Design

DESIGN

Anmerkungen zu einem Element unseres Konsumlebens

Auf Wikipedia heißt es schlicht „Entwurf“ oder „Formgebung“ und das hilft uns nicht weiter. Die Übersetzung aus dem Englischen („Gestaltung“) schon eher.
Aber auch Wikipedia wird noch genauer: „Insbesondere umfasst es auch die Auseinandersetzung des Designers mit der technischen Funktion eines Objekts sowie mit dessen Interaktion mit einem Benutzer. Im Design-Prozess kann somit unter anderem Einfluss auf die Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer eines Objekts genommen werden, was insbesondere beim Produktdesign relevant ist.“

Wenn es also heißt „ein schönes Design“, dann kann damit die Gestaltung eines Objekts gemeint sein, also die äußere Form, oder das, was darin enthalten ist, denn mit „Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer“ ist das Wesen beschrieben, das ein Gegenstand, ein Objekt hat.
Wer einen Gegenstand „designt“, übernimmt damit auch die Verantwortung für das, was er ist und für seine Relation zur Welt, denn es handelt sich um einen bewussten Vorgang.
Im Doku-Film „Design ist niemals unschuldig“ von Reinhild Dettmer-Finke wird dieser Verantwortungsaspekt unter die Lupe genommen.
Design gestaltet unsere Welt, es ist zumindest mitgestaltend und somit auch dafür verantwortlich, was die Dinge in und mit unserer Welt machen.

Wenn ein Gegenstand geplant, entworfen und gebaut wird, dann ist seine Form nicht zufällig, sondern steht für etwas. An dieser Stelle ist noch nicht gesagt, wofür er steht.
Ein gutes Beispiel ist der VW Käfer, der für „moderne Mobilisierung der Massen“ steht bzw. stand und ganz bewusst dafür entworfen wurde.
An dieser Stelle kommt eine politische Dimension dazu, denn der Käfer wurde sowohl vom Nationalsozialismus wie auch von der US-amerikanischen Hippie-Bewegung als Symbol verwendet.
Der Käfer hat 4-5 Sitzplätze und wurde somit für die Kernfamilie entworfen, also Vater, Mutter und 2-3 Kinder plus eine bestimmte Menge Gepäck. Durch seine Technik wurde er so gestaltet, dass die Erzeugung zu einem Preis möglich ist, den sich die erwünschten Besitzer auch leisten können.
Ist das Design des Käfers nun eine Antwort auf ein erwünschtes Gesellschaftsmodell oder wird dadurch dieses Modell erst entworfen?

Der Designtheoretiker Friedrich von Borries erklärt im Film anhand des Smartphones die verschiedenen Ebenen des Designs. Hören wir ihm kurz zu:
„Auf den ersten Blick würde man sagen, das Design eines Smartphones ist die Oberfläche, die Materialität, dass ich darüberwischen kann, dass ich es gerne anfasse, dass es der Hand schmeichelt, dass es gut aussieht usw. Das ist Design.
Auf den zweiten Blick kann man sagen, vielleicht ist das Design des Smartphones noch etwas anderes, nämlich die Art, wie wir es benutzen, wie wir miteinander kommunizieren, also dass wir jetzt alle erwarten, innerhalb von zwei bis vier Stunden – oder wie auch immer – eine Antwort auf eine E-mail oder SMS zu bekommen. Eine Interaktionserwartung an andere zu haben, ist auch das Design.
Das Design eines Smartphones ist aber auch, dass wir bereit sind uns überwachen zu lassen, dass wir aus Bequemlichkeit unsere Ortungsdaten zur Verfügung stellen, diese verknüpfen lassen mit den Informationen, die wir an dem Ort gesucht haben, um damit also selbst gläsern, transparent und kommerziell verwertbar zu werden.“

Laut von Borries ist Design politisch, weil es manipulativ die Überwachungsfunktion hinter der glänzenden Fassade verbirgt, weil es damit Selbstüberwachung schafft und in Folge auch eine ebenso gestaltete Gesellschaft.
Er meint, dass dies nicht von „durchgeknallten Politikern“ geschaffen wird, sondern von den Konsument*innen und den kommerziell interessierten Herstellern.

Es taucht die Frage auf, was wir für ein gutes Leben brauchen und ob Design die Verantwortung hat, uns das zur Verfügung zu stellen, dafür zu designen.
Design kann somit entweder die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft befeuern oder genauso gut einen anderen Entwurf, etwa eine Gesellschaft in einer Postwachstumsökonomie, in der die Gegenstände möglichst nachhaltig, möglichst reparierbar und möglichst langlebig entworfen werden.

Design hat in den letzten Jahrzehnten die Aufgabe übernommen, Gegenständen das Attribut „innovativ“ zu verleihen, „anzudesignen“ könnte man sagen. Eine Wachstumsgesellschaft braucht ständige Innovationen, um ständig neue Gegenstände verkaufen zu können, die eigentlich nicht gebraucht werden. Ein neu entworfener Sneaker (Turnschuh) kann nicht mehr als das Vorgängermodell, soll aber durch sein Design vermitteln, dass er etwas besser kann und daher gekauft werden soll.
Wir finden das natürlich ganz besonders bei der wichtigsten Ikone unserer Zeit, dem Auto. Neue Modelle unterscheiden sich von den Vorgängermodellen in winzigen Details, die aber durch die Werbung zu unglaublichen Innovationen aufgeblasen werden müssen, um einen entsprechenden Verkaufserfolg zu schaffen.
Wer hier nicht mitmacht, gerät ins Hintertreffen, verliert Marktanteile und verschwindet früher oder später.
Ein Beispiel dafür ist die Marke „Eudora“, die viele Jahrzehnte Haushaltsgeräte erzeugt hat, vor allem Waschmaschinen.
Diese Geräte haben sich als ausgesprochen langlebig erwiesen – ich selbst besitze eine seit dreißig Jahren. Das bedeutet, dass ich mir seit dreißig Jahren keine neue gekauft habe und Eudora kein Geld mit mir verdient hat.
An dieser Stelle greift wiederum die Politik ein, die unser System steuert, etwa indem sie Herstellern, die Geräte für Langzeitgebrauch erzeugen, steuerliche Vor- oder Nachteile verschafft.
Dadurch steuert sie, welche Art von Design belohnt und welche bestraft wird. Am Beispiel von Eudora können wir leicht erkennen, dass Langlebigkeit nicht gerne gesehen und somit bestraft wird.

An dieser Stelle wird gerne erwähnt, dass es ja die KonsumentInnen sind, die langlebige oder kurzlebige Waschmaschinen wollen und somit kaufen.
Ist das wirklich so? Weshalb sollte ich eine Waschmaschine kaufen, die schnell kaputt wird? Beim Smartphone kann ich das noch irgendwie verstehen, etwa wenn man mit dem neuen Modell bei Freunden angeben will und es somit äußerst praktisch ist, wenn das alte schnell kaputt geht– aber bei der Waschmaschine?
Da gibt es noch das Argument, dass die neue Maschine umweltfreundlicher ist als die alte und daher diese daher möglichst schnell ausgetauscht werden sollte.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass auch hier manipuliert wurde und die neuen Maschinen genauso viel Strom verbrauchen wie die alten. Man verwendet dafür den gleichen Trick wie VW mit seinen Dieselautos: Es wird ein bestimmter Testzyklus entworfen, in dem geringer Verbrauch gemessen werden kann. In der Praxis gibt es solche Zyklen aber nicht und daher handelt es sich bestenfalls um Manipulation.

Dinge können so designt werden, dass Menschen sie etwa gut teilen können oder dass sie reparierbar sind. Sie können so gestaltet werden, dass man sie gerne lange benützt, eine Beziehung zu ihnen aufbaut und in ihnen einen Wert erkennt. Das kann über die Materialwahl, die Verarbeitung oder die Formgebung geschehen.
All das macht das Design.

Design nimmt auch direkt Einfluss auf das Verhalten der Menschen, es kann beziehungsfördernd wirken oder hemmend. Wenn eine Freifläche, ein Innenhof, eine Straße, ein Haus so gestaltet wird, dass die Leute zum Beziehungsaufbau animiert werden, so ist das eine Frage des Designs, das nicht nur für einzelne Gegenstände zuständig ist.
Im Film wird ein Rondeau gezeigt, das aus einem grünen Ring mit Pflanzen besteht, die von Besucher*innen gestaltet werden können. Innen gibt es eine ringförmige Bank, ähnlich einem Sesselkreis. Sie lädt zum Plaudern oder Diskutieren ein.
Das Gegenteil ist das Design moderner Bahnhöfe, wo es gar keine Sitzgelegenheiten mehr gibt, die genützt werden können, ohne zu konsumieren. Selbst freie Bodenflächen werden umgestaltet, etwa durch spitze Zacken, so dass sich niemand hinlegen kann. Dadurch sollen Obdachlose vertrieben werden, die sich im Winter aufwärmen wollen.
Auch das ist Design.

Es kann Kreativität fördern oder verhindern. Das beste Beispiel ist LEGO. Die ursprüngliche Designidee war die Förderung der kindlichen Kreativität. Die Bausteine waren so gestaltet, dass sie vielfältig verwendbar waren. Wenn man genügend davon hatte, konnte man so ziemlich alles bauen, was man sich ausdenken konnte. Dafür reichten kleine, viereckige Bausteine unterschiedlicher Länge und Größe plus ein paar Sonderelemente wie Räder oder schräge Bausteine als Dachelemente.
Dann entwickelte LEGO die „Technik“-Serie. Damit konnten die Kinder nach genauer Anleitung technische Geräte wie Bagger oder Autos bauen. In den ersten Jahren waren auch diese Bausteine noch flexibel verwendbar und so konnte man aus einem Bagger auch einen Kran bauen und die Teile mit den alten Legosteinen mischen. Die Kreativität wurde dadurch schon deutlich eingeschränkt.
In der heutigen Form wird ein Objekt – etwa ein Raumschiff aus der Star-Wars-Serie – vorgegeben und kann nach genauer Anleitung zusammengesteckt werden. Die Elemente sind hochkomplex und nachdem etwas aufgebaut ist, kann zwar noch seine Funktion getestet werden, es animiert aber nicht mehr zu einer Umgestaltung. Die Kinder werden überhaupt nicht mehr dazu angeregt kreativ zu sein, sondern folgsam nach einer exakten Vorgabe etwas abzuarbeiten. Die meisten Bauelemente können nur für genau einen Zweck verwendet werden und passen nur auf genau einen Platz. Das Design der modernen LEGO-Elemente hat die Freiheit gegen die Gehorsamkeit getauscht und das Spiel gegen die Arbeit.

Die Forderung nach anderem Design als diesem ist alt, erschreckend alt. Auf der Design-Konferenz in Aspen forderten junge Designer bereits 1970: „Hören Sie mit dem unnötigen Ressourcenverbrauch auf! Weigern Sie sich Strukturen zu schaffen, deren einziger Zweck der Profit ist und damit eine zerstörerische Kraft in unserer Gesellschaft.“
Bereits damals wurde intensiv über ein alternatives Wirtschaftssystem nachgedacht. Aus heutiger Sicht ist klar, dass sich diese Gedanken, Wünsche und Forderungen nicht durchgesetzt haben. War ihre Zeit damals noch nicht gekommen? Ist sie es heute? Oder handelt es sich um ein kritisches Grundrauschen, mit dem der Kapitalismus damals wie heute locker fertig wird?

Haben Designer*innen Verantwortung für das, was sie entwerfen? Oder liegt diese Verantwortung bei ihren Auftraggebern?
Entwickeln die Designer*innen das, was die Konsument*innen fordern bzw. wünschen, oder nehmen diese einfach das, was designt wird? Erzeugt das Design erst den Wunsch?

Die politischen Dimensionen von Design sind vielfältig. Wer etwa Solarzellen entwirft, die jenseits der bekannten Paneele auf Fenstern oder verschiedenen, nicht auffälligen Gegenständen angebracht sind, verändert die Art und das Ausmaß der Akzeptanz. Das wiederum führt möglicherweise zu einer steigenden Zahl an Anwendungen und in Folge zu Autarkie oder auch stärkerer Vernetzung der Menschen durch Technologie: Wenn jeder Haushalt seinen eigenen Strom erzeugt, verändert das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Machtverhältnisse und somit das demokratische System.

Der modernste Ansatz richtet sich gegen das ursprüngliche Ziel des Designs: Dinge so zu gestalten, dass Menschen sie kaufen, obwohl sie diese Dinge nicht brauchen, um das ständige Wachstum anzutreiben.
Heute geht es um das Gegenteil: Dinge so zu gestalten, dass die Menschen mit weniger auskommen und trotzdem keinen Mangel empfinden. Langandauernde Nützlichkeit rückt in den Vordergrund, Reparierbarkeit wird zum zentralen Gestaltungselement, vielfältiger Nutzen ebenso wie die Möglichkeit die Dinge nach ihrem Gebrauchszyklus wiederzuverwerten.
Modernes Design kehrt den Wert der Gegenstände hervor, optisch und haptisch, und lenkt das Begehren in eine Langzeitnutzung anstatt in die schnelle Erneuerung. Der Statusgewinn entsteht dann nicht mehr dadurch, dass ich das Neueste habe, sondern dass ich das Beste teile.

„Kritisches Design“ denkt heute schon über die Probleme der Zukunft nach. Wie werden wir leben (können), wenn die Klimakrise jetzt bewohnte Teile unserer Erde unbewohnbar macht? Wie müssen Lebensräume gestaltet sein, um ohne Ressourcenverschwendung auszukommen? Wie funktionieren Kreislaufsysteme?
All diese Fragen und die darauf fehlenden Antworten machen klar, welche Verantwortung die Querschnittsmaterie Design hat.

Sehen wir uns abschließend an, was Friedrich von Borries dazu zu sagen hat:
„Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mache deshalb Autos und ich mache, dass die schön aussehen und sich gut verkaufen. Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mich interessiert, wie in einer Stadt das Verhältnis zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern ist und deshalb gestalte ich nicht nur Fahrräder und Autos, sondern überlege mir, wie breit sind die Gehwege, wie breit sind die Straßen – aber ich überlege mir auch, wie kann ich von dem einen auf das andere umsteigen und deswegen entwerfe ich auch Umsteigestationen, entwerfe S-Bahn-Waggons, in die ich einfach die Fahrräder mitnehmen kann usw.
Und plötzlich gestalte ich an der Umweltverträglichkeit unserer Gesellschaft und nicht an der Verkaufbarkeit von einer Tonne Stahl und Motor.
Design kann alternative Lebensformen und den gesellschaftlichen Wandel attraktiv machen.“

Im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft wird die Zukunft einer Transformationsgesellschaft gehören, in der Design nicht die Aufgabe hat, schöne Produkte zu entwerfen, um möglichst viel davon zu verkaufen, sondern dem Design die wichtige Aufgabe zukommt, Gegenstände samt den notwendigen Ressourcen so einzusetzen, dass sie eine Zukunft mit einem guten Leben für alle ermöglichen.

Der Gesundheitsweg für Autofahrer

Es gibt ihn wahrscheinlich schon seit den 1970er-Jahren und er war damals nicht der einzige. Zumindest drei oder vier kannte ich damals und fand es witzig, auf den Geräten herumzuturnen.

Heute ist er ein Anachronismus erster Ordnung und zeigt ein Gesellschaftsbild, das sich dringend weiterentwickeln muss.

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Bild: Der Gesundheitsweg für Autofahrer

Was ist das eigentlich, so ein „Gesundheitsweg für Autofahrer“? Konkret besteht er aus einem Weg im Wald, auf dem in kurzen Abständen Reckstangen und sonstige Geräte verteilt sind. Autofahrer sollen durch Schilder animiert werden diesen Weg zu gehen und die Geräte zu benützen. Scheinbar soll das ihrer Gesundheit dienen.
Aber wieso brauchen die das? Ich habe niemals einen Autofahrer gesehen, der das verwendet. Scheinbar sind nur Männer angesprochen, aber um das zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Zeit ihrer Entstehung machen, also nicht der Männer, nur der Gesundheitswege.
Zu dieser Zeit fuhren fast ausschließlich Männer die Autos. Frauen waren am Beifahrersitz (es gab keinen Beifahrerinnensitz, weil es keine Fahrerinnen gab) geduldet und hatten artig und ruhig den Fahrer zu unterstützen.
Die dazu gehörende Radiosendung hieß „Autofahrer unterwegs“ und erfreute sich extrem hoher Beliebtheit. Das Themen Feminismus und Gendern waren noch nicht erfunden oder steckten in den Kinderschuhen.
Männer waren die heldenhaften Bezwinger des Autos, diejenigen, die die Arbeit des Chauffierens erledigen mussten, weil Frauen das nicht können sollten und nur ausgesprochen selten ans Steuer durften, genau genommen nur dann, wenn sie alleine oder mit den Kindern fuhren.
Selbstverständlich gab es Ausnahmen, aber ihre Größenordnung können wir gut erahnen, wenn wir uns heute an eine belebte Straße stellen und anschauen, wie viele Männer immer noch am Steuer und wie viele Frauen am Beifahrersitz zu sehen sind.

Es war auch die Zeit der Ausflüge mit dem Auto, ein anderes Verkehrsmittel war nicht wirklich vorstellbar, mit der Bahn fuhren nur arme Leute und Spinner. Wer sich ein Auto leisten konnte, hatte eins.
Also fuhr man am Wochenende ins Grüne, hinaus aus der grauen Stadt, die unter anderem so grau war, weil dort die Luft vom Autoverkehr verpestet war. Man hatte sich einen Dreckverursacher gekauft, um damit dem Dreck davon zu fahren, den er verursachte.

Weit sind wir in der Entwicklung seither nicht gekommen, das Auto (besser: der eigene PKW) ist auch heute noch das Verkehrsmittel der ersten Wahl und wird nach wie vor benützt, um aus der Stadt ins Grüne zu fahren. Ein so ein Ort ist die Windischhütte, die man und frau auch problemlos im Zuge einer kleinen Wanderung erreichen kann, um sich erstens Appetit zur Einkehr in das dortige Gasthaus zu holen und zweitens wirklich etwas für die Gesundheit zu tun.

Der Gesundheitsweg ist eigentlich ein Krankmacher, denn er suggeriert, dass man gefälligst alles mit dem Auto fahren soll und dann hin und wieder ein paar Minuten an einer Reckstange baumeln. Was genau soll das bringen? Ein Dehnen der vom Fahren müden Glieder? Beseitigung von Verspannungen, wie sie nach einem ganzen Tag Autofahren auftreten, sicher aber nicht nach 30 Minuten Fahrt zur Windischhütte?
Ich vermute, dass diese Tafeln den Autofahrern signalisieren sollen, dass sie nur ja nicht auf die Idee kommen irgend einen Weg ohne das Auto zu machen. Ein Grund dafür könnte ja sein, dass man etwas für seine Gesundheit machen möchte und sich daher überlegt, zu Fuß zu gehen. Dann könnte man entdecken, wie schön und gesund Wanderungen sind – das gilt es auf jeden Fall zu unterbinden.
Daher die Botschaft: Fahr alles mit dem Auto und gehe hin und wieder so einen Gesundheitsweg.

Dass man dort maximal Kinder spielen sieht, mag vielleicht darauf hinweisen, dass die Autofahrer den Trick durchschauen. Oder dass es ihnen einfach egal ist.
Auf jeden Fall erinnert es mich an die Fitness-Center, zu denen die Fitnesshungrigen mit dem Auto hinfahren, dann mit dem Lift in den Stock des Centers, um sich dort wie verrückt auszupowern, nur um dann wieder in ihr Auto zu steigen.

Ich meine, es ist höchste Zeit, dass die Menschen im 21. Jahrhundert ankommen. Und dass die Gesundheitswege bald Geschichte sind.

Philips – zerstören statt reparieren

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mir eine neue elektrische Zahnbürste gekauft – nicht ganz billig, so eine Philips Sonicare Ultraschall-Bürste.
Die erste Erkenntnis bestand darin, dass „Ultraschall“ lediglich bedeutet, dass sich der Bürstenkopf schnell hin- und herbewegt. Ehrlich gesagt auch nicht wirklich anders als bei der alten Braun, die ich Jahre davor hatte. Das mit dem Ultraschall ist ein Marketingschmäh, genauso wie die Funktion „Ultra White“ – das bedeutet nämlich nur, dass die Bürste länger läuft. Sonst gar nichts. Ich muss aber zugeben, dass ich auf die Schmähs reingefallen bin, immerhin einmal.

Das Bürsten ging so leidlich, das Handstück war leicht zu reinigen und hin und wieder musste ich sie aufladen. Dass das Ding kabellos funktioniert, ist bei einer Zahnbürste absolut sinnvoll, ein Kabel wäre ständig im Weg.

Alles soweit okay, bis neulich. Da hat sie nämlich nicht mehr funktioniert, die teure Bürste. Also aufladen – was aber nichts genützt hat, auch nicht langes Aufladen.
Dann reifte die Erkenntnis, dass das Ding wohl kaputt sein dürfte. Die Bedienungsanleitung gibt leider keinen Aufschluss über mögliche Ursachen, ich tippte auf einen kaputten Akku. Eigentlich dürfte er zwar nicht so schnell (ca. 3 Jahre) den Geist aufgeben, aber Akkus sind unberechenbar, deswegen kann man sie normalerweise auch austauschen.

Dann entdecke ich auf einer Seite der Bedienungsanleitung die Anweisung, wie man den Akku entfernen könne, und zwar um ihn umweltgerecht zu entsorgen.
Wir haben es hier mit dem nächsten Schmäh zu tun. Würde sich Philips auch nur einen winzigen Dreck um die Umwelt kümmern, dann wäre das Ding zumindest reparierbar.
Das ist es nämlich nicht, und zwar gar nicht. Man kann die Bürste zerstören, um den Akku rauszuholen, wobei Philips ausdrücklich darauf hinweist, dass dieser Vorgang unumkehrbar ist, also: öffnen heißt zerstören.

Das wäre übrigens nicht notwendig, mit ein paar winzigen technischen Änderungen, welche die Produktion um keinen Cent verteuern würden, könnte man die Bürste so gestalten, dass man den Akku ersetzen kann und sie dann wieder ein paar Jahre funktioniert. Die Li-Ion-Standardzelle ist nämlich mit zwei Fahnen verlötet. Statt diesen Fahnen wären die üblichen Klemmen möglich, dann ließe sich die Zelle austauschen. Mit drei zusätzlichen kleinen Schräubchen wäre der gegen Wasser abgedichtete Deckel so gestaltbar, dass man ihn auf- und wieder zuschrauben kann. Das wäre alles, sonst bräuchte das Ding keine technischen Änderungen.

Das wissen die Ingenieure bei Philips genauso wie die Produkt- und die Marketingstrategen. Sie können es tun, wenn sie es wollten.

Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einem besseren Produkt, die Philosophie von Philips gefällt mir leider gar nicht und ich werde versuchen, eine Produkte dieses Unternehmens mehr zu kaufen, dass so offensichtlich auf Umweltschutz pfeift und trotzdem zum Hohn aller KonsumentInnen behauptet, für Umweltschutz einzutreten.

Der Herr Naderer

Wer erinnert sich noch an den Kaisermühlen-Blues? Die beliebte und sehr wienerische Fernsehserie aus den 1990er-Jahren hatte nicht nur die zwei schrulligen Bezirksräte „Schoitl“ und „Gneisser“ zu bieten, sondern auch den Herrn Naderer, einen alten, weißbärtigen Mann, der immer, absolut immer grantig war.
Gespielt wurde die Figur von Ernst Hinterberger himself, dem Autor und Produzent der Serie. Er gab dem Herrn Naderer ganz bewusst die Note des mieselsüchtigen Typen, der absolut niemals etwas Gutes oder Positives zu melden hatte. Sein gesamter Blick auf die Welt war ein negativer und deswegen wurde er auch immer wieder von der resoluten Trafikantin Gitti Schimek (gespielt von Marianne Mendt) zurechtgewiesen.

Zurechtweisungen gibt es für die Naderers unserer Zeit gerade fast keine. Sie tauchen in großer Zahl auf und ihre beliebteste Spielwiese ist das Internet, ganz besonders Facebook und die Kommentarspalten der Online-Zeitungen.

Ich möchte versuchen, diesen Typus noch ein wenig besser zu fassen und erinnere mich an eine Nummer der Toten Hosen aus den späten 1980ern, genauer von der LP „Ein kleines bisschen Horrorschau“. Sie heißt „35 Jahre lang“ und handelt von einem Mann, der den Großteil seines Lebens in einer Fabrik Haken für Duschvorhänge erzeugt hat.
Blicken wir kurz in diese Nummer:

„Er sitzt den ganzen Tag am Fenster
mit einem Kissen unterm Arm,
ist ein Fahrrad auf dem Gehsteig,
ist ein Wagen falsch geparkt,
er ist allzeit bereit und schlägt Alarm.

Vor einem Jahr ging er in Rente
jetzt weiß er nicht wie´s weitergeht,
sein Wellensittich ist der letzte
der hin und wieder mit ihm spricht,
wenn er allein vor seiner Fototapete sitzt.“

Der Vernaderer ist der kleine Bruder des Denunzianten. Er bekommt zwar keine 30 Silberlinge, dafür aber einen Lohn der anderen Art, nämlich soziale Anerkennung.
Derzeit in der Corona-Krise gibt es für diese Typen sogar ganz besonders viel soziale Anerkennung, denn sie tun scheinbar etwas, das der Gesellschaft dient. Wenn sich alle Menschen an die Regeln halten, kann die Krise schneller überwunden werden, heißt es.
Der Vernaderer meldet abweichendes Verhalten, das er beobachtet. Er meldet es entweder der Autorität (Polizei, Verwaltung etc.) oder der Öffentlichkeit, wie etwa der in den sozialen Medien.
Er ist der Hüter der Norm, der Wächter des von der Obrigkeit erwünschten Verhaltens. Seinen mangelnden Mut kann man gut daran erkennen, dass er sich dann vor allem dann hervorwagt, wenn er sich in Gesellschaft Gleichgesinnter wähnt, also für sein Verhalten Bestätigung bekommt.

Die Vernaderten werden als asoziale Täter dargestellt, die man zu Recht bloßzustellen hat. Sie schaden mit ihrem Verhalten einer Allgemeinheit, die als eine zu Schützende konstruiert wird.
Ein Beispiel: In Klosterneuburg ist ein Motorradfahrer gestürzt. Darüber gibt es eine kurze Meldung der Polizei, die von eifrigen LeserInnen sofort auf Facebook gestellt wird, quasi Ausgangsmaterial für die ersehnte Entrüstung.
Dem Motorradfahrer wird vorgeworfen, dass er zu schnell war. Auf die Entgegnung, dass dies reine Spekulation sei, entgegnet die Behaupterin, dass sie in der Nähe wohnt und daher weiß, dass die Motorradfahrer dort immer aufgrund zu hoher Geschwindigkeit stürzen.
Das ist bei genauer Betrachtung Nonsens, denn das kann sie weder sehen noch wissen. Es gibt viele Gründe weshalb man stürzen kann: ein Ölfleck, Rollsplit, eine Reifenpanne, ein Motorschaden (Kolbenreiber), eine Nötigung etc.
Gespickt wird nun mit der Behauptung, dass es sich um einen „Ausflug“ gehandelt hätte. Auch das wird einfach hingeschrieben, obwohl es reine Spekulation ist. Der Zweck der Fahrt könnte auch ein Pflegedienst sein oder ein Einkauf. Oder sonst irgend etwas, von dem wir nichts wissen.

Wenn man die Behauptung als haltlos aufdeckt, wird man sofort attackiert, meist von mehreren Vernaderern. Sie sind nur im Kollektiv stark, sobald sich eine Mehrheit gegen sie wendet, verschwinden sie dort, wo sie hergekommen sind. Meist gibt es noch ein Rückzugsgeheule.
Sie sind nicht an Fakten interessiert, die gegen ihre Ansichten, Wünsche oder Behauptungen sind. Diese werden entweder ignoriert oder als unwahr eingestuft.

Um dieses Phänomen irgendwie fassen zu können, müssen wir zwei Ebenen trennen: Die individuelle und die gruppendynamische.

Auf der individuellen Ebene geht es um die Person, die Persönlichkeit, wenn man so will, um den Charakter.
Freude empfindet der Vernaderer nur, wenn andere leiden, sich kränken, einen erkennbaren Schaden haben, bestraft oder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, es ihnen zumindest irgendwie schlecht geht.
Das freut den Vernaderer, er drückt Genugtuung aus und sieht sich in seinem Tun bestärkt. „Die Hexe muss brennen“ ist sein Leitspruch, wobei das Wort „brennen“ heute wieder sehr gut passt und ein Ausdruck für „zahlen“ ist. Die genaue Bedeutung von „brennen“ ist immer eine unfreiwillige bzw. zu hohe Zahlung, also immer eine Art Bestrafung.

Wenn wir etwas tiefer in die Seele des Vernaderers blicken, finden wir dort einen einsamen Menschen – der allein vor seiner Fototapete sitzt, die für die Träume steht, die er sich nie erfüllen konnte bzw. deren Erfüllung schon so lange her ist, dass sie nicht mehr gilt.
Die Nähe, die er durch das Vernadern erhält, ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Vernaderer. Dort wird er für sein Tun gefeiert und erhält dadurch sozialen Lohn.
Wenn jemand durch sein Vernadern leidet oder bestraft wird, so kann er sich das auf seine Kappe heften. Er war es, der in anderen Menschen etwas ausgelöst hat. Das Motto könnte so lauten: Besser sie leiden durch mich, als ich habe gar keinen Einfluss auf sie.

Die zweite Ebene ist die der Gruppendynamik. In einer Gruppe (Dorfgemeinschaft, Jagdbande) sind die Menschen aufeinander angewiesen, das Verhalten des einen hat direkte Auswirkungen auf das Verhalten des anderen. Wenn jemand ausschert, kann das die Gruppe und ihr Überleben gefährden. Es muss also einen Mechanismus geben, der Abweichler wieder einfängt oder ausstößt, wenn sie nicht einzufangen sind. Der wichtigste Mechanismus ist der Gruppendruck, dem man sich – evolutionsbedingt – nur schwer widersetzen kann. Über den Großteil der Entwicklungsgeschichte des Menschen war Ausschluss aus der Gruppe, aus der Gemeinschaft quasi ein Todesurteil, da die Menschen alleine – also als Individuen – der lebensgefährlichen Umwelt schutzlos ausgeliefert waren.
Das hat uns so tief geprägt, dass Ausschlussdrohung Existenzängste hervorrufen kann.
Wichtig ist an dieser Stelle ein entscheidender Unterschied zwischen der archaischen Gruppe und ihrer Notwendigkeit mit Abweichlern zurecht zu kommen und der heutigen Situation einer modernen Gesellschaft. In der Gruppe steht die Gesamtgröße fest, jeder kennt jeden (und jede kennt jede) und man ist miteinander in ständiger Verbindung. Niemand ist anonym oder kann sich hinter der Anonymität verstecken, alle sind sichtbar, wenngleich es auch in dieser Zeit informelle Ordnungen gab und heimliche Intrigen. Eine Anklage wurde stets vom Dorfältesten oder einer anderen Autoritätsperson geprüft und so war der Mechanismus für alle verständlich.
In unserer heutigen Welt ist das anders. Hier fehlt das Korrektiv der Gruppe, eine Prüfung der Fakten ist nicht notwendig, um ein kollektives Urteil hervorzurufen.
Hier wäre die Autorität gefragt, in unserem Fall in Form der Bundesregierung, weil es ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Doch die ist überfordert, vor allem mit dem Grundwiderspruch Eines-Vieles.
Nachdem viele Jahrzehnte das Individuum als Stolz der Gesellschaft im Dienste der Konsumindustrie produziert und protegiert wurde, steht es auf einmal als Idiot da. Der Idiot ist übersetzt der „Vereinzelte“, also der, der sich nicht mehr in Gemeinschaft befindet. Er schaut daher auf sich und seine Bedürfnisse und befriedigt sie invididuell. Das ist für eine auf ewiges Wachstum ausgerichtete Konsumindustrie auch besonders wichtig, denn ihr erklärter Feind ist die Gemeinschaft. Wenn die Hausgemeinschaft eine gemeinsam zu nützende Bohrmaschine kauft, kann die Industrie nicht mehr jeder einzelnen der 12 Hausparteien eine verkaufen. Das sehen wir bei den meisten Konsumprodukten, speziell beim PKW, in dem durchschnittlich eine Person sitzt und 3-4 weitere Plätze durch die Gegend führt.

Der aktuelle Spruch der Bundesregierung „Schau auf dich – schau auf mich“ klingt auf den ersten Blick sehr nett und gemeinschaftlich und sozial und wird auch so gefeiert.
Wenn man die Kehrseite betrachtet, dann steht dort „Wenn du nicht auf dich schaust, dann schaust du auch nicht auf mich“. Von da ist es nur mehr ein winziger Schritt zum Vorwurf asozialen Verhaltens, wobei hier nicht unterschieden wird, ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht. Im Zweifelsfall wird Absicht unterstellt, gerne auch Dummheit, wie ein Spruch auf Facebook klar stellt: „Verbreitet das (die Regeln) weiter, damit auch die weniger Schlauen es verstehen.“
Dieser Satz trieft vor Arroganz und Verachtung für all diejenigen, die sich jenseits der Norm verhalten. Es ist übrigens genau dieses Verhalten, das erst Weiterentwicklung ermöglicht. Wenn alle Individuen einer Gesellschaft immer das gleiche tun, verändert sich gar nichts. Das hat aber auch zur Folge, dass die Resilienz stark sinkt. Der Genetiker Markus Hengstschläger beschreibt das mit einem Beispiel: Wenn in einem Biotop ein Bakterientyp angesiedelt ist und sich die Umweltbedingungen verändern – etwa durch Hinzufügen einer Chemikalie, dann sterben alle Bakterien, wenn alle Bakterien gleich sind. Wenn es aber „Abweichler“ gibt, überleben einige, weil sie genau gegen diese Chemikalie resistent sind.
Die Widerstandskraft einer Gesellschaft erhöht sich durch Biodiversität genauso wie die eines Waldes. Nur müssten wir hier von „Soziodiversität“ reden, also von Vielfalt innerhalb einer Gemeinschaft. Nur dann erhöht sich die Chance, dass die Gesellschaft bei einem Angriff von außen – etwa durch Klimawandel oder ein Virus – überlebt.

Die angesprochene Weiterentwicklung löst bei jedoch bei all den Menschen Angst aus, die nicht wollen, dass sich ihre Welt verändert, da sie von der derzeitigen Situation und Konstellation profitieren. Sie befinden sich in einer sozial privilegierten Stellung, die sich bei Veränderung möglicherweise verschlechtert, da man von ganz oben nur mehr hinunterfallen kann.
Für sie ist die Kontrolle darüber, dass alles so bleibt, wie es gerade ist, ist extrem wichtig. Das führt bis zur Kontrolle des eigenen Körpers, in der Coronakrise sehr gut gesteuert durch die Kontrolle des Atems mittels eines Nasen-Mund-Schutzes. Aber auch der Stoffwechsel generell bekommt eine neue Wichtigkeit, nicht ohne Grund wurden Klopapier und Nudeln gehamstert.

Fazit: Die Sache ist komplex. Wenn es zu viele Abweichler gibt, verliert die Gesellschaft den Zusammenhalt. Wenn es zu wenige gibt, verliert sie ihre Widerstandskraft. Vernaderer erfüllen somit eine wichtige Aufgabe, sofern sie nicht Oberhand bekommen und die notwendige Freiheit eliminiert wird. „Aufeinander schauen“ muss neben der Kontrolle auch die Fürsorge beinhalten. Zu dieser Fürsorge gehört auch, dass man die individuellen Bedürfnisse des anderen sieht und respektiert, auch wenn sie anders sind als die eigenen. Wenn der Egoismus als soziales Engagement auftritt, muss er enttarnt werden.
Die Demokratie lebt von der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft, von der Bewältigung des Widerspruchs Eines – Vieles. Deswegen ist es auch dringend notwendig Verordnungen von oben kritisch zu betrachten, auch wenn sie noch so notwendig erscheinen. Es ist viel bequemer zu gehorchen als Widerstand gegen etwas zu leisten, aber genau hier finden wir eine große Gefahr, nämlich den schleichenden Angriff auf die Demokratie. Hannah Arendt hat es pointiert ausgedrückt, als sie gemeint hat „Keiner hat das Recht zu gehorchen“. In einer Krise müssen schnelle, zentrale Entscheidungen getroffen werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sich den Anordnungen zu fügen, die aus diesen Entscheidungen entstehen, sollte jedoch nicht ohne Skepsis geschehen, nicht ohne Dialog, nicht ohne Transparenz zu fordern.
Sonst besteht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft nicht durch das (oder den – nicht einmal da ist man sich einig) Virus zerstört wird, sondern durch das schleichende Abrutschen in ein autoritäres System, letztlich in die Diktatur, wie wir es in Ungarn gerade erleben, erste Reihe fußfrei.

Würde Ernst Hinterberger noch leben, er hätte sicher den richtigen Spruch für uns auf Lager. Irgendwas mit „ollas Unnötige“ oder so. Ein bisschen von seinem Geist der Unzufriedenheit können wir heute durchaus brauchen.

Das Regierungsprogramm – eine Analyse

Ich konnte mir bisher nur einen kleinen Teil vornehmen, aber das ist immerhin ein Anfang. (Und ich verstehe auch nicht von allen Teilen etwas)

Rechtssicherheit und Entlastung für Selbstständige und KMUs
(Seiten 95+96)

Anmerkung: Es fehlen zu den KMU (ohne „s“, das KMU ist bereits die Mehrzahl) noch die EPU, also die Ein-Personen-Unternehmen. Vielleicht wurde darauf auch nur in der Eile vergessen.
Legen wir los:

Das GmbH-Mindeststammkapital auf 10.000 Euro senken.

Ja, das erleichtert natürlich die Gründung. Es verleitet aber auch dazu eine Gesellschaftsform zu wählen, die sehr verlockend klingt, aber ihre Tücken hat (Vormänner-Solidarhaftung etwa – noch nie gehört? Eben.).

Evaluierung einer Verbesserung der sozialen Absicherung der Gruppe der Selbst- ständigen (ehem. SVA-Versicherte) im Rahmen der Zusammenführung der Träger SVA und SVB zu SVS

Das ist ein Platzhalter, der erst mit Inhalt gefüllt werden muss. Eine Evaluierung selbst bringt noch nix. Vor allem, weil die Zusammenführung gerade erst erfolgt und durchaus kritisch zu sehen ist. Könnte aber wichtig werden.

Regelmäßige und frühzeitige Informationsverpflichtung der SVS bzgl. der Nachbemessung nach dem 3. Jahr und bzgl. der freiwilligen Höherversicherung – „opt-in“ bzw. Verbesserung der Information zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung

Das ist gut, denn es hilft vielen, die mit der eigenen Planung und Organisation ihres Unternehmens etwas überfordert sind. Die neigen dazu diesen wichtigen Punkt zu übersehen und dann besteht die Gefahr, dass eine nicht geplante Nachbemessung das Unternehmen gefährdet. Die Verbesserung der Info zur Arbeitslosenversicherung ist nett, ich halte davon aber generell nichts, weil sie sehr teuer ist.

Rechtssicherheit in der Abgrenzung von Selbstständigkeit und Dienstverhältnissen: Der Dienstnehmerbegriff soll im Sozialversicherungs- sowie Steuerrecht vereinheitlicht und klarer umschrieben werden, um Rechtssicherheit zu schaffen. Dabei ist sowohl auf die Privatautonomie (bzw. Entscheidungs- freiheit, „Recht auf Selbstständigkeit“) als auch auf Missbrauchsfälle im Bereich der Scheinselbstständigkeit ein besonderes Augenmerk zu legen. Hierbei sind im Besonderen die Mehrfachversicherung und damit in Zusammenhang stehende Probleme zu evaluieren.

Ein wichtiger Punkt, der durchaus grüne Handschrift trägt, vor allem, weil diese Details dem ÖVP-Wirtschaftsbund bisher einfach nicht wichtig waren. Da hat die Grüne Wirtschaft eine Marke gesetzt.
Es ist ein erster Schritt in eine gute Richtung, nämlich der Blick auf die Vielfalt von Arbeitsformen, die in Zukunft neue Modelle vor allem im Steuerrecht brauchen.

Evaluierung eines Modells, um die soziale Absicherung in der Startphase der Unternehmertätigkeit sicherzustellen

Wieder ein Platzhalter. Und sie hätten wenigstens „Unternehmerinnen“ auch berücksichtigen können. So viel Zeit wäre schon gewesen.
Zur Sache: Ja, das ist wichtig. Wir dürfen gespannt sein, was ihnen dazu einfällt.

Leichtere Absetzbarkeit von Arbeitszimmern: Die steuerliche Absetzbarkeit von Arbeitszimmern zuhause (anteilig am Gesamtwohnraum) soll ausgeweitet werden, indem analysiert wird, ob die Voraussetzungen „ausschließliche, berufliche Nutzung“ und „Mittelpunkt der Erwerbstätigkeit“ noch zeitgemäß sind bzw. wie diese Regelung vereinfacht und der heutigen Arbeitswelt angepasst werden kann. Eine Pauschalierung soll angestrebt werden.

Klingt nach einer Kleinigkeit, hat aber vielen UnternehmerInnen schon zahllose graue Haare und schlaflose Nächte beschert. Es zeigt vor allem, dass KleinunternehmerInnentum (grässliches Wort) einen Wert bekommt, den es vorher nicht hatte. Die Grüne Wirtschaft lässt grüßen.

Erhöhung der Freigrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter (GWG) auf 1.000 Euro, mit Ziel einer weiteren Erhöhung auf 1.500 Euro für GWG mit besonderer Energieeffizienzklasse (mit minimalem bürokratischen Aufwand)

Auch nur eine „Kleinigkeit“, die sich aber summiert. Bis vor kurzem waren es 400 Euro, jetzt sind es 800, die 1000 sind ein typischer Kompromiss, in dem die Handschrift der Grünen erkennbar ist (grüne Geräte werden belohnt).

Vereinfachung ausgewählter sonstiger Bezüge (z.B. Vergleiche, Kündigungsentschädigungen etc.) mit dem Ziel, die Komplexität zu reduzieren. Daher soll durch eine einheitliche Besteuerung mittels pauschalen Steuersatzes eine Vereinfachung erreicht werden.

Darüber weiß ich zu wenig.

Modernisierung der Gewinnermittlung, z.B. die „Unternehmensgesetzbuch-Bilanz“ und die „Steuerbilanz“ sollen stärker zusammengeführt werden („Einheitsbilanz“) (u.a. abweichendes Wirtschaftsjahr für alle Bilanzierer, Harmonisierung der Firmenwertabschreibung)

Ein Stück Entbürokratisierung, durchaus zu begrüßen.

Förderung des Prinzips „Reparieren statt wegwerfen“ durch steuerliche oder andere Anreizmaßnahmen zur gleichzeitigen Stärkung von Gewerbe und Handwerk

Das öffnet möglicherweise die Büchse der Pandora: weg von der Wegwerfgesellschaft, hin zur Reparaturgesellschaft. Das ist eine rein grüne Forderung, die in dieser Variante natürlich noch nicht weh tut, aber möglicherweise eine Türe öffnet, die einen Paradigmenwechsel schmackhaft macht. Das gilt es jetzt voranzutreiben, mit Inhalten, Regeln und Leben zu füllen. Um zu zeigen, in welche Richtung das führt, darf ich ein Modell der Grätzlwirtschaft hernehmen:
Schritt 1: Die Dinge werden im Grätzl verkauft („Nahversorgung“ im engeren Sinn)
Schritt 2: Die Dinge werden im Grätzl produziert
Schritt 3: Die Dinge werden im Grätzl repariert und wiederverwertet

Mit dieser Maßnahme wird ein erster Schritt in diese Richtung gesetzt.

Erleichterungen für Betriebsübergaben:
o Unternehmensübergaben in der Familie sollen erleichtert werden.
o Weiters soll eine zweijährige „grace period“ eingeführt werden, in der nur die nötigsten betrieblichen Kontrollen durchgeführt werden und an deren Ende der Übertritt in das Regelregime stattfindet.

Als Spezialist für Betriebsübergaben freut mich das natürlich ganz besonders, wenngleich hier noch nicht klar ist, welche Erleichterungen es konkret sein werden. Aber allein der Fokus darauf ist brandneu – zumindest für die Türkisen.

Die Bundesregierung bekennt sich grundsätzlich zur Förderung der Weiterbildung der Unternehmerinnen und Unternehmer, vor allem EPU und KMU, durch steuerliche oder andere Maßnahmen.

Ja, ganz nett. Und gegendert – das erste Mal in diesem Kapitel.

Kleinunternehmer-Steuererklärungen vereinfachen: Besonders für Einnahmen-Ausgaben-Rechner sollen bürokratische Vereinfachungen durch intuitive Online- Eingabemasken ausgebaut werden („Steuer-App“).

Klingt nach einer Kleinigkeit, hat aber schon vielen Menschen die Selbständigkeit vermiest bzw. die Angst davor geschürt. Ob das „Allheilmittel App“ das Richtige ist, möchte ich aber bezweifeln. Die Steuererklärung vom Handy aus zu machen – na ja…

Die Bundesregierung bekennt sich zur Stärkung der Rolle von Frauen in der Unternehmerschaft und damit zu spezifischen Förderprogrammen in der Gründungssituation.

Da haben wir die ganze Chuzpe der ÖVP in einem Satz. Die Rolle der Frauen soll gestärkt werden und im gleichen Satz wird nur von Männern gesprochen („Unternehmerschaft“). Die Sache an sich ist okay, wenngleich ich vermute, dass genauso viele Männer diese Förderprogramme nötig hätten.

Einführung eines Qualifizierungsschecks für Wiedereinsteigerinnen und – einsteiger sowie Langzeitarbeitslose, damit Unternehmen punktgenau Schulungen und Fortbildungen finanzieren können.

Ist okay.

Die Bundesregierung bekennt sich zur Stärkung wirtschaftlicher Kooperationsmodelle in der Rechtsform der Genossenschaft. Wir wollen Genossenschaften als nachhaltige und krisenfeste Unternehmensform in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen stärken, um folgende Ziele zu erreichen:
• Unterstützung der kleinen und mittelständischen Unternehmen in den Regionen im Wettbewerb, z.B. durch gemeinsame Projekte der Digitalisierung
• Gründung und Etablierung von lokalen und nationalen Initiativen im Bereich des kooperativen Wirtschaftens und Sharing Economy als Alternative zu den Angeboten internationaler Konzerne
• Ausbau und Absicherung der kommunalen Infrastruktur in den ländlichen Regionen unter Einbeziehung von bürgerlichem Engagement
• Ausbau der Versorgungssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger durch Kooperationen insbesondere im Bereich Gesundheit, Pflege und Energie.

Ganz zum Schluss der Knaller. Der grüne Knaller wohlgemerkt. Sharing Economy ist für brave ÖVP-ler mit Industriellenvereinigungsaffinität nahe dran an der Wirtschaftsapokalypse. Und die einzige Genossenschaft (wie links das schon klingt), die man gut findet, ist der Raiffeisenkonzern und der ist keine mehr – zumindest nicht in der Form, wie sie die Grünen bzw. die Grüne Wirtschaft fordern.
Wer noch Zweifel an der Grünen Handschrift hat – in diesem Kapitel ist sie unübersehbar.
„Alternativen zu internationalen Konzernen“ – da mussten wohl einige Türkise schwer schlucken, das ist eine klare Ansage gegen den Neoliberalismus.

All das muss natürlich noch mit Inhalten gefüllt und dann auch noch umgesetzt werden. Zu früh dürfen wir uns nicht freuen, aber es ist deutlich mehr, als ich mir hier erwartet hätte.