Peter Kruse zum Thema Soziale Netze

Endlich ein alter Mann mit Bart! So der erste Gedanke. Dann zeigt sich: Der ist gar nicht alt, zumindest nicht im Kopf. Ich habe sowohl eine kurze Rede (Peter Kruse (D) auf YouTube zum Thema soziale Netze – Internet zu Gast beim Dt. Bundestag am 5. Juli 2010) als auch seinen halbstündigen Auftritt auf der re:publika 2010 zusammengefasst und kommentiert (meine Kommentare kursiv).

Steigen wir gleich ein:

Wenn wir uns das INternet mit dem Web 2.0 ansehen, dann ist der Vergleich mit einer Revolution durchaus angebracht:

1.) Extrem hohe Dichte eines neuen Netzes,
2.) extrem hoher Austausch und extrem hohe Spontanreaktionen,
3.) plus kreisende Erregungen im Netzwerk (Re-Twitter-Funktion).

Das fußt auf Bedürfnissen der Menschen:
1.) Informationssammlung
2.) Spuren hinterlassen
3.) zu Bewegungen zusammenschließen = mächtig werden.

Ergebnis: Hochschaukelung, das System wird mächtig und nicht vorhersehbar – weil nicht linear, der Schmetterlingseffekt steht dazwischen.

Fazit: Es entsteht eine grundlegende Verschiebung der Machtverhältnisse vom Anbieter zum Nachfrager.
Große Firmen etwa verlieren binnen ganz kurzer Zeit stark an Sympathie und Image, vor allem, wenn sie falsch reagieren und das neue System mit alten Mitteln bekämpfen. Kruse: Umsatzrückgang kann man nicht mehr durch die Erhöhung von Werbemitteln oder Preissenkung wettmachen – der Dialog mit dem Kunden ist notwendig und meist neu zu lernen.

Vorhersehbarkeit geht daher nur mehr durch Empathie – der Wahrnehmung dessen, was zur Zeit resonanzfähig ist im System. Wenn man einigermaßen nah dran ist an den Menschen und am Markt, dann kann man ein Gefühl bekommen für die Resonanzmuster der Gesellschaft.

Die Folge: Wir bekommen einen extrem starken Mitarbeiter, Bürger und Kunden.

Internet-Thesen von Peter Kruse:

1.) Die Schärfe des Disputes pro und contra Internet ist Indikator für unzureichend reflektierte Wertedifferenzen.

Diese Werte werden vom limbischen System gesteuert und interpretieren blitzschnell alle Alltagssituationen. Sie stülpen feste, früh entstandene Werte über und bauen so Stress ab („Ah, das ist das also…“ „Das ist X, das kenne ich – mag ich – mag ich nicht etc.“). Ähnlich können wir das Phänomen interpretieren, dass sich 90 % aller Autofahrer zu den 10 besten Prozent rechnen. Mathematisch geht as nicht, aber wenn wir das nicht täten, könnten wir nicht mehr Auto fahren, weil wir ständig über unsere eigene mögliche Inkompetenz stolpern würden.

Spannender sind aber die kulturellen Wertewelten – also sozusagen das limbische System einer Gesellschaft.
Eine Untersuchung ergab, dass sich die Wertesysteme bezogen auf das Internet in zwei Welten spalten: Die „Digital Visitors“ finden das Netz gut, Freundschaften orten sie dort aber nicht. Die „Digital Residents“ finden das Netz auch gut, legen ihre Präferenzen punkto echten Freundschaften aber auch genau dort hinein. Fazit: Wenn diese beiden Gruppen über „Freunde im Internet“ reden, kommen sie zwangsläufig in einen Konflikt, und zwar wegen der hinter den Phänomenen und Gegebenheiten steckenden Wertewelten, die sich unterscheiden.
Zur Erklärung: Die Visitors finden die Aktivitäten (Flashmobs organisieren, Online-Petitionen, Twittern etc.) bezogen auf das Internet zwar wichtig, mögen sie aber nicht, sie widersprechen ihren dahinter verankerten Werten.

Die Untersuchung ergab, dass die beiden Gruppen in allen Altersschichten etwa gleich verteilt sind!

2.) Die Veränderungen durch das Internet sind systembedingt und daher außer durch Abschaltung des Netzwerkes nicht zu stoppen.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn das bedeutet: Die Gesellschaft hat das Internet erzeugt, weil sie es braucht, so wie ein Landlebewesen eine Lunge hat, um zu atmen, und keine Kiemen.
Das lässt das Gedankenspiel biomorpher Strukturen in Gesellschaften reizvoll erscheinen. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft verhält sich in gewisser Weise wie ein Organismus, wie ein Lebewesen sozusagen.
Wir können das gut bei Ameisen oder Termiten, aber auch bei Fischschwärmen beobachten, wo Einzeltiere so gut in ein Gesamtsystem integriert sind, dass sie quasi automatisch so reagieren, wie es für das System am besten ist. Das dahinter sichtbare Ziel ist das Überleben des Systems durch möglichst gute Anpassung an die äußeren Gegebenheiten. Das Überleben der Individuen steht dazu in einem dialektischen Verhältnis (eigentlich in einem aporetischen, aber die genauen Ausführungen dazu erspare ich den mir sonst nicht mehr so geneigten LeserInnen) – mit anderen Worten: sie widersprechen sich und bedingen einander und sind beide notwendig. Es kann die einzelne Termite nicht ohne ihren Staat überleben und der Staat nicht ohne die einzelne Termite. Das Verhältnis erscheint leicht verschoben, denn es muss nur EIN Staat zugrunde gehen, damit alle Individuen sterben. Wenn jedoch ein Individuum stirbt, geht der Staat nicht zugrunde. Das lässt den vorläufigen (!) Schluss zu, dass der Staat (die Gemeinschaft, die Gesellschaft…) das wichtigere System ist. Es lässt aber auch den ebenso vorsichtigen Schluss zu, dass Individuen nicht einen ganzen Staat beherrschen sollten.
Das Phänomen, warum Menschen trotzdem gerne einen allmächtigen Führer in Form eines Einzelwesens für alle Entscheidungen erschaffen, führt in eine andere Diskussion, hat aber meiner Meinung nach mit einer leicht pervertierten Überbewertung (inklusive der dazu passenden Wehleidigkeit) des Individuums zu tun. Aber vielleicht gehört das ja auch zur menschlichen Entwicklung.

Kruse führt hier die oben erwähnten Faktoren noch einmal genauer aus:

Drei zentrale Faktoren zur Wirkungssteigerung in Netzwerken:

1.) Die Zahl der Netzknoten und deren Verbindungen (hohe Koppelungsdichte)
2.) Der Grad der Spontanaktivität der Knoten im Netz (starkes Grundrauschen)
3.) Das Vorhandensein länger kreisender Erregungen (dynamische Engramme)

In diesem System ist Selbstaufschaukelung ein Basisprinzip: Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Autokatalyse durch emotionale Resonanzen.

Das mit den emotionalen Resonanzen ist so eine Sache. Es handelt sich hier um einen Begriff aus der Systemtheorie, ich erkläre es aber ein wenig anders: Das Bauchgefühl gewinnt wieder an Bedeutung. Spontane Reaktionen (und manche Wissenschafter behaupten, überhaupt alle Entscheidungen) werden nicht rational und bewusst getroffen bzw. finden auf diese Weise statt. Das entmündigt uns übrigens nicht, aber das ist ein anderes Thema. Die unglaubliche Vielzahl und Differenziertheit der Informationen, die wir ständig bekommen, löst Schutzmechanismen aus. Der frontale Kortex ist derjenige Gehirnteil, der in der Evolution als letztes hinzugekommen ist. Dort sitzt die Vernunft. Unter Stress (auch z. B. bei Überinformation) schaltet er sich weg, weil der Körper die Gehirnteile in umgekehrter Reihenfolge ihrer Entstehung abschaltet. Unter Stress kann man nicht mehr klar denken, heisst das.

Also bleibt die emotionale Entscheidung.

Autokatalyse ist die positive Rückkoppelung, also in diesem Falle die Aufschaukelung.

Das führt zur nächten These:

3.) Die Social Software des Web 2.0 ist ein Angriff auf die etablierten Regeln der Macht und erzwingt ein grundlegendes Umdenken.

Handlungsmotive von Einzelnen haben schon in der Vergangenheit immer nach Netzwerken gesucht, die ihre Möglichkeiten aufschaukeln (Macht der Massenmedien). Jetzt suchen wir nicht mehr das Netzwerk, meint Kruse, sondern ES sucht UNS.

Das würde wiederum für meine These des biomorphen Struktur sprechen, die sich im Organismus quasi als neues, wichtiges Organ verankert, seinen Platz sucht.

Kruse legt noch eine Hypothese drauf:

4.) Das Internet führt zur Erhöhung des Selbst-Bewusstseins der Gesellschaft. Eine Re-Politisierung jenseits der Parteien ist nur konsequent.

Das Spannende daran: Die Menschen sind nicht unbedingt prinzipiell politisch uninteressiert oder faul – sie wollen nur eine neue Form der Politik. Die alte Form dürfte die Notwendigkeiten unserer Welt nicht mehr abdecken. Dass das die Politiker als letzte Gruppe erkennen, ist jedoch interessant, wenn es auch nicht sehr verwunderlich erscheint, da ihr Muster die Reaktion und nicht die Aktion ist.

Die Musterbildung im Netz, so ergänzt Kruse, ist nur von denen durchschaubar, die auch mitten drin sind.
Kruse leitet Handlungsparameter ab:

1.) schnell und expansiv auch ohne Unterstützung der alten Medien
2.) penetrant und dauerhaft ohne Rückgriff auf etablierte Strukturen
3.) schlagkräftig und organisiert ohne Hierarchie und Führungsansprüche

Das wird möglicherweise nur schwer zu schaffen sein und ev. nur in Schritten gehen. Hierarchie etwa steckt so tief in uns drin, dass es wahrscheinlich mehrere Generationen braucht, um neue kollektive Ordnungsprinzipien zu entwickeln. Als Gruppendynamiker darf ich hinzufügen: Wir kennen sie noch nicht!

Kruse bringt den Satz von Max Winde (auf Twitter): Die sozialen Netze werden die Politik verändern. Ihr werdet euch noch wünschen wir wären politikverdrossen.

Und er gibt noch einen Tipp: Vergessen Sie Expertengremien – wenn Sie sich über das Netz unterhalten, dann tun Sie es bitte im Netz.

Seine letzte Hypothese lautet daher:

5.) Die Lawine donnert bereits zu Tal. Überzeugungsarbeit ist nicht notwendig. Und bist Du nicht willig, so brauch ich… Geduld!

Und er meint: Entspannt zurücklehnen! Denn diese Systeme werden eine Dynamik bekommen, aufgrund derer wir es uns gar nicht leisten können, sie nicht entsprechend zu beachten.

Ich ergänze, was mir daher notwendig erscheint:

1.) Das Social Web kritisch hinterfragen, um seine Grenzen kennen zu lernen und die darin möglicherweise verborgenen Perversitäten und Grenzüberschreitungen (Kinderpornographie, Mobbing etc.) beschreiben und bekämpfen.

2.) Die Kontrolle vieler (Wikipedia-Modell) über die Kontrolle Einzelner (staatliche Zensur) stellen. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft.

3.) Durch die Förderung lokaler, nachhaltiger Energieerzeugung die Aufrechterhaltung der Knoten gewährleisten. Parallel dazu der Ausbau demokratischer Strukturen in den Regionen und auf lokaler Ebene (Gemeinden etc.). Dezentral kontrollierte Netze können nicht abgeschaltet werden.

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