TAG 4 – DIE FAHRT ZUM MARSABIT
Ein strahlender Morgen empfängt uns nach einer klaren, kalten Nacht. Wir befinden uns immerhin auf 2.000 Metern Seehöhe und in der Nacht bläst ein kühler Wind vom Berg. Der afrikanische Sternenhimmel ist hier so hell, dass man in der Nacht ohne Lampe auf´s Klo gehen kann, bei Mondlicht kann man ein Buch lesen. Noch extremer ist es nur weiter oben am Berg oder im nördlichen Drittel Kenias, weil dort sowohl Licht- wie auch Luftverschmutzung gering bis nicht vorhanden sind.
Nach einem kurzen Frühstück marschieren wir hinauf zum Bauernhaus. Dort – es ist 8 Uhr – versammeln sich schon die ersten Führer und Träger, alle in freudiger Erwartung der Spenden.
Ich habe ein wenig Sorge: werden sie sich wie wild auf die Sachen stürzen oder wird es geordnet zugehen? Ich vertraue Judy, dass sie das alles managen wird.
Ca. um halb neun sind etwa 25 Personen versammelt und ich bin mir nicht sicher, ob alle davon mit dem Berg zu tun haben. Nachdem ich aber auch hier letzte Nacht erleben konnte wie kalt es sein kann, sind die warmen Sachen – vor allem Jacken und Pullover – auf jeden Fall bei diesen Leuten besser aufgehoben als in irgendwelchen Kellern in Österreich.
Meine Befürchtungen erweisen sich als grundlos, alles läuft sehr gesittet ab: man probiert, tauscht, reicht herum und freut sich. Alle bekommen etwas und es gibt keinen einzigen Streit. Selbst als später noch eine Handvoll Leute daher kommen, ist auch für sie noch etwas da.

Bild 14: Verteilung der Kleidung
Nach ca. einer halben Stunde haben alle mindestens ein nettes Stück und wir machen Gruppenfotos mit den Trägern, den Führern und Köchen. Die meisten sind Männer, aber es gibt zunehmend auch Frauen, die diesen gar nicht leichten Job ausüben. Wahrscheinlich wird es nicht das letzte Mal sein, dass wir dort hinauf fahren, denn es gibt in Österreich noch jede Menge warme Kleidung, die nutzlos irgendwo herumliegt, weil sich ihre Besitzer längst das nächste oder übernächste Stück gekauft haben.
Hier sind sie glücklich über jedes einzelne Stück, egal was sie bekommen können. Ganz besonders froh sind sie über die vielen Polizei-Uniformen, die mein Bruder bei seinen Kollegen eingesammelt hat. Sie sind meist von exzellenter Qualität und immer in einem sehr guten Zustand, weil oft wenig getragen.

Bild 15: Polizeipullover, gut passend
Der Abschied fällt nicht leicht, aber ich dränge ein wenig zur Abfahrt. Vor allem die kleine Heather heult Rotz und Wasser und will uns nicht gehen lassen. Sie und noch zwei Buben dürfen eine Runde mit dem Toyota mitfahren, das lindert den Schmerz ein wenig.
Dann sind wir wieder auf der Straße und fahren Richtung Nanyuki. Der Mount Kenia ist komplett frei von Wolken und schenkt uns so zum Abschied ebenfalls einen netten Gruß.
Wir umrunden ihn und sehen die zahlreichen Blumenfarmen, die hier in den letzten Jahren gebaut wurden. Von ihnen stammen die Rosen und Tulpen, die wir im Holland-Blumenmarkt und in anderen, ähnlichen Märkten um wenig Geld kaufen. Sie sind deswegen so billig, weil sie hier in Kenia (und auch in Tanzania) sehr günstig wachsen können. Erstens bekommen die Arbeiter wenig Lohn und zweitens sind die Besitzer meist sehr reiche Geschäftsleute, oft Politiker, die sehr gute Verbindungen zur lokalen Distriktverwaltung haben. So können sie das Wasser vom Mount Kenia in riesige Auffangbecken leiten, die der Bewässerung der Gewächshäuser dienen. Die Leidtragenden sind die Farmen der kleinen Bauern, die jetzt weniger oder gar kein Wasser mehr bekommen. Sie müssen meist ihre Farmen aufgeben und dann werden diese zusammen gelegt und ein reicher Großbauer besitzt wieder eine riesige Farm mehr.

Bild 16: Rosenfarm, davor Ackerland
Rund um den Mount Kenia wird auch viel Getreide angebaut, die Felder sind riesig und das Korn steht hoch, als wir daran vorbei fahren. Der Anblick wirkt seltsam: Weizenfelder rund um kleine, grüne Vulkankrater. Vor ein paar Jahren war hier noch Wildnis.
Leider gibt es noch weitere Nachteile durch die riesigen Farmen: nordwestlich des Mount Kenya liegt das Laikipia-Plateau, eine wildreiche Hochebene, in der sich zahlreiche private Naturreservate befinden. Sie haben sich zusammengeschlossen, um den Tieren große Korridore für ihre Wanderungen zu bieten. Ihre Gegenspieler sind die mächtigen Farmer, die meist auch lokale Politgrößen sind und versuchen, die meist weißen Betreiber der Wildparks zum Aufgeben zu zwingen. Dieser Kampf dauert an und ich kann noch nicht sagen, wer ihn gewinnen wird: Profitgier oder Naturschutz?

Bild 17: Der Mount Kenia in voller Pracht.
Wir fahren weiter und erreichen Isiolo. Jetzt müssen wir uns entscheiden, ob wir – wir ursprünglich geplant – in den Samburu Nationalpark fahren oder die wesentlich weitere Strecke nach Marsabit.
Ich rufe Henry an und erreiche eine junge Dame, die mir ausrichtet, dass Henry nicht da wäre und auch heute eher nicht erreichbar sei. Auf meine Frage betont sie jedoch, dass der Weg sicher wäre und dass es auch in Marsabit keine Security-Probleme gäbe.
Ich bin beruhigt und auch Thomy willigt ein dort hinauf zu fahren.
In Isiolo tanken wir voll und es zeigt sich, dass der Diesel nur etwa 76 Cent kostet. Das macht lange Etappen durchaus günstiger als geplant.
Jetzt geht es Richtung Norden und ein Hinweisschild verkündet, dass es 277 km bis Marsabit sind und ca. 500 bis Moyale an die äthiopische Grenze. In ein paar Jahren wird diese Strecke wahrscheinlich fertig asphaltiert sein und dann geht der Transafrica-Highway von Kapstadt bis Kairo.
Noch ist es aber nicht so weit und wir fahren sowieso „nur“ bis Marsabit. Ich bin schon sehr gespannt wie viele Kilometer es tatsächlich sind und wie viel davon „Tamark“ und nicht „Maram“ (Asphalt oder Schotter).
Die Landschaft ist bizarr, wilde Felsformationen stehen in einer weiten Ebene, die Straße führt mittendurch Richtung Nord-Nordost.

Bild 18: Felsformationen
Und sie ist unglaublich gut, wahrscheinlich die beste Straße, die ich in Afrika je gefahren bin. Das liegt daran, dass sie brandneu ist und ich bin gespannt, wie lange sie halten wird.

Bild 19: exzellente Straße Richtung Marsabit
Bisher war es so, dass die kenianischen Straßen ein paar Jahre gehalten haben, dann bekamen sie Schlaglöcher, die anfangs noch repariert werden, später dann nicht mehr. In Folge werden die Schlaglöcher immer größer, verbinden sich zu Schlaglochreihen und die Fahrer weichen an den Rand der Straße aus. Dadurch wird auch der Rand kaputt, bröckelt ab und die Straße wird immer schwerer befahrbar. Nach einiger Zeit besteht die Straße nur mehr aus unzusammmenhängenden Asphaltstücken, durchsetzt mit riesigen „Pot-Holes“. Das ist dann mühsamer zu fahren als eine einigermaßen gute Schotterpiste. Wenn dann noch ein paar Jahre vergehen, verschwinden die letzten Asphaltreste und es entsteht eine meist unglaublich schlechte Piste mit vielen Wannen und Löchern, die sich in der Regenzeit in eine Schlammgrube verwandelt und manchmal gar nicht mehr befahrbar ist.
Irgendwann wird sie dann wieder eingeebnet, es kommt Schotter drauf und manchmal wird sie asphaltiert. Dann beginnt das Spiel von vorne.
Das Problem ist einerseits die mangelnde Instandhaltung, andererseits die von Anfang an schlechte Bauweise. In Afrika kosten Straßenkilometer nur einen Bruchteil von dem, was sie in Europa kosten. Das liegt daran, dass sie oft durch lange Ebenen führen und keine besonderen Bauwerke notwendig sind. In der Regenzeit fließen aber überall ganz plötzlich wilde Flussläufe, die alles mitreißen, was ihnen im Weg ist. Sie unterspülen die Straßen und dann entstehen Schlaglöcher. Außerdem gibt die enorme Kraft der Sonne dem Asphalt irgendwann den Rest und das begünstigt ebenfalls die Entstehung von Schlaglöchern.
Seit die Chinesen die Straßen bauen, funktioniert es viel schneller als je zuvor. Man sagt allerdings, dass die chinesischen Straßen nicht lange halten. Sie werden von den Chinesen ja nicht aus Nächstenliebe gebaut, sondern um Geschäfte zu machen, sprich: um den Weg zu wertvollen Rohstofflagerstätten befahrbar zu machen. Dann holen sich die Chinesen die Rohstoffe und wenn sie gar sind, braucht auch die Straße nicht länger zu existieren.
Das machen sie recht schlau, aber die Straße nach Marsabit könnte etwas anders sein. Sie dürfte mit viel Sorgfalt gebaut werden, denn es gibt an allen wichtigen Stellen Brücken, unter denen die Flussläufe durchfließen können. Die Ränder der Straße sind gut aufgebaut und haben so etwas wie einen Pannenstreifen, der ebenfalls asphaltiert ist und die eigentliche Fahrbahn schützt. Außerdem ist die Straße überall gut drainagiert und könnte einem Regen durchaus standhalten. Ich bin gespannt, der Aufwand ist jedenfalls enorm. Und bezahlt wird das Ganze von der EU – gebaut aber von den Chinesen und den Türken.

Bild 20: bezahlt von der EU
Es gibt in Ostafrika ein Phänomen, das für mich seit fast dreißig Jahren ungeklärt ist. Du fährst auf einer Straße durch eine absolut menschenleere Gegend, meist Dornstrauchsavanne. Viele Kilometer lang gibt es kein Dorf, nicht einmal eine Hütte irgendwo. Dann bleibst du am Straßenrand stehen, etwa um eine kurze Pause zu machen oder auch nur um zu pinkeln, und plötzlich sind Leute da. Sie tauchen hinter einem Busch auf, kommen dahergelaufen, sind einfach da. Als würden sie aus dem Boden entstehen, der Erde entwachsen, sich einfach materialisieren, wo vorher nichts und niemand war.
Ich weiß nicht wie sie das machen, aber es funktioniert immer und überall. Auch diesmal war es wieder so, meist sind es junge Burschen und meist wollen sie etwas. Hier auf der Straße zum Marsabit wollen sie Wasser und zeigen das ganz deutlich. Wenn man wegfährt, sind sie meist enttäuscht, einer schmiss uns einen Stein nach.
Ich weiß nicht, warum das so ist. Auf jeden Fall wissen sie sofort, dass es sich bei uns um Touristen handelt – das schon beschriebene Hochdach tut sein übriges. Und sie wissen, dass Touristen immer Wasser dabei haben. Also muss man ihnen entweder Wasser geben oder schnell abhauen.

Bild 21: Kamele unter einer Akazie mit Webervögelnestern
Meine Vermutung, dass die Kilometerangabe typisch afrikanisch nichts wert ist, bestätigt sich bei Kilometer 192. Bisher waren alle paar Kilometer Schilder am Straßenrand, die – ähnlich wie bei uns auf Autobahnen – anzeigen, wie viele Kilometer es noch bis Marsabit sind. Bei 193 folgte dann aber nicht etwa 192, sondern 152. Vierzig Kilometer hatten sich in Luft aufgelöst, oder auch nicht. Trauen kann man nur dem eigenen Kilometerzähler im Auto und der sagt einem erst am Ziel wie weit es wirklich war bzw. ist.

Bild 22: Kilometerangaben sind relativ
Ich darf das Geheimnis hier lüften: Es sind von Isiolo bis Marsabit genau 235 Kilometer. Das ist eine machbare Distanz, wenngleich der Asphalt nicht, wie von Chris behauptet, „fast bis Marsabit“ geht, sondern ca. 100 km davor aufhört. Dann folgt eine durchaus gute Schotterpiste, die neben der neuen Trasse verläuft. Am Fertigausbau der Straße wird eifrig gearbeitet und man kann auf dieser Strecke sehr schön beobachten, wie die Straße gebaut wird, denn man sieht alle Bauabschnitte, von der Trassenbaggerung bis zur fertigen Straße, auf der nur mehr die Bodenmarkierungen fehlen.

Bild 23: Die neue Straße ist mit Plastikfolie abgedeckt – wozu auch immer.
Es werden unglaubliche Mengen Material bewegt und man hat ca. 30 km vor Marsabit ein eigenes Zementwerk gebaut.
Der Asphalt hört vor dem Ort Merille auf, ab da geht es als Schotterpiste weiter, allerdings gibt es dazwischen, in der letzten großen Ebene, bevor es hinauf in die Vulkanberge geht, noch einmal zwanzig fertige Asphaltkilometer. Das härteste Stück, nämlich durch die Berge, folgt erst später.
Lustigerweise geht ab Marsabit noch ein Stück Asphalt in Richtung Norden, wir wissen allerdings nicht, wie weit – angeblich nur ein paar Kilometer. Dann gibt es Schotterpiste bis Moyale.
Das Problem bei der Schotterpiste ist das Wellblech. Ich weiß nicht genau, wie es entsteht, aber es schüttelt dich gnadenlos durch. Unser Auto war leicht und hatte harte Reifen, aufgepumpt auf 4 bar.

Bild 24: Wellblechpiste
Das bedeutet, man braucht eine gewisse Mindestgeschwindigkeit, um über das Wellblech drüber zu kommen, nämlich ca. 70 km/h. Darunter ist es unfahrbar und ab 80 fängt das Auto so zu schwimmen an, dass es lebensgefährlich wird. Das liegt an den Reifen und ließ sich in unserem Fall nicht ändern.
Ansonsten ist der Toyota das perfekte Auto für Afrika und nicht umsonst eines der meist verwendeten. Eigentlich halten nur zwei Autos dort durch: der Land Rover Defender, der jetzt 2015 ausläuft, und der Toyota Landcruiser Serie 7, der zwar nach wie vor gebaut wird, aber leider inzwischen in mieser Qualität.
Wirklich geeignet sind letztlich nur Autos mit Starrachsen, Blattfedern und einem Leiterrahmen. Alles andere fährt sich zwar komfortabel, wird aber ziemlich bald kaputt.
Wir hatten also das richtige Auto und verfahren konnte man sich auch nicht. Also erreichten wir nach ein paar Stunden Fahrt Marsabit (nur die letzten 40 km sind ein wenig mühsam zu fahren) und fanden auch Henrys Camp. Henry war tatsächlich nicht da, aber eine hübsche junge Mulattin namens Elisabeth begrüßte uns. Sie stellte sich als die nette Stimme am Telefon heraus und außerdem als Henrys Tochter. Das Camp lag zwar unter Akazien, die nicht wirklich viel Schatten spendeten, war aber sonst tadellos: es gibt ausgezeichnete Duschen mit einem echten Wasserstrahl (im Gegensatz zum üblichen Tröpferlbad) und tief in die Börse greifen muss man auch nicht: 3 Euro pro Person pro Nacht ist eine faire Ansage.
Allerdings stellte sich heraus, dass es außer uns nur zwei weitere Gäste gab: Brandon und Lauren, eine junges Pärchen aus Kanada, das von Kairo nach Kapstadt fuhr. Sie hatten sich in London einen Land Rover Discovery 1. Serie gekauft und von einem älteren Ehepaar ein Dachzelt bekommen, das diese nach ihrer langen Afrikareise nicht mehr brauchten. Ich war durchaus überrascht, dass der Discovery diese lange Fahrt problemlos durchgehalten hatte, aber so war es.
Sie kamen direkt aus Äthiopien und waren wesentlich schlechtere Straßen gefahren als wir. Am Abend spendierten wir ihnen ein eiskaltes Bier und mussten leider feststellen, dass der Kühlschrank zu stark aufgedreht war. Viel Sonne den ganzen Tag, dazu die kräftige Lichtmaschine – ein Bier war gefroren und aufgeplatzt, dazu etwa die Hälfte unserer zwei Dutzend Eier. Alles nicht weiter tragisch, so würden wir in den kommenden Tagen halt mehr Eier als geplant essen.
Die Tropfen an der Vorderachse des Toyota konnte ich als Differenzialöl identifizieren, das aus einem Überlaufschlauch ausgetreten war – kein Grund zur Besorgnis. Sonst war der Toyota sehr gut in Schuss.
Am Abend saßen wir an einem kleinen Feuer und tauschten Geschichten aus. Wir erfuhren von Brandon und Laura einiges über die Straßen in Äthiopien und sie bekamen von uns viele Tipps für Kenia.

Bild 25: Zubereitung des Abendessens
Das mag ich an diesen Reisen: man trifft fast immer spannende Menschen und kann sich gegenseitig helfen. So profitieren alle vom Wissen der anderen. Was für ein Unterschied zu den vollklimatisierten Hotels, in denen man meist Landsleute am üppigen Buffet trifft. Ob man gerade in Afrika, Dubai oder San José ist, lässt sich maximal an der Hautfarbe des Personals erkennen und oft nicht einmal daran.
Hier plauderten wir unter dem Sternenhimmel von Marsabit, im Hintergrund bizarre Vulkankegel und hin und wieder heulte eine Hyäne.
Wieder ging ein anstrengender Tag zu Ende, aber wir hatten es hierher geschafft und ich hatte mir einen Traum erfüllt, der vor zwanzig Jahren entstanden war.