell, günstig und gut sein. Dummerweise gibt es diesen Handwerker nicht – wer schnell und günstig ist, liefert meistens qualitativen Pfusch ab. Wer schnell und gut ist, hat seinen Preis und wer günstig und gut ist, braucht dafür ewig.
Corona deckt unseren Egoismus auf, getarnt als gesellschaftlich hoher Wert des Individualismus, gefördert durch die neoliberale Ideologie des Rechts des Stärkeren. Begründet wird das mantrahaft damit, dass es „der Markt verlangt“ und es daher so etwas die ein Gesetz wäre. Gerne sprechen die Vertreter dieser Ideologie auch vom „Gesetz des freien Marktes“.

Zugleich sind wir mit einer ganzen Reihe an Überhitzungen konfrontiert. Vielleicht ist es auch kein Zufall, jedenfalls aber eine Ironie des Schicksals, dass uns die Erde dafür Überhitzung liefert, deren Folgen wir nicht entkommen, auch wenn wir wollen.

Das betrifft vor allem zwei Bereiche: Reisen und Warenproduktion.

1.) Reisen

Sehr viele Menschen finden es „cool“ übers Wochenende nach London, Paris oder Mailand zu fliegen, oder eine Woche nach Dubai, drei Wochen nach Australien oder zum Meeting nach Berlin, New York oder sogar Peking.
Wir (mich nicht ausgenommen) haben uns daran gewöhnt, dass Reisen – genauer: Flugreisen – zu unserem Leben, unserer Kultur, unserem Standard, ja sogar Mindeststandard gehören. Jegliche Einschränkung dieser „Freiheit“ wird als unnötige Schikane empfunden, bei der uns jemand Freiheit wegnehmen will. Da werden sofort niedere Motive unterstellt, ähnlich wie bei der Parkraumbewirtschaftung („Abzocke“) und wir empfinden es als ungerecht, vielleicht auch, weil uns die Werbung seit Jahrzehnten suggeriert, dass wir alles verdienen, was es auf dieser Welt an Luxus und Freuden gibt.
Entscheidend ist jedoch, dass diese Einschränkungen sogar empfunden werden, wenn die Preise für den Luxus steigen, denn erstens empfinden wir diese Freiheiten nicht mehr als Luxus, sondern als Normalzustand und zweitens gewöhnen wir uns an die niedrigen Preise und empfinden sie ebenfalls als normal.
Sobald sie dann steigen, sind sie logischerweise abnormal und das soll, darf, kann nicht sein. Bei der Suche nach Schuldigen ist schnell wer gefunden, aber auch bei der Suche nach der Rettung ist der Messias nicht weit: der „freie Markt“ – er soll garantieren, dass jeder Mensch das angesprochene Recht auf uneingeschränkten Luxus jederzeit und überall und ohne irgendwelche negativen Konsequenzen ausüben kann.
Eine Einschränkung – welcher Art auch immer – wird als Angriff auf die eigenen Rechte empfunden und man behält sich rechtliche Maßnahmen vor.
Wenn also im Urlaubsort das Hotel nicht ganz den Erwartungen entspricht, wird eine Klage überlegt. Wenn der Flug sich um eine Stunde verspätet, ist das Grund zu grenzenloser Empörung.
Das Problem liegt darin, dass wir uns sehr schnell an Normalitäten gewöhnen, wenn sie auf dem Weg der Bequemlichkeit erreicht werden, uns aber sehr schwer tun mit neuen Normalitäten, die aus Einschränkungen entstehen.
Wir glauben an ein Recht der ständigen Verbesserung unserer Bequemlichkeit, zu der Luxus und unendlicher Konsum zählen. Die Auswirkungen des alten Werbespruchs „ich will alles, und das jetzt gleich“ sehen wir an Entwicklungen, die von einiger Distanz aus betrachtet nichts weniger als pervers erscheinen. Dazu gehören Kreuzfahrten, moderne Skigebiete mit Kunstschnee, Gletscherskilauf im Sommer, Wellness-Oasen auf Bergspitzen und noch vieles mehr.
Die Spitze des Eisbergs stellt sicher die Skihalle in Dubai dar, aber auch die Ressorts auf den Malediven bemühen sich sehr um maximalen ökologischen Fußabdruck. Hier wird die Überhitzung einer ursprünglich begrüßenswerten Entwicklung sehr deutlich, denn Tourismus selbst entstand aus dem Entdeckungsdrang der Menschen.

Den Preis dafür zahlen Angestellte in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und natürlich die Umwelt. Den genussgewohnten Konsument*innen wird das jedoch tunlichst nicht unter die Nase gerieben und wenn, dann tritt obiger Mechanismus in Kraft und Empörung macht sich breit, man redet von einer „Verbotskultur“ und fühlt sich total im Recht.

Und jetzt ist auf einmal alles anders. Natürlich versuchen wir die Bequemlichkeit und Normalität zu retten, aber das wird jeden Tag schwieriger. Zu Beginn des Lockdowns im Frühling 2020 fühlten sich viele Menschen daheim wohl. Das hat sich im Laufe der Pandemie geändert.

2.) Warenproduktion

Lange Gesichter gibt es dort, wo Medikamente auf einmal nicht mehr vorhanden sind und Apotheker oder Arzt nur bedauernd den Kopf schütteln und meinen, sie wüssten auch nicht, wann das wieder lieferbar sein wird.
Der Großteil der Medikamente kommt nämlich aus China und wurde im Lockdown nicht oder verspätet geliefert. Dummerweise haben einige Pharmafirmen stets damit geprahlt, dass sie hier bei uns produzieren. Nur hat das halt nicht gestimmt.
Noch sind die meisten Warenlager voll, noch gibt es alles zu kaufen, was das Herz begehrt, wenngleich die meisten Geschäfte geschlossen haben. Noch tut das nicht weh, denn wir kaufen es halt, wenn sie wieder offen haben oder kaufen online, was ja sehr bequem ist.
Noch ist überhaupt nicht klar, wie viele Unternehmen es danach überhaupt noch gibt, der Sommer 2021 wird das wahrscheinlich deutlich machen, vielleicht noch stärker der Herbst. Das Problem liegt unter anderem daran, dass bisher schon sehr viele Unternehmen am Limit gewirtschaftet haben bzw. wirtschaften mussten, weil sie „der Markt“ dazu zwingt. Kredite konnten nur mit guten Umsätzen bedient werden, jeder kleine Umsatzeinbruch ist da und dort schon ein Insolvenzgrund.
Das „Leben am Limit“ zieht sich quer durch alle Bereiche. Angestellte haben oft keine Rücklagen, dafür aber zwei Jobs. Unternehmen haben oft ebenfalls keine Rücklagen und müssen dann genau die Angestellten hinausschmeißen, die zwei Jobs haben und brauchen, von denen jetzt einer wegfällt.
Daraus entsteht im schlimmsten Fall eine Abwärtsspirale, die sich nur schwer aufhalten lässt, bevor wir alle ganz unten angekommen sind, zumindest sofern nichts oder das Falsche unternommen wird.

Die Überhitzung zeigt sich sehr gut im Überfluss, der durch die Warenüberproduktion entstand. Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Wegwerfgesellschaft zu leben und verteidigen diese meist mit dem Argument, dass es erstens keine Alternative gäbe und wir zweitens ja nicht zurück in die Steinzeit wollen.
In zwei Bereichen zeigt sich das besonders gut: Wir werfen Lebensmittel weg, die vollkommen in Ordnung sind, weil ihr Wert verloren gegangen ist. Etwas, das stets überall im Überfluss zur Verfügung steht und relativ wenig kostet, verliert automatisch seinen Wert. Und wir werfen Kleidung oft weg ohne dass sie auch nur ein einziges Mal getragen wurde. Dieser Trend nennt sich „Fast shopping“ und wird seitens der Industrie auf vielfältige Weise unterstützt. Es gibt z.B. nicht mehr eine Frühjahrs- und eine Herbstmode, sondern monatlich wechselnde Kollektionen, teilweise sogar bereits wöchentlich.

Was ist das für ein System, das jetzt blitzschnell an seine Grenzen zu kommen scheint? Und was passiert danach?
Im Idealfall lernen wir daraus und ändern unser System, das sich in so einer Situation als – teilweise – fehlerhaft herausstellt, weil es an Resilienz fehlt.
Das betrifft z.B. folgende Bereiche:

Abhängigkeit durch die Globalisierung

Der Großteil unseres Wohlstands bzw. der Ressourcen, die wir dafür brauchen, ist importiert. Das betrifft die Energie, die Rohstoffe, aber auch die fertigen Waren, die zum Großteil woanders erzeugt werden, weil das billiger ist. Bisher – und das ist für eine spätkapitalistische Gesellschaft sicher typisch und in diesem Sinne auch ganz normal – ging es ausschließlich um den Preis.
Das betrifft auch in vollem Umfang unser Gesundheitssystem. Als meine Mutter starke Schmerzen im Bein hatte, wurde eine Hüftoperation fällig. Der Arzt meinte, ein Termin würde 4-6 Monate dauern. Wenn sie es selbst zahlt, ist sie nächste Woche dran.
Wer genügend Geld hat, kann sich gute Versorgung leisten. Die anderen haben Pech gehabt bzw. nicht genug geleistet, wobei als Leistung nur zählt, was mit Geld entlohnt wird, also die Erwerbsarbeit.

Glücklicherweise sind wir noch nicht ganz dort angelangt, auch wenn die neoliberalen Kräfte das versuchen durchzusetzen. Dazu gehört auch die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Wasser. Wie damit umgegangen wird, ist eine politische Entscheidung, genauso wie die 2-Klassen-Medizin. Die Commons-Bewegung hat an dieser Stelle die Forderung nach vier Bereichen erstellt, die vergemeinschaftet werden sollten: Boden, Arbeit, Geld und Wissen. (Für die genaue Aufarbeitung dieses Themas braucht es einen eigenen Beitrag.)

Zurück zur Globalisierung. Die ausschließlich profitorientierte Wirtschaft sucht sich immer den Ort, an dem die Kosten am niedrigsten sind und so geraten die einzelnen Länder, Kontinente und Regionen in Wettbewerb: Wer bietet die niedrigsten Kosten? Dabei sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Die Lohnkosten und die Kosten für den Umweltschutz. Wer also die Ausbeutung von Mensch und Umwelt zulässt, gewinnt.
Damit diese Globalisierung der Märkte auch funktioniert, müssen die Transportkosten weltweit niedrig gehalten werden. Das hat etwa zu den ersten großen Öltankerkatastrophen geführt, weil die Tanker aus Kostengründen einwandig gebaut wurden. Bis heute hat sich nicht viel geändert, die Frachter fahren mit dem billigsten Treibstoff, den es weltweit gibt. Der ist deswegen so billig, weil keinerlei Umweltkosten eingepreist sind. D.h. wer mit Schweröl fährt, vergiftet die Umwelt, ohne dafür bezahlen zu müssen.
Es gibt für die internationale Seefahrt keinerlei Beschränkungen (der berühmte „freie Markt“) und daher ein Maximum an Umweltverschmutzung, weil ja jeder die billigste Variante wählt. Derzeit sieht es so aus, als ob das auch noch lange so bleiben wird.

Was wir also lernen können, wenn wir wollen:
1.) Wie wichtig Gesundheit für ein gutes Leben ist und dass es dafür ein leistungsfähiges System braucht, das auch was kostet.
2.) Egoismus funktioniert nur kurzfristig.
3.) Lokale bzw. regionale Produktion aller lebenswichtigen Güter ist sinnvoll.
4.) Entschleunigung schadet nicht.

Kommen wir zu den Lösungsansätzen einer PVÖ, einer „Post-Virus-Ökonomie“.
Über diesen Begriff wurde viel diskutiert, etwa weil man für ein positives Bild nicht so negative Begriffe wie „Virus“ verwenden sollte. Letztlich überwiegt aber ein Argument, nämlich dass der Begriff sofortige Klarheit schaffen soll, worum es geht.

Neudefinition des Glücks

Derzeit gibt es in unserer Gesellschaft einen dominanten Glücksbegriff, nämlich den des Konsumglücks. Je mehr ich kaufe und je mehr ich besitze, desto glücklicher bin ich.
In der Glücksforschung stellt sich das differenzierter dar, nach Herbert Laszlo gibt es drei Formen von Glück:
a.) Der Zustand innerer Zufriedenheit, ähnlich dem altgriechischen Begriff der „Eudaimonia“.
b.) Emotionale Glücksmomente, etwa wenn die Mutter ihr Baby lachen sieht.
c.) Fortuna, also das Glück etwa im Spiel.

In der Überhitzung unserer Konsumglücksgesellschaft, in der wir vor allem „Keep it up with the Jones“ spielen, erreichen wir maximal den kurzen Adrenalinausstoß, den uns ein Kauferlebnis bringt, angeblich ganze sieben Sekunden lang. Dann brauchen wir das nächste Erlebnis – das ist übrigens einer der Motoren des „Fast Shoppings“.
Ach ja: „Keep it up with the Jones“ ist ein US-amerikanischer Begriff. Die Familie Jones sind die Nachbarn, deren Konsum ich nacheifere und ständig glaube übertreffen zu müssen. Wenn Herr Jones ein neues Auto hat, brauche ich auch eins, am besten ein größeres, schöneres als er. Herr Jones sieht das übrigens genauso und Frau Jones ebenfalls.

Wie könnte ein moderner Glücksbegriff aussehen?
Jedenfalls kommt Eudaimonia wieder ins Spiel und führt zu einer Neugestaltung unserer Zeit. Derzeit verwenden und leben wir von den beiden Zeitbegriffen der alten Griechen nur einen einzigen, nämlich „Chronos“, die Quantität der Zeit. Alles wird in Monate, Tage, Stunden, Sekunden eingeteilt und treibt uns vor uns her. Gemessen wird mit Chronometern.
Der andere Begriff ist der des „Kairos“, was so viel bedeutet wie „der richtige Augenblick“. Es handelt sich hier um die Qualität der Zeit, also um den Genuss des Hier und Jetzt.
Statt Dingen bringen uns Menschen das Glück, also die Geselligkeit, auch der gemeinsame Genuss des Besonderen, der gemeinsame oder auch einsame Müßiggang, idealerweise in der Natur, die unseren Puls zu senken vermag, speziell im Wald.
Vielleicht schenkt uns die Corona-Krise ja auch einen neuen Blick auf Gesundheit, und zwar jenseits der individuellen Ebene. Wir können uns als Teil einer gesunden Gemeinschaft verstehen und sind bereit, Gesundheit umfassender zu denken. Das führt uns weg vom ungesunden Egoismus hin zu einer modernen Form einer sozialen Ordnung. Die Begriffe Kommunitarismus, Commons und Almende stehen plötzlich vor der Tür und wollen herein. Ihnen folgen in Zukunft wohl noch einige andere.
Essen und Trinken bekommen einen neuen Stellenwert, weil es nicht mehr alles immer und überall gibt und wir lernen, dass wir alles immer und überall zu unserem Glück gar nicht brauchen. Qualität will genossen werden, dazu muss sie als solche erkennbar sein, etwa durch klare Herkunftsnachweise. Der Sonntagsbraten ist wieder dem Sonntag zugedacht, was der Gesundheit der Gemeinschaft gleich auf mehreren Ebenen zuträglich ist.
Das Glück ist immer auch das Glück der anderen. Dazu brauchen wir aber sozialen Ausgleich und der beginnt mit einer gerechten Verteilung der Güter, die wiederum auf der Wertigkeit des Menschen aufbaut.
Natürlich gibt es nach wie vor individuellen Reichtum und auch eine ungleiche Verteilung der Güter, aber nicht in der derzeitigen Überhitzung.

Neudefinition des Wachstums

Die Post-Virus-Ökonomie ist auch eine Post-Wachstums-Ökonomie. Nein, das führt uns nicht in die Steinzeit zurück, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob an dieser viel beschworenen Zeit alles so schlecht war. Aber es steht sowieso nicht zur Debatte.
Wir folgen jetzt den Ideen von Leopold Kohr, der das richtige Maß eingefordert hat, und war von allem und somit auch von allen.
Er meinte, alles auf dieser Welt soll bis zu seiner idealen Größe wachsen. Diese ist aus der Natur der Dinge gut erkennbar, wenn man erkennen will. Nichts soll darüber hinaus wachsen, weil es dann pervers wird, und nichts soll unter seiner idealen Größe bleiben, weil es sonst verkümmert.

Wenn wir diesem Grundsatz folgen und etwa das Design der Dinge bzw. unseres Lebens danach gestalten, wäre das nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Ob wir dafür bereit sind oder noch eine zweite Pandemie plus eine Verschärfung der Klimakrise brauchen, wird die Zukunft zeigen.

Design

DESIGN

Anmerkungen zu einem Element unseres Konsumlebens

Auf Wikipedia heißt es schlicht „Entwurf“ oder „Formgebung“ und das hilft uns nicht weiter. Die Übersetzung aus dem Englischen („Gestaltung“) schon eher.
Aber auch Wikipedia wird noch genauer: „Insbesondere umfasst es auch die Auseinandersetzung des Designers mit der technischen Funktion eines Objekts sowie mit dessen Interaktion mit einem Benutzer. Im Design-Prozess kann somit unter anderem Einfluss auf die Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer eines Objekts genommen werden, was insbesondere beim Produktdesign relevant ist.“

Wenn es also heißt „ein schönes Design“, dann kann damit die Gestaltung eines Objekts gemeint sein, also die äußere Form, oder das, was darin enthalten ist, denn mit „Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer“ ist das Wesen beschrieben, das ein Gegenstand, ein Objekt hat.
Wer einen Gegenstand „designt“, übernimmt damit auch die Verantwortung für das, was er ist und für seine Relation zur Welt, denn es handelt sich um einen bewussten Vorgang.
Im Doku-Film „Design ist niemals unschuldig“ von Reinhild Dettmer-Finke wird dieser Verantwortungsaspekt unter die Lupe genommen.
Design gestaltet unsere Welt, es ist zumindest mitgestaltend und somit auch dafür verantwortlich, was die Dinge in und mit unserer Welt machen.

Wenn ein Gegenstand geplant, entworfen und gebaut wird, dann ist seine Form nicht zufällig, sondern steht für etwas. An dieser Stelle ist noch nicht gesagt, wofür er steht.
Ein gutes Beispiel ist der VW Käfer, der für „moderne Mobilisierung der Massen“ steht bzw. stand und ganz bewusst dafür entworfen wurde.
An dieser Stelle kommt eine politische Dimension dazu, denn der Käfer wurde sowohl vom Nationalsozialismus wie auch von der US-amerikanischen Hippie-Bewegung als Symbol verwendet.
Der Käfer hat 4-5 Sitzplätze und wurde somit für die Kernfamilie entworfen, also Vater, Mutter und 2-3 Kinder plus eine bestimmte Menge Gepäck. Durch seine Technik wurde er so gestaltet, dass die Erzeugung zu einem Preis möglich ist, den sich die erwünschten Besitzer auch leisten können.
Ist das Design des Käfers nun eine Antwort auf ein erwünschtes Gesellschaftsmodell oder wird dadurch dieses Modell erst entworfen?

Der Designtheoretiker Friedrich von Borries erklärt im Film anhand des Smartphones die verschiedenen Ebenen des Designs. Hören wir ihm kurz zu:
„Auf den ersten Blick würde man sagen, das Design eines Smartphones ist die Oberfläche, die Materialität, dass ich darüberwischen kann, dass ich es gerne anfasse, dass es der Hand schmeichelt, dass es gut aussieht usw. Das ist Design.
Auf den zweiten Blick kann man sagen, vielleicht ist das Design des Smartphones noch etwas anderes, nämlich die Art, wie wir es benutzen, wie wir miteinander kommunizieren, also dass wir jetzt alle erwarten, innerhalb von zwei bis vier Stunden – oder wie auch immer – eine Antwort auf eine E-mail oder SMS zu bekommen. Eine Interaktionserwartung an andere zu haben, ist auch das Design.
Das Design eines Smartphones ist aber auch, dass wir bereit sind uns überwachen zu lassen, dass wir aus Bequemlichkeit unsere Ortungsdaten zur Verfügung stellen, diese verknüpfen lassen mit den Informationen, die wir an dem Ort gesucht haben, um damit also selbst gläsern, transparent und kommerziell verwertbar zu werden.“

Laut von Borries ist Design politisch, weil es manipulativ die Überwachungsfunktion hinter der glänzenden Fassade verbirgt, weil es damit Selbstüberwachung schafft und in Folge auch eine ebenso gestaltete Gesellschaft.
Er meint, dass dies nicht von „durchgeknallten Politikern“ geschaffen wird, sondern von den Konsument*innen und den kommerziell interessierten Herstellern.

Es taucht die Frage auf, was wir für ein gutes Leben brauchen und ob Design die Verantwortung hat, uns das zur Verfügung zu stellen, dafür zu designen.
Design kann somit entweder die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft befeuern oder genauso gut einen anderen Entwurf, etwa eine Gesellschaft in einer Postwachstumsökonomie, in der die Gegenstände möglichst nachhaltig, möglichst reparierbar und möglichst langlebig entworfen werden.

Design hat in den letzten Jahrzehnten die Aufgabe übernommen, Gegenständen das Attribut „innovativ“ zu verleihen, „anzudesignen“ könnte man sagen. Eine Wachstumsgesellschaft braucht ständige Innovationen, um ständig neue Gegenstände verkaufen zu können, die eigentlich nicht gebraucht werden. Ein neu entworfener Sneaker (Turnschuh) kann nicht mehr als das Vorgängermodell, soll aber durch sein Design vermitteln, dass er etwas besser kann und daher gekauft werden soll.
Wir finden das natürlich ganz besonders bei der wichtigsten Ikone unserer Zeit, dem Auto. Neue Modelle unterscheiden sich von den Vorgängermodellen in winzigen Details, die aber durch die Werbung zu unglaublichen Innovationen aufgeblasen werden müssen, um einen entsprechenden Verkaufserfolg zu schaffen.
Wer hier nicht mitmacht, gerät ins Hintertreffen, verliert Marktanteile und verschwindet früher oder später.
Ein Beispiel dafür ist die Marke „Eudora“, die viele Jahrzehnte Haushaltsgeräte erzeugt hat, vor allem Waschmaschinen.
Diese Geräte haben sich als ausgesprochen langlebig erwiesen – ich selbst besitze eine seit dreißig Jahren. Das bedeutet, dass ich mir seit dreißig Jahren keine neue gekauft habe und Eudora kein Geld mit mir verdient hat.
An dieser Stelle greift wiederum die Politik ein, die unser System steuert, etwa indem sie Herstellern, die Geräte für Langzeitgebrauch erzeugen, steuerliche Vor- oder Nachteile verschafft.
Dadurch steuert sie, welche Art von Design belohnt und welche bestraft wird. Am Beispiel von Eudora können wir leicht erkennen, dass Langlebigkeit nicht gerne gesehen und somit bestraft wird.

An dieser Stelle wird gerne erwähnt, dass es ja die KonsumentInnen sind, die langlebige oder kurzlebige Waschmaschinen wollen und somit kaufen.
Ist das wirklich so? Weshalb sollte ich eine Waschmaschine kaufen, die schnell kaputt wird? Beim Smartphone kann ich das noch irgendwie verstehen, etwa wenn man mit dem neuen Modell bei Freunden angeben will und es somit äußerst praktisch ist, wenn das alte schnell kaputt geht– aber bei der Waschmaschine?
Da gibt es noch das Argument, dass die neue Maschine umweltfreundlicher ist als die alte und daher diese daher möglichst schnell ausgetauscht werden sollte.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass auch hier manipuliert wurde und die neuen Maschinen genauso viel Strom verbrauchen wie die alten. Man verwendet dafür den gleichen Trick wie VW mit seinen Dieselautos: Es wird ein bestimmter Testzyklus entworfen, in dem geringer Verbrauch gemessen werden kann. In der Praxis gibt es solche Zyklen aber nicht und daher handelt es sich bestenfalls um Manipulation.

Dinge können so designt werden, dass Menschen sie etwa gut teilen können oder dass sie reparierbar sind. Sie können so gestaltet werden, dass man sie gerne lange benützt, eine Beziehung zu ihnen aufbaut und in ihnen einen Wert erkennt. Das kann über die Materialwahl, die Verarbeitung oder die Formgebung geschehen.
All das macht das Design.

Design nimmt auch direkt Einfluss auf das Verhalten der Menschen, es kann beziehungsfördernd wirken oder hemmend. Wenn eine Freifläche, ein Innenhof, eine Straße, ein Haus so gestaltet wird, dass die Leute zum Beziehungsaufbau animiert werden, so ist das eine Frage des Designs, das nicht nur für einzelne Gegenstände zuständig ist.
Im Film wird ein Rondeau gezeigt, das aus einem grünen Ring mit Pflanzen besteht, die von Besucher*innen gestaltet werden können. Innen gibt es eine ringförmige Bank, ähnlich einem Sesselkreis. Sie lädt zum Plaudern oder Diskutieren ein.
Das Gegenteil ist das Design moderner Bahnhöfe, wo es gar keine Sitzgelegenheiten mehr gibt, die genützt werden können, ohne zu konsumieren. Selbst freie Bodenflächen werden umgestaltet, etwa durch spitze Zacken, so dass sich niemand hinlegen kann. Dadurch sollen Obdachlose vertrieben werden, die sich im Winter aufwärmen wollen.
Auch das ist Design.

Es kann Kreativität fördern oder verhindern. Das beste Beispiel ist LEGO. Die ursprüngliche Designidee war die Förderung der kindlichen Kreativität. Die Bausteine waren so gestaltet, dass sie vielfältig verwendbar waren. Wenn man genügend davon hatte, konnte man so ziemlich alles bauen, was man sich ausdenken konnte. Dafür reichten kleine, viereckige Bausteine unterschiedlicher Länge und Größe plus ein paar Sonderelemente wie Räder oder schräge Bausteine als Dachelemente.
Dann entwickelte LEGO die „Technik“-Serie. Damit konnten die Kinder nach genauer Anleitung technische Geräte wie Bagger oder Autos bauen. In den ersten Jahren waren auch diese Bausteine noch flexibel verwendbar und so konnte man aus einem Bagger auch einen Kran bauen und die Teile mit den alten Legosteinen mischen. Die Kreativität wurde dadurch schon deutlich eingeschränkt.
In der heutigen Form wird ein Objekt – etwa ein Raumschiff aus der Star-Wars-Serie – vorgegeben und kann nach genauer Anleitung zusammengesteckt werden. Die Elemente sind hochkomplex und nachdem etwas aufgebaut ist, kann zwar noch seine Funktion getestet werden, es animiert aber nicht mehr zu einer Umgestaltung. Die Kinder werden überhaupt nicht mehr dazu angeregt kreativ zu sein, sondern folgsam nach einer exakten Vorgabe etwas abzuarbeiten. Die meisten Bauelemente können nur für genau einen Zweck verwendet werden und passen nur auf genau einen Platz. Das Design der modernen LEGO-Elemente hat die Freiheit gegen die Gehorsamkeit getauscht und das Spiel gegen die Arbeit.

Die Forderung nach anderem Design als diesem ist alt, erschreckend alt. Auf der Design-Konferenz in Aspen forderten junge Designer bereits 1970: „Hören Sie mit dem unnötigen Ressourcenverbrauch auf! Weigern Sie sich Strukturen zu schaffen, deren einziger Zweck der Profit ist und damit eine zerstörerische Kraft in unserer Gesellschaft.“
Bereits damals wurde intensiv über ein alternatives Wirtschaftssystem nachgedacht. Aus heutiger Sicht ist klar, dass sich diese Gedanken, Wünsche und Forderungen nicht durchgesetzt haben. War ihre Zeit damals noch nicht gekommen? Ist sie es heute? Oder handelt es sich um ein kritisches Grundrauschen, mit dem der Kapitalismus damals wie heute locker fertig wird?

Haben Designer*innen Verantwortung für das, was sie entwerfen? Oder liegt diese Verantwortung bei ihren Auftraggebern?
Entwickeln die Designer*innen das, was die Konsument*innen fordern bzw. wünschen, oder nehmen diese einfach das, was designt wird? Erzeugt das Design erst den Wunsch?

Die politischen Dimensionen von Design sind vielfältig. Wer etwa Solarzellen entwirft, die jenseits der bekannten Paneele auf Fenstern oder verschiedenen, nicht auffälligen Gegenständen angebracht sind, verändert die Art und das Ausmaß der Akzeptanz. Das wiederum führt möglicherweise zu einer steigenden Zahl an Anwendungen und in Folge zu Autarkie oder auch stärkerer Vernetzung der Menschen durch Technologie: Wenn jeder Haushalt seinen eigenen Strom erzeugt, verändert das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Machtverhältnisse und somit das demokratische System.

Der modernste Ansatz richtet sich gegen das ursprüngliche Ziel des Designs: Dinge so zu gestalten, dass Menschen sie kaufen, obwohl sie diese Dinge nicht brauchen, um das ständige Wachstum anzutreiben.
Heute geht es um das Gegenteil: Dinge so zu gestalten, dass die Menschen mit weniger auskommen und trotzdem keinen Mangel empfinden. Langandauernde Nützlichkeit rückt in den Vordergrund, Reparierbarkeit wird zum zentralen Gestaltungselement, vielfältiger Nutzen ebenso wie die Möglichkeit die Dinge nach ihrem Gebrauchszyklus wiederzuverwerten.
Modernes Design kehrt den Wert der Gegenstände hervor, optisch und haptisch, und lenkt das Begehren in eine Langzeitnutzung anstatt in die schnelle Erneuerung. Der Statusgewinn entsteht dann nicht mehr dadurch, dass ich das Neueste habe, sondern dass ich das Beste teile.

„Kritisches Design“ denkt heute schon über die Probleme der Zukunft nach. Wie werden wir leben (können), wenn die Klimakrise jetzt bewohnte Teile unserer Erde unbewohnbar macht? Wie müssen Lebensräume gestaltet sein, um ohne Ressourcenverschwendung auszukommen? Wie funktionieren Kreislaufsysteme?
All diese Fragen und die darauf fehlenden Antworten machen klar, welche Verantwortung die Querschnittsmaterie Design hat.

Sehen wir uns abschließend an, was Friedrich von Borries dazu zu sagen hat:
„Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mache deshalb Autos und ich mache, dass die schön aussehen und sich gut verkaufen. Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mich interessiert, wie in einer Stadt das Verhältnis zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern ist und deshalb gestalte ich nicht nur Fahrräder und Autos, sondern überlege mir, wie breit sind die Gehwege, wie breit sind die Straßen – aber ich überlege mir auch, wie kann ich von dem einen auf das andere umsteigen und deswegen entwerfe ich auch Umsteigestationen, entwerfe S-Bahn-Waggons, in die ich einfach die Fahrräder mitnehmen kann usw.
Und plötzlich gestalte ich an der Umweltverträglichkeit unserer Gesellschaft und nicht an der Verkaufbarkeit von einer Tonne Stahl und Motor.
Design kann alternative Lebensformen und den gesellschaftlichen Wandel attraktiv machen.“

Im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft wird die Zukunft einer Transformationsgesellschaft gehören, in der Design nicht die Aufgabe hat, schöne Produkte zu entwerfen, um möglichst viel davon zu verkaufen, sondern dem Design die wichtige Aufgabe zukommt, Gegenstände samt den notwendigen Ressourcen so einzusetzen, dass sie eine Zukunft mit einem guten Leben für alle ermöglichen.

Der Gesundheitsweg für Autofahrer

Es gibt ihn wahrscheinlich schon seit den 1970er-Jahren und er war damals nicht der einzige. Zumindest drei oder vier kannte ich damals und fand es witzig, auf den Geräten herumzuturnen.

Heute ist er ein Anachronismus erster Ordnung und zeigt ein Gesellschaftsbild, das sich dringend weiterentwickeln muss.

Gesundheitsweg.jpg

Bild: Der Gesundheitsweg für Autofahrer

Was ist das eigentlich, so ein „Gesundheitsweg für Autofahrer“? Konkret besteht er aus einem Weg im Wald, auf dem in kurzen Abständen Reckstangen und sonstige Geräte verteilt sind. Autofahrer sollen durch Schilder animiert werden diesen Weg zu gehen und die Geräte zu benützen. Scheinbar soll das ihrer Gesundheit dienen.
Aber wieso brauchen die das? Ich habe niemals einen Autofahrer gesehen, der das verwendet. Scheinbar sind nur Männer angesprochen, aber um das zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Zeit ihrer Entstehung machen, also nicht der Männer, nur der Gesundheitswege.
Zu dieser Zeit fuhren fast ausschließlich Männer die Autos. Frauen waren am Beifahrersitz (es gab keinen Beifahrerinnensitz, weil es keine Fahrerinnen gab) geduldet und hatten artig und ruhig den Fahrer zu unterstützen.
Die dazu gehörende Radiosendung hieß „Autofahrer unterwegs“ und erfreute sich extrem hoher Beliebtheit. Das Themen Feminismus und Gendern waren noch nicht erfunden oder steckten in den Kinderschuhen.
Männer waren die heldenhaften Bezwinger des Autos, diejenigen, die die Arbeit des Chauffierens erledigen mussten, weil Frauen das nicht können sollten und nur ausgesprochen selten ans Steuer durften, genau genommen nur dann, wenn sie alleine oder mit den Kindern fuhren.
Selbstverständlich gab es Ausnahmen, aber ihre Größenordnung können wir gut erahnen, wenn wir uns heute an eine belebte Straße stellen und anschauen, wie viele Männer immer noch am Steuer und wie viele Frauen am Beifahrersitz zu sehen sind.

Es war auch die Zeit der Ausflüge mit dem Auto, ein anderes Verkehrsmittel war nicht wirklich vorstellbar, mit der Bahn fuhren nur arme Leute und Spinner. Wer sich ein Auto leisten konnte, hatte eins.
Also fuhr man am Wochenende ins Grüne, hinaus aus der grauen Stadt, die unter anderem so grau war, weil dort die Luft vom Autoverkehr verpestet war. Man hatte sich einen Dreckverursacher gekauft, um damit dem Dreck davon zu fahren, den er verursachte.

Weit sind wir in der Entwicklung seither nicht gekommen, das Auto (besser: der eigene PKW) ist auch heute noch das Verkehrsmittel der ersten Wahl und wird nach wie vor benützt, um aus der Stadt ins Grüne zu fahren. Ein so ein Ort ist die Windischhütte, die man und frau auch problemlos im Zuge einer kleinen Wanderung erreichen kann, um sich erstens Appetit zur Einkehr in das dortige Gasthaus zu holen und zweitens wirklich etwas für die Gesundheit zu tun.

Der Gesundheitsweg ist eigentlich ein Krankmacher, denn er suggeriert, dass man gefälligst alles mit dem Auto fahren soll und dann hin und wieder ein paar Minuten an einer Reckstange baumeln. Was genau soll das bringen? Ein Dehnen der vom Fahren müden Glieder? Beseitigung von Verspannungen, wie sie nach einem ganzen Tag Autofahren auftreten, sicher aber nicht nach 30 Minuten Fahrt zur Windischhütte?
Ich vermute, dass diese Tafeln den Autofahrern signalisieren sollen, dass sie nur ja nicht auf die Idee kommen irgend einen Weg ohne das Auto zu machen. Ein Grund dafür könnte ja sein, dass man etwas für seine Gesundheit machen möchte und sich daher überlegt, zu Fuß zu gehen. Dann könnte man entdecken, wie schön und gesund Wanderungen sind – das gilt es auf jeden Fall zu unterbinden.
Daher die Botschaft: Fahr alles mit dem Auto und gehe hin und wieder so einen Gesundheitsweg.

Dass man dort maximal Kinder spielen sieht, mag vielleicht darauf hinweisen, dass die Autofahrer den Trick durchschauen. Oder dass es ihnen einfach egal ist.
Auf jeden Fall erinnert es mich an die Fitness-Center, zu denen die Fitnesshungrigen mit dem Auto hinfahren, dann mit dem Lift in den Stock des Centers, um sich dort wie verrückt auszupowern, nur um dann wieder in ihr Auto zu steigen.

Ich meine, es ist höchste Zeit, dass die Menschen im 21. Jahrhundert ankommen. Und dass die Gesundheitswege bald Geschichte sind.

Philips – zerstören statt reparieren

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mir eine neue elektrische Zahnbürste gekauft – nicht ganz billig, so eine Philips Sonicare Ultraschall-Bürste.
Die erste Erkenntnis bestand darin, dass „Ultraschall“ lediglich bedeutet, dass sich der Bürstenkopf schnell hin- und herbewegt. Ehrlich gesagt auch nicht wirklich anders als bei der alten Braun, die ich Jahre davor hatte. Das mit dem Ultraschall ist ein Marketingschmäh, genauso wie die Funktion „Ultra White“ – das bedeutet nämlich nur, dass die Bürste länger läuft. Sonst gar nichts. Ich muss aber zugeben, dass ich auf die Schmähs reingefallen bin, immerhin einmal.

Das Bürsten ging so leidlich, das Handstück war leicht zu reinigen und hin und wieder musste ich sie aufladen. Dass das Ding kabellos funktioniert, ist bei einer Zahnbürste absolut sinnvoll, ein Kabel wäre ständig im Weg.

Alles soweit okay, bis neulich. Da hat sie nämlich nicht mehr funktioniert, die teure Bürste. Also aufladen – was aber nichts genützt hat, auch nicht langes Aufladen.
Dann reifte die Erkenntnis, dass das Ding wohl kaputt sein dürfte. Die Bedienungsanleitung gibt leider keinen Aufschluss über mögliche Ursachen, ich tippte auf einen kaputten Akku. Eigentlich dürfte er zwar nicht so schnell (ca. 3 Jahre) den Geist aufgeben, aber Akkus sind unberechenbar, deswegen kann man sie normalerweise auch austauschen.

Dann entdecke ich auf einer Seite der Bedienungsanleitung die Anweisung, wie man den Akku entfernen könne, und zwar um ihn umweltgerecht zu entsorgen.
Wir haben es hier mit dem nächsten Schmäh zu tun. Würde sich Philips auch nur einen winzigen Dreck um die Umwelt kümmern, dann wäre das Ding zumindest reparierbar.
Das ist es nämlich nicht, und zwar gar nicht. Man kann die Bürste zerstören, um den Akku rauszuholen, wobei Philips ausdrücklich darauf hinweist, dass dieser Vorgang unumkehrbar ist, also: öffnen heißt zerstören.

Das wäre übrigens nicht notwendig, mit ein paar winzigen technischen Änderungen, welche die Produktion um keinen Cent verteuern würden, könnte man die Bürste so gestalten, dass man den Akku ersetzen kann und sie dann wieder ein paar Jahre funktioniert. Die Li-Ion-Standardzelle ist nämlich mit zwei Fahnen verlötet. Statt diesen Fahnen wären die üblichen Klemmen möglich, dann ließe sich die Zelle austauschen. Mit drei zusätzlichen kleinen Schräubchen wäre der gegen Wasser abgedichtete Deckel so gestaltbar, dass man ihn auf- und wieder zuschrauben kann. Das wäre alles, sonst bräuchte das Ding keine technischen Änderungen.

Das wissen die Ingenieure bei Philips genauso wie die Produkt- und die Marketingstrategen. Sie können es tun, wenn sie es wollten.

Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einem besseren Produkt, die Philosophie von Philips gefällt mir leider gar nicht und ich werde versuchen, eine Produkte dieses Unternehmens mehr zu kaufen, dass so offensichtlich auf Umweltschutz pfeift und trotzdem zum Hohn aller KonsumentInnen behauptet, für Umweltschutz einzutreten.

Der Herr Naderer

Wer erinnert sich noch an den Kaisermühlen-Blues? Die beliebte und sehr wienerische Fernsehserie aus den 1990er-Jahren hatte nicht nur die zwei schrulligen Bezirksräte „Schoitl“ und „Gneisser“ zu bieten, sondern auch den Herrn Naderer, einen alten, weißbärtigen Mann, der immer, absolut immer grantig war.
Gespielt wurde die Figur von Ernst Hinterberger himself, dem Autor und Produzent der Serie. Er gab dem Herrn Naderer ganz bewusst die Note des mieselsüchtigen Typen, der absolut niemals etwas Gutes oder Positives zu melden hatte. Sein gesamter Blick auf die Welt war ein negativer und deswegen wurde er auch immer wieder von der resoluten Trafikantin Gitti Schimek (gespielt von Marianne Mendt) zurechtgewiesen.

Zurechtweisungen gibt es für die Naderers unserer Zeit gerade fast keine. Sie tauchen in großer Zahl auf und ihre beliebteste Spielwiese ist das Internet, ganz besonders Facebook und die Kommentarspalten der Online-Zeitungen.

Ich möchte versuchen, diesen Typus noch ein wenig besser zu fassen und erinnere mich an eine Nummer der Toten Hosen aus den späten 1980ern, genauer von der LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“. Sie heißt „35 Jahre lang“ und handelt von einem Mann, der den Großteil seines Lebens in einer Fabrik Haken für Duschvorhänge erzeugt hat.
Blicken wir kurz in diese Nummer:

„Er sitzt den ganzen Tag am Fenster
mit einem Kissen unterm Arm,
ist ein Fahrrad auf dem Gehsteig,
ist ein Wagen falsch geparkt,
er ist allzeit bereit und schlägt Alarm.

Vor einem Jahr ging er in Rente
jetzt weiß er nicht wie´s weitergeht,
sein Wellensittich ist der letzte
der hin und wieder mit ihm spricht,
wenn er allein vor seiner Fototapete sitzt.“

Der Vernaderer ist der kleine Bruder des Denunzianten. Er bekommt zwar keine 30 Silberlinge, dafür aber einen Lohn der anderen Art, nämlich soziale Anerkennung.
Derzeit in der Corona-Krise gibt es für diese Typen sogar ganz besonders viel soziale Anerkennung, denn sie tun scheinbar etwas, das der Gesellschaft dient. Wenn sich alle Menschen an die Regeln halten, kann die Krise schneller überwunden werden, heißt es.
Der Vernaderer meldet abweichendes Verhalten, das er beobachtet. Er meldet es entweder der Autorität (Polizei, Verwaltung etc.) oder der Öffentlichkeit, wie etwa der in den sozialen Medien.
Er ist der Hüter der Norm, der Wächter des von der Obrigkeit erwünschten Verhaltens. Seinen mangelnden Mut kann man gut daran erkennen, dass er sich dann vor allem dann hervorwagt, wenn er sich in Gesellschaft Gleichgesinnter wähnt, also für sein Verhalten Bestätigung bekommt.

Die Vernaderten werden als asoziale Täter dargestellt, die man zu Recht bloßzustellen hat. Sie schaden mit ihrem Verhalten einer Allgemeinheit, die als eine zu Schützende konstruiert wird.
Ein Beispiel: In Klosterneuburg ist ein Motorradfahrer gestürzt. Darüber gibt es eine kurze Meldung der Polizei, die von eifrigen LeserInnen sofort auf Facebook gestellt wird, quasi Ausgangsmaterial für die ersehnte Entrüstung.
Dem Motorradfahrer wird vorgeworfen, dass er zu schnell war. Auf die Entgegnung, dass dies reine Spekulation sei, entgegnet die Behaupterin, dass sie in der Nähe wohnt und daher weiß, dass die Motorradfahrer dort immer aufgrund zu hoher Geschwindigkeit stürzen.
Das ist bei genauer Betrachtung Nonsens, denn das kann sie weder sehen noch wissen. Es gibt viele Gründe weshalb man stürzen kann: ein Ölfleck, Rollsplit, eine Reifenpanne, ein Motorschaden (Kolbenreiber), eine Nötigung etc.
Gespickt wird nun mit der Behauptung, dass es sich um einen „Ausflug“ gehandelt hätte. Auch das wird einfach hingeschrieben, obwohl es reine Spekulation ist. Der Zweck der Fahrt könnte auch ein Pflegedienst sein oder ein Einkauf. Oder sonst irgend etwas, von dem wir nichts wissen.

Wenn man die Behauptung als haltlos aufdeckt, wird man sofort attackiert, meist von mehreren Vernaderern. Sie sind nur im Kollektiv stark, sobald sich eine Mehrheit gegen sie wendet, verschwinden sie dort, wo sie hergekommen sind. Meist gibt es noch ein Rückzugsgeheule.
Sie sind nicht an Fakten interessiert, die gegen ihre Ansichten, Wünsche oder Behauptungen sind. Diese werden entweder ignoriert oder als unwahr eingestuft.

Um dieses Phänomen irgendwie fassen zu können, müssen wir zwei Ebenen trennen: Die individuelle und die gruppendynamische.

Auf der individuellen Ebene geht es um die Person, die Persönlichkeit, wenn man so will, um den Charakter.
Freude empfindet der Vernaderer nur, wenn andere leiden, sich kränken, einen erkennbaren Schaden haben, bestraft oder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, es ihnen zumindest irgendwie schlecht geht.
Das freut den Vernaderer, er drückt Genugtuung aus und sieht sich in seinem Tun bestärkt. „Die Hexe muss brennen“ ist sein Leitspruch, wobei das Wort „brennen“ heute wieder sehr gut passt und ein Ausdruck für „zahlen“ ist. Die genaue Bedeutung von „brennen“ ist immer eine unfreiwillige bzw. zu hohe Zahlung, also immer eine Art Bestrafung.

Wenn wir etwas tiefer in die Seele des Vernaderers blicken, finden wir dort einen einsamen Menschen – der allein vor seiner Fototapete sitzt, die für die Träume steht, die er sich nie erfüllen konnte bzw. deren Erfüllung schon so lange her ist, dass sie nicht mehr gilt.
Die Nähe, die er durch das Vernadern erhält, ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Vernaderer. Dort wird er für sein Tun gefeiert und erhält dadurch sozialen Lohn.
Wenn jemand durch sein Vernadern leidet oder bestraft wird, so kann er sich das auf seine Kappe heften. Er war es, der in anderen Menschen etwas ausgelöst hat. Das Motto könnte so lauten: Besser sie leiden durch mich, als ich habe gar keinen Einfluss auf sie.

Die zweite Ebene ist die der Gruppendynamik. In einer Gruppe (Dorfgemeinschaft, Jagdbande) sind die Menschen aufeinander angewiesen, das Verhalten des einen hat direkte Auswirkungen auf das Verhalten des anderen. Wenn jemand ausschert, kann das die Gruppe und ihr Überleben gefährden. Es muss also einen Mechanismus geben, der Abweichler wieder einfängt oder ausstößt, wenn sie nicht einzufangen sind. Der wichtigste Mechanismus ist der Gruppendruck, dem man sich – evolutionsbedingt – nur schwer widersetzen kann. Über den Großteil der Entwicklungsgeschichte des Menschen war Ausschluss aus der Gruppe, aus der Gemeinschaft quasi ein Todesurteil, da die Menschen alleine – also als Individuen – der lebensgefährlichen Umwelt schutzlos ausgeliefert waren.
Das hat uns so tief geprägt, dass Ausschlussdrohung Existenzängste hervorrufen kann.
Wichtig ist an dieser Stelle ein entscheidender Unterschied zwischen der archaischen Gruppe und ihrer Notwendigkeit mit Abweichlern zurecht zu kommen und der heutigen Situation einer modernen Gesellschaft. In der Gruppe steht die Gesamtgröße fest, jeder kennt jeden (und jede kennt jede) und man ist miteinander in ständiger Verbindung. Niemand ist anonym oder kann sich hinter der Anonymität verstecken, alle sind sichtbar, wenngleich es auch in dieser Zeit informelle Ordnungen gab und heimliche Intrigen. Eine Anklage wurde stets vom Dorfältesten oder einer anderen Autoritätsperson geprüft und so war der Mechanismus für alle verständlich.
In unserer heutigen Welt ist das anders. Hier fehlt das Korrektiv der Gruppe, eine Prüfung der Fakten ist nicht notwendig, um ein kollektives Urteil hervorzurufen.
Hier wäre die Autorität gefragt, in unserem Fall in Form der Bundesregierung, weil es ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Doch die ist überfordert, vor allem mit dem Grundwiderspruch Eines-Vieles.
Nachdem viele Jahrzehnte das Individuum als Stolz der Gesellschaft im Dienste der Konsumindustrie produziert und protegiert wurde, steht es auf einmal als Idiot da. Der Idiot ist übersetzt der „Vereinzelte“, also der, der sich nicht mehr in Gemeinschaft befindet. Er schaut daher auf sich und seine Bedürfnisse und befriedigt sie invididuell. Das ist für eine auf ewiges Wachstum ausgerichtete Konsumindustrie auch besonders wichtig, denn ihr erklärter Feind ist die Gemeinschaft. Wenn die Hausgemeinschaft eine gemeinsam zu nützende Bohrmaschine kauft, kann die Industrie nicht mehr jeder einzelnen der 12 Hausparteien eine verkaufen. Das sehen wir bei den meisten Konsumprodukten, speziell beim PKW, in dem durchschnittlich eine Person sitzt und 3-4 weitere Plätze durch die Gegend führt.

Der aktuelle Spruch der Bundesregierung „Schau auf dich – schau auf mich“ klingt auf den ersten Blick sehr nett und gemeinschaftlich und sozial und wird auch so gefeiert.
Wenn man die Kehrseite betrachtet, dann steht dort „Wenn du nicht auf dich schaust, dann schaust du auch nicht auf mich“. Von da ist es nur mehr ein winziger Schritt zum Vorwurf asozialen Verhaltens, wobei hier nicht unterschieden wird, ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht. Im Zweifelsfall wird Absicht unterstellt, gerne auch Dummheit, wie ein Spruch auf Facebook klar stellt: „Verbreitet das (die Regeln) weiter, damit auch die weniger Schlauen es verstehen.“
Dieser Satz trieft vor Arroganz und Verachtung für all diejenigen, die sich jenseits der Norm verhalten. Es ist übrigens genau dieses Verhalten, das erst Weiterentwicklung ermöglicht. Wenn alle Individuen einer Gesellschaft immer das gleiche tun, verändert sich gar nichts. Das hat aber auch zur Folge, dass die Resilienz stark sinkt. Der Genetiker Markus Hengstschläger beschreibt das mit einem Beispiel: Wenn in einem Biotop ein Bakterientyp angesiedelt ist und sich die Umweltbedingungen verändern – etwa durch Hinzufügen einer Chemikalie, dann sterben alle Bakterien, wenn alle Bakterien gleich sind. Wenn es aber „Abweichler“ gibt, überleben einige, weil sie genau gegen diese Chemikalie resistent sind.
Die Widerstandskraft einer Gesellschaft erhöht sich durch Biodiversität genauso wie die eines Waldes. Nur müssten wir hier von „Soziodiversität“ reden, also von Vielfalt innerhalb einer Gemeinschaft. Nur dann erhöht sich die Chance, dass die Gesellschaft bei einem Angriff von außen – etwa durch Klimawandel oder ein Virus – überlebt.

Die angesprochene Weiterentwicklung löst bei jedoch bei all den Menschen Angst aus, die nicht wollen, dass sich ihre Welt verändert, da sie von der derzeitigen Situation und Konstellation profitieren. Sie befinden sich in einer sozial privilegierten Stellung, die sich bei Veränderung möglicherweise verschlechtert, da man von ganz oben nur mehr hinunterfallen kann.
Für sie ist die Kontrolle darüber, dass alles so bleibt, wie es gerade ist, ist extrem wichtig. Das führt bis zur Kontrolle des eigenen Körpers, in der Coronakrise sehr gut gesteuert durch die Kontrolle des Atems mittels eines Nasen-Mund-Schutzes. Aber auch der Stoffwechsel generell bekommt eine neue Wichtigkeit, nicht ohne Grund wurden Klopapier und Nudeln gehamstert.

Fazit: Die Sache ist komplex. Wenn es zu viele Abweichler gibt, verliert die Gesellschaft den Zusammenhalt. Wenn es zu wenige gibt, verliert sie ihre Widerstandskraft. Vernaderer erfüllen somit eine wichtige Aufgabe, sofern sie nicht Oberhand bekommen und die notwendige Freiheit eliminiert wird. „Aufeinander schauen“ muss neben der Kontrolle auch die Fürsorge beinhalten. Zu dieser Fürsorge gehört auch, dass man die individuellen Bedürfnisse des anderen sieht und respektiert, auch wenn sie anders sind als die eigenen. Wenn der Egoismus als soziales Engagement auftritt, muss er enttarnt werden.
Die Demokratie lebt von der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft, von der Bewältigung des Widerspruchs Eines – Vieles. Deswegen ist es auch dringend notwendig Verordnungen von oben kritisch zu betrachten, auch wenn sie noch so notwendig erscheinen. Es ist viel bequemer zu gehorchen als Widerstand gegen etwas zu leisten, aber genau hier finden wir eine große Gefahr, nämlich den schleichenden Angriff auf die Demokratie. Hannah Arendt hat es pointiert ausgedrückt, als sie gemeint hat „Keiner hat das Recht zu gehorchen“. In einer Krise müssen schnelle, zentrale Entscheidungen getroffen werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sich den Anordnungen zu fügen, die aus diesen Entscheidungen entstehen, sollte jedoch nicht ohne Skepsis geschehen, nicht ohne Dialog, nicht ohne Transparenz zu fordern.
Sonst besteht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft nicht durch das (oder den – nicht einmal da ist man sich einig) Virus zerstört wird, sondern durch das schleichende Abrutschen in ein autoritäres System, letztlich in die Diktatur, wie wir es in Ungarn gerade erleben, erste Reihe fußfrei.

Würde Ernst Hinterberger noch leben, er hätte sicher den richtigen Spruch für uns auf Lager. Irgendwas mit „ollas Unnötige“ oder so. Ein bisschen von seinem Geist der Unzufriedenheit können wir heute durchaus brauchen.