Sinn und Unsinn eines Waffenverbots

Ein heißes Thema, hat doch vor ein paar Tagen ein 21-jähriger Mann knapp ein Dutzend Menschen an einer Schule in Graz erschossen.
Viele Medien berichteten von einer „Tragödie“ und hier liegt bereits der erste, schwere Fehler vor, denn das war keine Tragödie.
Um eine solche handelt es sich, wenn aus einer Verkettung diverser Umstände ein Unheil zustande kommt. Jemandem fällt auf der Straße von oben ein Blumentopf auf den Kopf, der sich durch einen Windstoß gelöst hat.
Einem LKW platzt ein Reifen und das entgegenkommende Auto mit der Familie auf Urlaubsfahrt wird zerstört, die Familie kommt dabei um.
Das sind Tragödien.

Im Falle von Graz handelt es sich um einen geplanten und durchgeführten Mord an vielen Menschen. Das ist schlicht und einfach etwas anderes. Dieses Verbrechen wird untersucht und es wird auch viele, wahrscheinlich auch verschiedene Erklärungen dafür geben. Eine davon hat die Zeitschrift „Falter“ parat: Der Mörder hatte die Tat genau geplant, sein Vorbild war das „School-Shooting“ in Columbine in den USA 1999. (Mir ist das noch gut in Erinnerung, auch durch den Film „Bowling for Columbine“ von Michael Moore.) Die Tat wird als erweiterter Suizid beschrieben und der Täter von Graz war in den einschlägigen Internet-Gruppen aktiv.

Abseits aller Interpretationen tauchen aber zwei Fragen auf:

1.) Welche Rahmenbedingungen müssen geändert werden, damit es in Zukunft gar nicht dazu kommt?
2.) Sind die Verantwortlichen bereit, die Verantwortung über die notwendigen Maßnahmen zu übernehmen?

Weil in Österreich (und nicht nur hier) schon seit Jahrzehnten über solche Maßnahmen diskutiert wird, braucht es keine neue Diskussion darüber, was genau getan werden muss. Es braucht Entscheidungen und danach eine brauchbare, eine wirkungsvolle Umsetzung.
Dafür braucht es keine wie auch immer geartete Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, denn diese haben ihr Sicherheitsmanagement durch das System der repräsentativen Demokratie an die entsprechenden Institutionen delegiert, die jetzt gefälligst ihren Allerwertesten in Bewegung setzen sollten, um endlich zu handeln.

Kommen wir zu den Rahmenbedingungen, von denen ich deswegen schreibe, weil nur sie sinnvoll verändert werden können.
Damit meine ich erstens das Bildungssystem, zweitens die gesellschaftliche Ordnung und drittens das Waffengesetz.

1.) Das Bildungssystem

Die Modelle liegen klar vor, sie sind den Verantwortlichen bekannt und könnten schnell umgesetzt werden. Dass es dafür ein paar Entscheidungen braucht, ist klar.
Es geht dabei in erster Linie um die Schaffung eines Systems, das möglichst wenig Außenseiter produziert. Damit gäbe es deutlich weniger junge Menschen, die aus dem leistungsorientierten, mit der 50-Minuten-Einheit gänzlich veralteten Unterrichtssystem hinausfallen.
Der Amokläufer von Graz war so einer, der niemandem wirklich aufgefallen ist und wenn, dann wurde dem keine Bedeutung zugemessen – wie etwa die Einstufung der Stellungskommission.
Aber auch die Schule hat ihn nicht aufgefangen, sondern ausgestoßen. Zum Auffangen fehlen die systemischen Voraussetzungen, letztlich sogar das Interesse der zuständigen Behörden an solchen Personen. Die Schulen tun hier meist ihr Möglichstes, das sichtlich nicht genug ist.
In Gaza werden seit Jahrzehnten junge Terroristen, radikale Moslems und verzweifelte Jugendliche ohne Perspektive produziert. Oft in der Form, dass alle drei Eigenschaften zusammenkommen.
Das dortige Bildungssystem sieht die Radikalisierung im Lehrplan geradezu vor, wie etwa den tiefen, bei diesen Menschen erst erzeugten und dann gut gepflegten Hass auf Israel und alles, was von dort kommt.

Bei uns sieht das zwar etwas anders aus, die Grundstruktur ist aber gleich. Auch hier verlangt das System nach Unterordnung unter eine bestimmte Ideologie, auch hier werden die Kinder und Jugendlichen radikalisiert, und zwar nicht zum Islam, sondern zum Kapitalismus. Der Gott heißt Geld und er will genauso oft angebetet werden wie Allah.
Statt sich auf einem Gebetsteppich nach Mekka zu wenden, sollen sich die Menschen mit ihrem Geldbörsl in einen Konsumtempel begeben und dort beten in Form von kaufen.

Dadurch werden Menschen erzeugt, die ihr Glück nur mehr (oder fast nur mehr, es betrifft ja nicht alle und nicht alle gleich stark) im Kaufrausch finden oder zu finden glauben.
Nach dem Rausch folgt immer die Ernüchterung und in manchen Fällen die Askese, der Konsumrausch gleicht aber sehr präzise anderen rauschartigen Suchtzuständen.

Der Wechsel im Bildungssystem würde auf einer Hinterfragung dieses Glücksbegriffs aufbauen und alternative Glücksbegriffe zur Verfügung stellen. Das könnten etwa funktionierende Sozialgemeinschaften sein, aber auch individuelle Strategien, wie man sich in unserer Welt besser zurechtfinden kann.
Hätte so etwas den Amoktäter von Graz aufgehalten? Die Antwort darauf werden wir nie finden, weil sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt und der junge Mann tot ist.

Wenn wir uns allerdings die Defizite ansehen, die sich in der Biographie solcher Amokläufer finden, können wir die Frage durchaus mit „Ja“ beantworten. Sie sind stets einsam, haben keine funktionierenden Sozialbeziehungen wie etwa Freundeskreise oder familiären Halt.
Sie haben aber auch keine alternativen Strategien, wie sie trotzdem mit solchen Lebenssituationen umgehen können.
Sie wissen nicht, wie man zur notwendigen Gelassenheit kommt oder das eigene Tun reflektiert.
Sie wissen nicht, wie man das notwendige Selbstbewusstsein aus dem eigenen Sein heraus definiert und erlebt.
Sie wissen nicht, wie man erkennen kann, wenn man selbst Hilfe braucht und wie man diese findet und anspricht.
(Diese Liste kann jederzeit entsprechend erweitert werden.)

Daher kippen sie in selbst konstruierte Ersatzrealitäten, aus denen Ersatzwelten entstehen. Diese sind mit der echten Realität nicht kompatibel und korrespondieren auch nicht damit. Sie eröffnen einen fiktiven Raum, in dem diese Menschen sich mächtig fühlen in ihrer Ohnmacht, in dem sie endlich handlungsfähig sind.
Die allseits beliebten Videospiele sind vielleicht nicht der Auslöser für Wahnsinnstaten, sicher aber Teil des Substrats, in dem diese entstehen.

Wenn sie die Fiktionen aus ihrer fiktiven Welt dann mit der realen Welt konfrontieren, kommt es zum Bruch, der sie endgültig in eine Welt holt, in der sie nicht leben können. Daher flüchten sie meist durch Selbstmord, wie auch im Grazer Fall.

Mir geht es hier aber nicht um eine Vorlesung in Kriminalpsychologie, sondern um die Analyse der Schwachstellen einer Gesellschaft.

In einem neuen Bildungssystem gäbe es ein Fach namens Sozialkunde, in dem Gesellschaft und ihre Ausprägungsformen zur Debatte stehen würden. Ergänzt würde dieses Fach durch das ohnehin schon lange diskutierte Fach Ethik.
Es gäbe in so einem System aber auch verstärktes Augenmerk auf eine Gemeinwohlbildung, die gegen die Vereinzelung kämpft. Es gäbe Netzwerke, in denen Außenseiter hängen bleiben bevor sie sich selbst aus der Gesellschaft ausschließen und dann oft Suizid begehen.
Es wäre ein System, in dem Primär- und Sekundärsozialisation enger aufeinander abgestimmt wären, also Eltern und Schule intensiver kooperieren.
Von so einem Bildungssystem würden alle profitieren, nicht nur die beschriebenen Außenseiter.
Warum es derzeit nicht zur Debatte steht, sollte Teil einer wichtigen Debatte sein.

2.) Die gesellschaftliche Ordnung

Das Bildungssystem alleine reicht nicht, wir müssen auf mehreren Ebenen anpacken. Auf der sozialen Ebene braucht es ein dichtes, aber gut durchdachtes System, das Kinder und Jugendliche auffängt.
Das fängt bei guten Dorf- und Grätzlgemeinschaften an und hört bei Gemeinschaftsgärten noch lange nicht auf.
Leider ist das ein zweischneidiges Schwert: Ich will auf der einen Seite den Menschen so viel persönliche Freiheit geben, dass ich sie nicht ständig überwache. Damit ist es in einer Gesellschaft auch möglich Außenseiter zu sein, ohne ständig dafür am Pranger zu stehen. Wenn das jedoch ausartet, tauchen Phänomene auf wie wir sie in Großstädten und der dortigen Anonymität finden: Menschen, die erst nach Wochen gefunden werden, weil es aus der Wohnung stinkt. Menschen, die niemandem abgegangen sind, deren Tod oft nur durch Zufall auffällt.
Das Netz ist weitmaschig und lässt viele Menschen durchrutschen. So sehr das individuelle Freiheit bedeutet, so sehr begünstigt es aber auch Entwicklungen wie die des jungen Mannes in Graz. Dazu kommt noch die vollkommene Unkontrolliertheit des Internets, in dem mehr oder weniger alles möglich ist. Staatsschutz und Polizei bemühen sich zwar nach besten Kräften, ihnen sind aber aufgrund des Datenschutzes und anderer Hürden nur allzu oft die Hände gebunden.
Ein weiterer Bestandteil des teuflischen Cocktails sind die modernen Familien- und Beziehungsformen. So frei sie auch machen, so dunkel sind ihre Kehrseiten. Auch der Attentäter von Graz wuchs scheinbar ohne Vater auf und so wirklich dürfte sich niemand um ihn gekümmert haben.
Die derzeit wirkenden und sich verstärkenden Kräfte der sozialen Differenzierung in immer reichere und immer ärmere Menschen müssten gestoppt werden, etwa damit Eltern nicht gezwungen sind aus finanzieller Not die Erziehung ihrer Kinder hintanstellen zu müssen.

Auch hier stehen wir vor der Situation, dass es die notwendigen Entwürfe längst gibt, dass sich die zuständigen Politiker aber nicht trauen entsprechende Handlungen zu setzen, sofern sie nicht ohnehin eine andere Agenda haben.
Die Freiheit, die so vehement an jeder Ecke gefordert wird und inzwischen zu einem ziemlich inhaltsleeren Schlagwort verkommen ist, in das jeder seine eigenen Interessen hineinpackt, diese Freiheit zeigt uns gerne ihre weniger schöne Seite, nämlich die Rechnung in Form der Verringerung sozialer Sicherheit.
Das führt uns zum nächsten Punkt.

3.) Die dringend notwendige Reform des Waffengesetzes.

Das Problem liegt hier in den aktuellen Narrativen, die sehr stark von denen der USA geprägt sind. Das darf uns nicht verwundern, schließlich lesen wir sein unserer Kindheit Karl May und versuchen derzeit möglichst viel von der US-amerikanischen Kultur zu übernehmen, von Halloween bis American Football, von Burger bis zu zerrissenen Jeans (dazu mehr in einem anderen Blog).
Ein Teil davon ist der Umgang mit Waffen.

Niemand würde es einfallen einen Panzer oder ein U-Boot im Vorgarten zu parken, um im Notfall zur Verteidigung bereit zu sein.
Gegen wen und was eigentlich?
Das ist die entscheidende Frage. Die Geschichte, die hier von der NRA (National Riffle Association) erzählt wird, ist folgende:

„Freie Menschen müssen sich jederzeit gegen böse Menschen verteidigen können. Dazu brauchen sie Schusswaffen, etwa um sich gegen Einbrecher zu verteidigen, die sie und ihre Familie bedrohen.
Außerdem müssen sie sich im Falle eines Putsches mit der eigenen Waffe verteidigen können, das ist ein wichtiges demokratisches Grundprinzip, um sich gegen Feinde des Systems behaupten zu können.“

Will man in der Geschichte was weiterbringen, muss man diese Narrative ernst nehmen, analysieren und hinterfragen.
Die Erzeuger und Verbreiter dieser Geschichte wollen das natürlich um jeden Preis verhindern, denn dabei geht es um sehr viel Geld. Wirklich sehr, sehr viel.

Die beste Verteidigung des eigenen Lebens besteht darin, keine Angreifer zu erzeugen. Aber genau das macht unsere Gesellschaft. Einbrecher und Räuber sind nicht als solche geboren, sondern von der Gesellschaft erzeugt worden.
Mit anderen Worten: Jeder böse Mensch hat eine Mutter, die ihn liebt. Wenn dem nicht so ist, dann hat die Gesellschaft dafür gesorgt, dass dem nicht so ist.
Und dann kann sie auch für das Gegenteil sorgen, wenn sie es will.

Derzeit produziert unsere Gesellschaft Individuen, die aus den Auffangnetzen hinausfallen in die Leere, die sie wild um sich schlagen lässt, bis sie alles angreifen, was sie angreifen können, nur um etwas zu spüren, um etwas angreifen zu können.
Dieses Hinausfallen passiert etwa durch das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich – ein erklärtes Ziel des Kapitalismus. Das Trickle-Down-Prinzip, das dem widersprechen soll, wirkt bei genauer Betrachtung als Verhöhnung.
Die Schaffung und Begünstigung von Eliten auf der einen sowie die Erzeugung von gesellschaftlichem Abfall auf der anderen Seite ist kein Zufall, sondern Teil des derzeitigen neolibertären Systems und seiner Hegemonie, gegen die schwer angekämpft werden kann.

Die zufriedenste Gesellschaft gab es in der Nachkriegszeit, wo es nur sehr wenige Reiche gab und dadurch auch nur sehr wenige Arme – das eine definiert sich immer über das andere.

Ein entsprechendes Waffengesetz wird also nur gebraucht, wenn davor schon viele Ebenen versagt haben. Dann allerdings ist es notwendig.

Bleiben wir noch kurz beim Narrativ, das besagt, dass Menschen sich verteidigen können sollen. Gemeint ist damit interessanterweise immer das Verteidigen mit einer Schusswaffe, obwohl etwas anderes (eine gute Kampfsporttechnik etwa) wesentlich wirkungsvoller wäre.
Warum also Schusswaffen?
Das wird gerne mit der Notwendigkeit und Richtigkeit und Wahrheit von Tradition argumentiert.
Und so etwas ist immer zu hinterfragen, denn meistens stecken dahinter handfeste Interessen von bestimmten Menschen, in diesem Fall von der Waffenlobby der USA, die an jedem Opfer eines Amoklaufs Millionen verdienen, weil sich Menschen aus Angst heraus noch mehr Waffen kaufen. Da knallen nach jedem School-Shooting die Champagnerkorken in den Vorstandsetagen.

Aber was steckt hinter der behaupteten Wirksamkeit von Selbstverteidigung durch Schusswaffen?
Das nahezu immer sofort angeführte und eigentlich auch einzige Beispiel ist der Einbruch, gegen den man sich mit einer Schusswaffe wehren kann.
Dabei wird das Bild eines Einbrechers gezeichnet, der – meist in der Nacht – in ein Einfamilienhaus einsteigt und nicht nur leise und heimlich die Wertgegenstände stiehlt, sondern auch die eigene Familie bedroht.
Also hat der Familienvater als Oberhaupt und Beschützer das Recht und die Notwendigkeit sich gegen so einen Bösewicht zu verteidigen. Er zieht die Waffe und verjagt den Einbrecher. Sollte das nicht funktionieren, schießt er ihn nieder – selbstverständlich nur, um seine Familie zu verteidigen, die durch die Anwesenheit des Einbrechers quasi automatisch gefährdet ist.

Sieht man genauer hin, bricht diese Geschichte sehr schnell in sich zusammen. Sehen wir uns die Details einmal an.
Die Situation ist eine, die bei allen Beteiligten sehr viel Stress verursacht. Der Mann liegt im Bett und hört, wie jemand ins Haus einsteigt. Wenn er es nicht hört, passiert weiter nichts, außer dass etwas Schmuck oder Bargeld gestohlen wird.
Wenn er es hört, muss er handeln. Dazu steht er auf und geht zum Waffenschrank, der sich idealerweise im elterlichen Schlafzimmer befindet. Diesen muss er erst aufsperren und kann hoffen, dass er den Schlüssel findet, der ja nicht direkt daneben sein kann, weil die Waffen sonst nicht gut gesichert sind und von den Kindern missbraucht werden können – diese Beispiele gibt es gerade in den USA immer wieder, wenn ein Fünfjähriger seine dreijährige Schwester erschießt.
Er muss den Schlüssel also erst irgendwo im Haus organisieren und dabei kann er dem Einbrecher begegnen, der ja weiß, dass sich Menschen im Haus befinden und entsprechend hellhörig ist.
Wenn er dem Einbrecher begegnet, muss er diesen davon überzeugen, dass er ihm genügend Zeit gibt, um sich seine Waffe zu holen.
Das wird wohl schwierig.
Wenn er es schafft den Schlüssel zu holen, muss er lautlos und ohne Licht (das würde der Einbrecher ja sofort bemerken) die Waffe herausholen und ebenfalls ohne Licht und lautlos laden. Sofern sich die Munition auch im Waffenschrank befindet, was ja nicht ungefährlich ist.
Dann muss er noch seinen enorm hohen Adrenalinspiegel in den Griff bekommen. Schließlich passiert so etwas ja nicht jeden Tag und nahezu niemand ist auf so eine Situation geschult, vom regelmäßigen Training ganz zu schweigen.
Es gibt ja einen Grund, warum Profis (Polizei, Militär) regelmäßig trainieren und sich auf emotionale Extremsituationen akribisch vorbereiten – mit den bekannten Misserfolgen, aber immerhin.
So ein Training hat aber fast niemand von den Millionen Waffenbesitzern in den USA und bei uns auch nicht.
Also muss der Mann (es könnte auch die Frau sein, aber in der Geschichte ist es immer der Mann, schließlich handelt es sich um die Normfamilie mit entsprechender Klischeeordnung) es irgendwie schaffen, kaltblütig den Einbrecher zu finden und zu stellen, das alles in entsprechender Dunkelheit.
Mit viel Glück gibt der Einbrecher auf, weil er die Waffe sieht und selbst keine hat. Oder er hat auch eine und dann kommt ein Duell, bei dem der Ausgang eher ungewiss ist. Dann muss der Mann den Einbrecher (oder auch mehrere) mit gut gezielten Schüssen niederstrecken.

Die Forschung zeigt, dass es dieses Szenario so gut wie nie gibt. Das lässt sich auch bei uns einfach überprüfen: Kennen Sie jemand, dem so etwas widerfahren ist? Nur einen einzigen Fall?
Schließlich gibt es in Österreich weit mehr als eine Million Schusswaffen und es wird auch genügend eingebrochen. (Derzeit gibt es in Österreich ca. 1,5 Mio Waffen, zumindest offiziell. Tendenz stark steigend.)

Die Forschung zeigt auch, dass bei Einbrüchen mehr oder weniger immer ganz andere Dinge geschehen, etwa wenn Menschen die Waffen griffbereit unterm Kopfpolster haben und in der Hektik und Aufregung sich selbst oder die Partnerin oder die Kinder erschießen.
Meist wird in der Panik einfach in die Nacht hineingeballert. Dass dabei durch Zufall genau der Einbrecher (oder mehrere) getroffen wird, ist unwahrscheinlich und kommt statistisch gesehen auch fast nie vor.
Oft nimmt auch der Einbrecher dem Mann die Waffe ab – er selbst hat auch den USA meist keine dabei – und erschießt dann den Mann oder die Familie oder beide.

Gerne wird an dieser Stelle auf einen Nebenschauplatz ausgewichen und behauptet, allein das Gefühl, eine Waffe zur Selbstverteidigung daheim zu haben, wäre schon die Lösung.
Aber hier dürfen wir fragen: Wofür?
Wäre nicht zur Bewältigung der eigenen Angst eine Psychotherapie gescheiter? Dass die Menschen, bei denen oft ein ganzes Waffenarsenal gefunden wird, eine solche dringend brauchen würden, ist offensichtlich.

Wenn auch das nichts hilft, weichen die Befürworter von privatem Waffenbesitz gerne auf die Sammlerleidenschaft aus. Die Menschen wollen ja niemand erschießen, sie sammeln nur einfach gerne Waffen. Vielleicht ein seltsames Hobby, aber freie Menschen dürfen sich in einer freien Gesellschaft freie Hobbies aussuchen, oder?
An dieser Stelle wird gerne ein etwas seltsamer Freiheitsbegriff strapaziert, denn was ist mit der Freiheit der Opfer von Graz, etwa mit ihrem Recht auf Leben und Unversehrtheit?
Sind die einfach Kollateralschäden des Freiheitsbegriffs? Müssen sie sterben, damit sich Sammler nicht einschränken müssen und sammeln dürfen, was auch immer sie gerade wollen?
Ist das nicht ein bissi pervers?

Werner Kogler von den österreichischen Grünen fordert daher „Freiheit von Waffen“, also die Freiheit, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, die nicht durch Waffen bzw. ihre Besitzer bedroht ist.

Wann hat eigentlich das letzte Mal eine Frau in einer Schule ein Schusswaffenmassaker angerichtet?
Fällt Ihnen auch kein Fall ein? Es gibt sie übrigens, aber extrem selten.
Hat das möglicherweise eine Bedeutung oder ist es nur statistischer Zufall und demnächst kippt der Zufall in die andere Richtung und es laufen nur mehr Frauen Amok?
Oder geht es hier um einen pervertierten Männlichkeitsbegriff?

Eine der Lieblingswaffen von Waffenliebhabern ist die Pumpgun. Wenn man sieht, wie Männer diese wie einen riesigen, super hart eregierten Penis in den Händen halten und jeder Ladevorgang wie überdimensioniertes Masturbieren aussieht, liegt der eine oder andere Verdacht nahe, dass es da doch noch um etwas ganz anderes geht als um Selbstverteidigung gegen Einbrecher.
Schon in meiner Militärzeit fand ich es immer als eine Mischung von lustig und seltsam, wenn wir auf Befehl („Habt acht!“) den ganzen Körper steif werden lassen mussten und dann das Gewehr präsentieren mussten („Prä-sen-tiert das Gee-wehr!“).

Ist das alles reiner Zufall? Das zu glauben fällt mir sehr schwer. Schusswaffen dürften wohl doch eine Kompensation für fehlende Männlichkeit sein, ähnlich wie riesige und/oder starke Autos. („Einst drückte ihn der forsche Pimmel – heut hat er einen Porsche-Fimmel.“)

Warum das so ist, kann in der entsprechenden Fachliteratur nachgelesen werden. Hier und jetzt ist wichtig, was wir tun können.
Ist ein Waffenverbot die Lösung des Problems? Und wie will man ca. 1,5 Millionen Waffen aus dem Verkehr ziehen?
Es ist klar, dass das nicht so einfach und gar nicht schnell geht. Wir werden keine gänzlich waffenfreie Gesellschaft herbeizaubern können, selbst wenn wir es wirklich wollen.
Also müssen wir an Stellschrauben drehen und hoffen, dass es die richtigen sind. Aus der Kriminologie ist bekannt, dass sich die Anzahl der Morde mittels Schusswaffen reduzieren lässt, wenn man den Zugang erschwert.
In Österreich ist dieser Zugang derzeit ausgesprochen einfach: Ein paar einfache Fragen beantworten, ein paar Tage warten und schon kann man sich seine Pistole abholen – oder auch zehn davon.
Gewehre sowie Schrotflinten bekommt man überhaupt wie einen Laib Brot im nächsten Waffengeschäft, sofern man 18 Jahre alt ist.

Natürlich müssten sich bei einem Schusswaffenverbot für Privatpersonen die Bösewichte ihre Waffen am Schwarzmarkt organisieren, aber wer hat dazu schon Zugang? Ich z.B. nicht.
Die echten Wahnsinnigen wird das nicht abhalten, aber viele andere wohl schon.
Als Folge von Graz wird derzeit diskutiert die Altersgrenze für gefährlichere Waffen (Kategorie B) von 21 auf 25 Jahre anzuheben und die psychologischen Tests zu verschärfen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das viel hilft, aber immerhin, es wird wenigstens nicht gar nichts getan.
Und man möchte Schulen zu Sicherheitszonen machen: Bewaffnete Sicherheitskräfte, der nächste Schritt sind dann hohe Mauern mit Stacheldraht, eventuell noch Panic-Rooms und ähnliches.
Wie so oft nähern wir uns den USA-Zuständen an. Dort wurde vorgeschlagen, die Lehrerinnen und Lehrer entsprechend schwer zu bewaffnen, so dass sie im Falle eines Amoklaufs zurückschießen können.

Das sind wohl keine guten Ideen. Wer möchte sein Kind in der Früh in eine Schule gehen lassen, die wie ein Hochsicherheitsgefängnis aussieht? Wobei die meisten Kinder heute schon mit panzerartigen Fahrzeugen bis vor die Schultüre gefahren werden, weil der Schulweg aufgrund der vielen panzerartigen Fahrzeuge, mit denen die Kinder in die Schule gefahren werden, zu gefährlich geworden ist.

Wir leben in einer seltsamen Welt, in der der Wert der Bequemlichkeit gepaart mit diversen Ängsten zur treibenden Kraft wird.

Wenn wir uns dagegen wehren, ist die einzig sinnvolle Maßnahme das Verbot von privatem Waffenbesitz, selbstverständlich mit Ausnahmen. Jäger mit einer entsprechenden Ausbildung und gültigem Jagdschein dürfen Jagdwaffen besitzen und natürlich auch transportieren und verwenden.
Sportschützen dürfen Waffen besitzen, die sich für das Sportschießen eignen. Diese sollten allerdings gut verwahrt im Schützenverein bleiben bzw. an der Schießstätte.
Und Menschen, denen die Ästhetik von Waffen gefällt und die diese daher sammeln, sollen das natürlich auch dürfen. Allerdings müssten die Waffen dann für das Schießen unbrauchbar gemacht werden. Dafür sind sie ja ohnehin nicht da und das beeinträchtigt weder Ästhetik noch Haptik.

Das würde die Waffenindustrie natürlich nicht toll finden, die ist aber auch nicht zuständig für das Leid der Menschen, an dem sie kräftig mitwirken. Da geht es ausschließlich um Gewinne bzw. deren Maximierung. Die Industrie hat generell keine Verantwortung für solche Themen, sie haben in unserem Wirtschaftssystem nur Rechte, aber keine Pflichten. Es ist diesen Unternehmen somit auch kein Vorwurf zu machen, denn selbst auferlegte Moral ist in der kapitalistischen Wirtschaft kein Kriterium.
Die Psychopathen dieser Welt finden ein Waffenverbot übrigens auch nicht super, wir sollten aber keine politischen Entscheidungen treffen, die deren Krankheiten fördern bzw. ausleben lassen.

Parkhaus statt Wald – die Schade von Melk

PARKHAUS STATT WALD – DIE SCHANDE VON MELK

Diese Geschichte entstand aus der Empörung über eine Entwicklung, die ich zutiefst verabscheue und mich daher aufrege. Sollte ich über etwas falsch informiert sein, dann tut mir das leid und bitte um entsprechende Hinweise, damit ich korrigieren kann.

Vorweg: Erstaunen darf einen das nicht, schließlich befinden wir uns in Niederösterreich und dort wird seit Jahrzehnten eine sehr klare Verkehrspolitik gefahren: Weg vom öffentlichen Verkehr, hin zum privaten PKW.
Das hat bisher auch hervorragend funktioniert, man hat auf allen Ebenen ganze Arbeit geleistet: Bahnlinien wurden stillgelegt, Busverbindungen ausgedünnt, dafür wurden Straßen und Kreisverkehre ausgebaut.
Diese Verkehrspolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts passt zwar überhaupt nicht mehr ins 21. Jahrhundert, das stört aber weder die niederösterreichische Bevölkerung noch deren politische Vertretung. In anderen Bundesländern ist es übrigens nicht viel anders, Niederösterreich sticht nur noch ein wenig hervor.

Das hat Auswirkungen auf vielen Ebenen und ich möchte das anhand eines Beispiels erklären.
In der Kleinstadt Melk gibt es nicht nur ein riesiges Stift, das seine Macht nicht nur optisch ausübt, sondern auch eine Politik, die erstaunliche Entscheidungen trifft.
Mitten im Zentrum gibt es ein Grundstück mit einem alten, nicht mehr bewohnten Haus plus einen verwilderten Garten. Dort wuchert und gedeiht es, letztlich ist so etwas wie ein kleiner Wald gewachsen.

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Bild: Links angeschnitten sieht man das Dach des alten, leer stehenden Hauses. Daneben und dahinter wuchert der Garten, der auch seit Jahren sich selbst überlassen ist. Das hohe Haus dahinter ist ein Amtshaus.

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Bild: Hier ist das alte Haus im Bild, dahinter der bereits existierende Parkplatz und dahinter die hohen Wohnhäuser. Die Anhöhe links oben hinten im Bild ist bereits Teil des Stift Melk.

Wie man dies bewertet, hängt von der Perspektive ab. Es ist entweder ein Kleinod oder ein Schandfleck.
Dahinter steckt die Frage, ob man an den Klimawandel glaubt oder nicht. Das ist nämlich die Basis für die Entscheidung, was mit diesem Grundstück passieren soll.
Sehen wir uns die Positionen an.

1.) Gerade in Zeiten der Klimakrise sind kleine, grüne Inseln inmitten von dicht verbautem Gebiet extrem wertvoll und müssen erhalten werden. Dort ist Rückzugsort für eine Vielzahl an Tieren, die Bäume und Sträucher sorgen für ein Mikroklima, besonders für Abkühlung an den immer zahlreicheren superheißen Sommertagen. Je weniger man dort tut, desto besser kann es sich entwickeln.

2.) So ein Grundstück im Zentrum ist ökonomisch wertvoll und muss daher bestmöglich verwertet werden. Weder das alte Haus noch der Garten bringen Geld, daher müssen sie so schnell wie möglich geschliffen werden. Die Wirtschaft in Melk, aber auch die Anrainer brauchen zusätzliche Parkmöglichkeiten, um in die Stadt kommen zu können. Es gibt zwar gleich daneben einen Busbahnhof und den Bahnhof, aber die meisten Menschen wollen mit dem eigenen PKW überall hinfahren können und müssen daher auch überall Parkmöglichkeiten haben.

Es ist nicht schwer zu erraten, welche Position in Melk gewinnt. „Österreich ist DAS Autoland“ hat der ehemalige Bundeskanzler Nehammer betont und der ist aus Niederösterreich und somit aus der ÖVP, quasi DER Autofahrerpartei schlechthin.

Somit wird in Melk ein Parkhaus gebaut, wo jetzt noch Bäume wachsen. Dass Österreich das Land mit dem höchsten Bodenversiegelungsgrad ist, muss man in Niederösterreich ja nicht so ernst nehmen. Dass die Menschen rundherum aus ihren Wohnungen in Zukunft statt in einen Grünen Wald auf Blechkisten in einem Betonbunker schauen, hat für ihre Lebensqualität scheinbar weniger Auswirkungen als die Aufgabe von ein wenig Bequemlichkeit in Form eines Parkplatzes vor der Haustüre. Vielleicht finden sie es auch einfach schöner.
Schließlich sind wir in Niederösterreich.

Zerrissene Jeans

ZERRISSENE JEANS

Beobachtungen sind fein, aber wertlos, wenn daraus keine Schlüsse gezogen werden können. Sie zeigen auch immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit und haben dräuend im Hintergrund die Frage nach der Wahrheit hängen.
Fred Sinowatz hätte wohl gesagt „es ist alles so kompliziert“ und selbst bei dieser Aussage ist nicht sicher, ob er sie seinerzeit als österr. Bundeskanzler genauso gesagt hat.

Als Udo Jürgens vor vielen Jahren gesungen hat, dass er noch nie mit „zerrissnen Jeans“ durch San Franzisko gegangen ist, meinte er das Gegenteil von dem, was wir heute sehen. Die kaputten Hosen standen als Zeichen für Menschen, die a.) wenig Geld hatten, dafür b.) Freiheitsliebe und daraus resultierend c.) möglichst viel der Welt bereisten.
Dazu war San Franzisko zu dieser Zeit eine Stadt der Hippies, also der Blumenkinder, die gegen das Establishment in den USA kämpften und daher lange Haare als Protest gegen die Ordnung in Form eines akkuraten, braven Kurzhaar-Unterordnungsschnitts trugen.
Ich selbst habe das noch erlebt in meiner Zeit als Grundwehrdiener beim österr. Bundesheer. Damals hatte ich noch eine Menge Haare am Kopf und vorne eine lange Strähne.
Das war nicht erlaubt, Soldaten mussten als Zeichen der Unterordnung unter eine hierarchische Ordnung die Haare kurz tragen, da gab es genaue Vorschriften. Disziplin war gefragt und wild herumflatternde Haare waren undiszipliniert.
Also wurde ich vom Hauptmann zu einem Haarschnitt verurteilt und als Strafe zu einem Wochenenddienst.
Das war immer eine bittere Strafe, weil es an jedem Wochenende Parties jeder Art gab und ich da nicht dabei sein konnte. Auch an dem Freitag, an dem ich die Strafe bekam und am Abend noch raus durfte, fand so eine Party statt. Weil ich keine Chance mehr auf einen Friseurbesuch hatte, beschlossen meine Freunde spontan mir die Haare auf der Party zu schneiden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich in eine Badewanne setzte und leicht alkoholisierte Freunde an meinen Haaren herumschnippelten.
Dann waren sie kurz, sahen aber schrecklich aus.
Das wiederum brachte mir bei der nächsten Haarkontrolle einen weiteren Wochenenddienst wegen „Selbstverstümmelung“ ein. Das war auch verboten.

Mein Respekt vor dem Bundesheer rasselte ins Bodenlose und hat sich bis heute nur teilweise erholt. Lange Haare haben sich aber wenige Jahre später aufgrund erblich bedingter Glatzenneigung ohnehin erledigt.

Kommen wir zu den Jeans zurück. Sie haben, seitdem sie Modehosen sind, stets eine symbolische Aufladung: Ursprünglich Arbeiterhosen aus dem robusten „Denim“-Baumwollstoff, mit Nieten als Schutz vor dem Zerreißen, eroberten sie die Welt im Sturm und wurden bald überall getragen. Wobei das nicht ganz stimmt, in erster Linie gab es sie in der westlichen, von den USA massiv beeinflussten Konsumwelt. Sie veränderten sich, als sie zu Modeobjekten wurden. Die Schnitte folgten der Mode, es gab sie als Schlaghosen, als hautenge Röhrljeans, als Jogging-Jeans und in der DDR als schrecklich geschnittene Ostblockjeans.
Und es gab noch eine weitere Entwicklung, die uns dem ursprünglichen Thema näher bringen. In den 1980er-Jahren gab es immer häufiger Jeans, die in der Fabrik auf „gebraucht“ getrimmt wurden, das nannte man „stonewashed“, weil man sie mit Steinen zerrieb, um sie so aussehen zu lassen, als wären sie über viele Jahre von Arbeitern bei ihrer Arbeit getragen worden.
Auch die normalen Jeans sahen nach einigen Jahren so aus, dafür musste man sie aber sehr oft tragen und tatsächlich Strapazen aussetzen.
Solchen Menschen wehte der Nimbus wagemutiger Abenteurer voraus, braungebrannte Cowboys, die jeden Abend am Lagerfeuer sitzen und ein wildes, freies Leben führen. Sie starben zwar aufgrund der filterlosen Zigaretten, die sie den ganzen Tag rauchten, ziemlich elendiglich an Lungenkrebs, dafür war das Leben halt wild und frei.

Wer so eine Jeans hatte, musste auch ein wilder, freier Abenteurer sein, begehrt von den schönsten Frauen.
Die Marketingindustrie erkannte das Potenzial und befeuerte den Trend so gut es ging. Die Jeans wurden immer mehr stonewashed, was auch dazu führte, dass sie immer dünner wurden. Das war ausgesprochen praktisch für die Jeansindustrie, denn die wollte ja möglichst vielen Menschen möglichst oft neue Jeans verkaufen. Wenn diese von Beginn an fast schon kaputt waren, mussten die Konsument:innen auch viel öfter neue Hosen kaufen.

Irgendwann waren die Jeans so stonewashed, dass sie schon als Neuware zu zerreißen begannen. Das führte aber nicht zu einem Gegentrend, sondern die Werbeindustrie trat die Flucht nach vorne an und machte zerrissene Jeans zum Trend. Jetzt wurden sie schon in der Fabrik künstlich zerrissen, um den alten Mythos an die Spitze zu treiben: Seht her, ich habe so viel gearbeitet und so wilde Dinge erlebt, dass meine Hosen schon total zerrissen sind.

Warum ich mir keine guten, neuen Hosen kaufe? Diese Frage darf nicht gestellt werden und wird von den braven Käuferinnen und Käufern auch nicht gestellt. Sie sind nämlich das Gegenteil von Hippies oder irgendwelchen anderen Typen, die gegen das Establishment sind, ganz im Gegenteil: Sie folgen jedem Trend, und sei er noch so absurd. Sie hecheln der künstlich erzeugten Mode hinterher, hängen an den Lippen der Marketingindustrie und verkörpern den Boden des Konformismus, indem sie jede Art von Reflexion aufgegeben haben.
Hätten sie das nicht, würde ihnen auffallen, was sie eigentlich tun. Die zerrissenen Jeans kosten nämlich deutlich mehr als welche, die nicht kaputt sind. Sie zahlen also extra dafür, dass sie etwas Kaputtes bekommen – für mich eins der besten Zeichen einer kaputten Gesellschaft.
Der wichtigste Aspekt ist aber die unglaubliche Arroganz, die Menschen vor sich hertragen, die sich zerrissene Jeans kaufen. Diese werden nämlich möglichst billig von Arbeiterinnen in prekären Verhältnissen erzeugt, damit die Gewinnspanne für Industrie und Handel möglichst groß ist.
Je teurer die Jeans, desto mehr Geld bleibt in den Kassen, allerdings nicht in denen der Arbeiterinnen, die sie erzeugen. Die bekommen irgendwo in Indien, Bangladesh oder der Türkei einen Hungerlohn, der meistens sogar unter dem Existenzminimum liegt. Sie arbeiten unter extremen Umweltbedingungen und sind gefährlichen Chemikalien schutzlos ausgesetzt, die man bei der Erzeugung solcher Jeans braucht.
Sie schneiden Löcher in neue Hosen und tragen selbst Hosen mit Löchern, weil sie sich keine anderen leisten können.
Sie wissen, dass diese absichtlich zerstörten Hosen von Menschen gekauft werden, die dafür mehr Geld zahlen als für Hosen, die nicht kaputt sind.
Ist das nicht ein bisschen krank? Mit der Arroganz meine ich den Luxus, sich keine Reflexion zu leisten. Die Konsument:innen leben in einer schönen, neuen Welt (durchaus im Sinne von Aldous Huxley) und sind sehr ungehalten, wenn man diese stört. So ungehalten wie damals das US-amerikanische Establishment über die Hippies war.
Das Außerhalb ihrer Blase interessiert sie nicht, darüber denken sie nicht nach und die Konsumindustrie tut ihr Möglichstes, sie am Nachdenken zu hindern.

Ich habe in meiner Jugend auch Stonewashed-Jeans getragen, allerdings nur so lange, bis der Stoff dünner zu werden begann. Dann kam mir das seltsam und irgendwie falsch vor und ich hörte damit auf.
Ich war damals noch kein Grüner, aber der Gedanke an diese sinnlose Umweltzerstörung war scheinbar schon irgendwo in mir.
Zerrissene Jeans sind nämlich die Quadratur der Umweltverschmutzung und sinnlosen Ressourcenverschwendung plus sozialer Ausbeutung. Man braucht Ressourcen, um sie zu zerstören und noch viel mehr Ressourcen, um noch mehr zerstörte Jeans zu produzieren, die ja nicht lange halten, weil sie nicht lange halten sollen. Befeuert wird dieser Kreislauf zusätzlich noch durch die immer schneller wechselnden Modetrends. Die Konsument:innen kaufen die Hosen inzwischen oft nicht mehr, um sie wirklich zu tragen, sondern um sie zu kaufen – der Trend der Fast-Fashion bzw. der Ultra-Fast-Fashion.

Wie geht es weiter?
Wir haben hier einen typischen Fall, bei dem Verbote nichts nützen. Selbst wenn es EU-weit verboten würde, kämen die Hersteller auf immer neue Ideen, wie sie das Verbot umgehen könnten, denn es gibt damit sehr viel Geld zu verdienen.
Auch von den Konsument:innen dürfen wir hier nicht viel erwarten. Es gibt derzeit keine Hinweise auf eine Trendwende weg von der Wegwerfgesellschaft, ganz im Gegenteil. Es wird mehr konsumiert als je zuvor und die Konsumgegenstände werden zunehmend umweltschädlicher, was sich sehr gut an den unfassbaren Plastikmüllbergen ablesen lässt, die jedes Jahr deutlich anwachsen. Die wenigen Gegentrends fallen statistisch nicht ins Gewicht.
Die Natur wird uns früher oder später einen Riegel vorschieben. Je länger wir damit warten, umso höher wird ihr Preis sein.

Uwe Arnold – ein Philosoph ist gegangen

UWE ARNOLD (1936 – 2024)

Im Sommer 2024 ist wieder einer der alten Gruppendynamik-Philosophie-Viererbande (Peter Heintel, Gerhard Schwarz, Ber Pesendorfer, Uwe Arnold) gegangen.
Uwe hat die letzten Jahre zurückgezogen in Klagenfurt gelebt und war leider auch nicht am Begräbnis meines Vaters 2022.

Begonnen hat alles am Institut für Philosophie an der Uni Wien, wo unter der Schirmherrschaft von Erich Heintel junge Philosophen ihre Karriere entwickeln konnten.

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Bild: Gerhard Schwarz und Uwe Arnold 1974

Sie landeten über Traugott Lindner dann auch alle bei der Gruppendynamik und blieben dort, was automatisch in den 1980ern einen Klagenfurt-Konnex eröffnete, da die Gruppendynamik dort an der Uni verankert werden konnte.
So zog es auch Uwe irgendwann dorthin und er wurde Professor am Institut für Philosophie in Klagenfurt.
Als Spin-off entwickelte sich die ÖGGG, die später in ÖGGO (Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung) umbenannt wurde. Uwe war dort lange Jahre als Trainer und Ausbildner tätig.
Sein Kern blieb aber immer die Philosophie und dort entwickelte er sich auch zu einem der außergewöhnlichsten Philosophen Österreichs.
Das Besondere an ihm war die Art und Weise, wie er schwierige Inhalte vermitteln konnte. Seine Vorlesungen waren exzellent und sehr beliebt. Ich konnte sie leider nie direkt genießen, glücklicherweise wurden sie aber alle auf Tonband aufgenommen und transkribiert, so dass sie heute verfügbar sind.
Wenn ich etwas Schlaues zu einem Thema von mir geben muss, schaue ich nach, was Uwe dazu gesagt hat. Seine geschichtlichen Herleitungen eröffnen mir heute noch Erkenntnisse, weil sie aus dem üblichen Denken heraustreten und somit andere Blickrichtungen eröffnen.

Uwe war ein besonderer Typ, er stach aus der Menge durch seine wilde Frisur, seine Rollkragenpullis und seine sonore, ausgesprochen markante Stimme hervor – und natürlich durch sein Faible für Tabakwaren. Früher Zigaretten, später dann Pfeife.

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Bild: Uwe Arnold

Sowohl in der Philosophie wie auch in der Gruppendynamik hatte er Autorität und Einfluss.
Unvergessen ist sein Auftritt im „Club 2“. Dort wurde er von einem Teilnehmer mit den Worten „Kennen Sie überhaupt Hegel?“ attackiert.
Seine Antwort: „Nicht persönlich.“

Zudem war er bei vielen Motivforschungsprojekten dabei und auch hier war seine Analyse stets gefragt. Seine Spezialität war die Verbindung von Tiefe und Überblick, was gerade in diesem schwierigen Forschungsgebiet dringend notwendig ist, um die Zusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen zu verstehen.

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Bild: Hypothesensitzung im Büro von Gerhard Schwarz, ca. 1983 (von links: Monika Hänslin, Ewald Krainz, Traugott Lindner, Ber Pesendorfer, Uwe Arnold)

So gescheit und eloquent Uwe war, die eine oder andere Kante gab es doch. Eine davon führte leider zum Bruch, als er eine Empfehlung für die Gruppendynamikausbildung zurückzog, die er mir vorher schon gegeben hatte – und zwar weil er sich über jemand anderen geärgert hatte. Auf meine Nachfrage reagierte er unverständlich, was für mich der Anlass (nicht die Ursache) war, die Ausbildung abzubrechen.
Ich verlor dadurch auch den Kontakt zu ihm und fand ihn nicht mehr wieder.

Er wird mir aber als Quelle der Weisheit und Inspiration trotzdem in guter Erinnerung bleiben.

Die Renaissance der Ochlokratie

Ich kannte den Begriff selbst bis vor ein paar Jahren nicht, finde ihn aber inzwischen als wichtigen Orientierungspunkt in der politischen Diskussion.

Anlass ist die 180-Grad-Kehrtwende der ÖVP punkto FPÖ im Januar 2025. Davor gab es im Wahlkampf und auch danach (Herbst 2024) eine sehr klare Linie: Keine Koalition mit der Kickl-FPÖ.
Das war ohnehin schon eine Mauer mit Hintertürchen, das aber letztlich gar nicht benutzt werden musste. Nach dem Scheitern der Verhandlungen zu einer Dreierkoalition (ÖVP-SPÖ-NEOS) gab es binnen weniger Stunden eine Kehrtwende und auf einmal war die FPÖ ein willkommener Regierungspartner, wobei man seitens der ÖVP den Kanzler abgeben muss und noch einiges mehr.

Interessant ist für mich das, was dahintersteckt.
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten Politik zu betreiben:

1.) Ich mache ein Programm und versuche möglichst viele Menschen davon zu überzeugen. Wenn ich eine Mehrheit zustande bringe, setze ich das Programm in der mir zur Verfügung stehenden Zeit bis zur nächsten Wahl um.

2.) Ich höre, wer am lautesten schreit und das verkünde ich dann als Programm. Das ändert sich immer, wenn die Lauten etwas anderes schreien oder wenn andere lauter werden.

Die zweite Variante nannten die Griechen „Ochlokratie“, was so viel heißt wie „Herrschaft der Lauten“. Dazu passt folgender, alter Witz:

In einer Gefängniszelle sitzen drei Herren und unterhalten sich, warum sie eingesperrt wurden.
„Ich habe fünf Jahre bekommen, weil ich war für Popov.“
„Ich habe zehn Jahre bekommen, weil ich war gegen Popov.“
„Gestatten: Popov.“

Die Ochlokratie ist heute manchmal auch als „Populismus“ bekannt. Man braucht dafür keinerlei Programm mehr, gewählt werden stattdessen Einzelpersonen bzw. deren öffentliches Auftreten. Die Sprüche zu den Bildern sind meistens austauschbar, ohne konkrete Inhalte, kurz gehalten und oft auch sehr schreierisch, also für die Lauten gemacht, die das dann laut nachschreien.
Außerdem wird man dadurch selbst laut.

Inhaltliche Tiefe ist dabei nicht mehr notwendig, alles kann oberflächlich bleiben, muss es sogar, die Tiefe würde die Menschen langweilen, weil sie nach einiger Zeit nur gewohnt sind alles in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert zu bekommen. Die Ochlokratie funktioniert nur, wenn die Menschen – die Wähler:innen – auch mitmachen. In einer Zeit, in der sich die Convenience-Food-Regale in den Supermärkten vervielfacht haben und der Trend immer stärker wird alles von daheim vom Sofa aus mit einem Knopfdruck zu kaufen, hat die Ochlokratie als Convenience-Politik mit ihrem Bequemlichkeitsangebot leichtes Spiel.
Die Nebenerscheinungen sind gravierend: Wir können eine zunehmende Volatilität der Wähler:innen erkennen, die immer öfter spontan und sehr kurzfristig entscheiden, wem sie ihre Stimme geben. Die Schwankungen sind in den Wahlergebnissen der letzten 20 Jahre gut zu bemerken. Die Grünen etwa flogen 2017 aus dem Nationalrat und erzielten 2019 das beste Ergebnis seit ihrer Gründung.
Die Partei hat sich dabei genauso wenig verändert wie ihr Programm. Daran kann man gut erkennen, dass das eigentliche Herzstück einer politischen Partei, nämlich ihr Programm, das einer Linie folgt, die wiederum auf Grundwerten aufgebaut ist, immer weniger zählt.
2024 war fast noch extremer: Die Grünen sind auf den Populismus-Zug aufgesprungen und haben statt eines Programms eine junge Frau als Quereinsteigerin quasi als Programm zur Wahl aufgestellt. Aus der recht vehementen Umweltaktivistin wurde ein süßes Mauserl mit Herz gemacht. Die Umfragewerte sagten ein gutes Ergebnis voraus.
Dann wurde die Spitzenkandidatin (dahinter gab es medial und in der Kampagne eigentlich nichts mehr, kein Programm, kein Team) rausgeschossen und das Ergebnis war ein Wahldebakel.
Die Gegner hatten leichtes Spiel, sie mussten nur eine Schwachstelle finden und diese medial ausbreiten.

Aber selbst wenn es ein Programm gibt oder zumindest einen programmatischen Ansatz, funktioniert das nur mehr sehr bedingt. Die Grünen hatten bei der Nationalratswahl 2024 immerhin den Klimaschutz als Ansage. Das hat nur sehr wenige Menschen interessiert, sie wählten vor allem laute Männer.
Das mag die Komplexität vielleicht nicht ganz beschreiben, aber die Grundströmung meine ich zu erkennen.

Leben wir in einem ochlokratischen System? Nach dem Sieg von Trump in den USA und dem Triumph der Rechtspopulisten in zahlreichen europäischen Staaten beantworte ich diese Frage inzwischen mit einem klaren „Ja“.

Wie geht es weiter?
Das hängt davon ab, wie intensiv uns die Klimakrise trifft und welchen Narrativ das auslöst. Es wäre eigentlich höchste Zeit der momentanen Entwicklung weltweit eine vernünftige Politik mit einem klaren Programm entgegenzusetzen. Dazu müssen die Menschen aber aus der Bequemlichkeit heraus und das wird schwierig.
Das Problem der Populisten ist, dass sie für komplexe politische Herausforderungen und Aufgaben keine Lösungen haben. Dort, wo oberflächliches Geschrei nicht reicht, braucht es einen Plan, der die Komplexität bändigen kann und als Basis für Entscheidungen dient, die sehr oft nicht populär sind. Da bedarf es dann gemeinsamer Kraftanstrengungen, da muss man schwierige Phasen durchhalten und noch einiges mehr.
Die Verlockungen der Überflussgesellschaft haben bewirkt, dass viele Menschen glauben ein Recht auf Überfluss und Bequemlichkeit zu haben. So lange ihnen das jemand verspricht, wird die Ochlokratie wohl noch die Oberhand behalten.