Erst neulich hab ich einen Shitstorm in Facebook aushalten müssen, weil ich es gewagt habe, die Toten des abgestürzten German-Wings-Flugzeugs mit der gleichen Menge an ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer zu vergleichen.
Die wichtigsten Argumente gegen mich:
1.) Die Flüchtlinge würden bewusst ein hohes Risiko eingehen – bei den Fluggästen wäre das nicht der Fall.
Das halte ich für eine sehr menschenfeindliche Aussage. Die Flüchtlinge würden auch lieber mit German Wings nach Europa fliegen, nur haben sie dafür nicht die Mittel.
2.) Das sind ja nur Wirtschaftsflüchtlinge, die zu uns schmarotzen kommen.
Niemand flüchtet aus Jux und Gaudi, sondern weil einem keine andere Wahl mehr bleibt. Das ist für jemand, der Afrika nur aus Kronenzeitungsartikeln, Fernsehnachrichten und dem Badeurlaub in Mombasa kennt, oft nicht verständlich. Von den Medien wird uns gerne das Bild serviert, dass die Afrikaner alle arbeitsscheu wären und uns nur unseren hart erarbeiteten Wohlstand wegnehmen wollen. Sie kämen über´s Mittelmeer, weil sie es bei uns „besser“ haben wollen.
Ja, das stimmt: besser als der Tod und besser als Hunger. Sofern man nicht auf der Überfahrt stirbt oder dann – was meist der Fall ist – zurück geschickt wird.
Sie wollen so wie wir ein gutes Leben führen. Wer jetzt meint, dann bräuchten sie ja nur was arbeiten, soll sich doch bei uns erkundigen, wie reich man mit Arbeit wird. Dazu kommt, dass es dort nicht so viel Arbeit gibt – die Landflucht ist enorm und in den Städten wachsen die Slums. Die Leute flüchten übrigens auch nicht gerne vom Land, sondern tun das nur, weil das Land sie nicht mehr ernähren kann.
Die Gründe dafür ist vielfältig:
Erstens gibt es Klimaveränderungen. Die sind in Afrika deutlich massiver als bei uns. Ob wir sie durch die von uns verursachte Umweltverschmutzung bewirkt haben, möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren.
Zweitens wird ihnen das Land weggenommen. Das funktioniert so: die Menschen leben seit sehr langer Zeit auf dem Land, betreiben Ackerbau und Viehzucht und leben durchaus zufrieden. Dann kommt der neue Distrikt-Verwalter und verlangt eine Besitzurkunde. Da die Menschen dort noch nie eine gebraucht haben und daher so etwas nicht besitzen, werden sie von ihrem Land vertrieben, nicht selten mit Gewalt. Dieses Land wird dann verkauft, meist an Inder oder Chinesen, die das Spiel in ganz Afrika betreiben, vor allem in Ost, aber auch in Zentral- und Westafrika.
Diese Menschen können nur mehr in die Stadt flüchten. Sie sind jetzt schon das, was wir verächtlich als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnen.
Ich bin übrigens der Meinung, dass alle Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge sind, denn auch in politischen Konflikten geht es um Geld und somit um Wirtschaft.
Drittens kann das Land sie oft nicht mehr ernähren, weil die Ressourcen fehlen. Ein Beispiel: rund um den Mount Kenya ist fruchtbares Land. Das notwendige Wasser kommt vom Berg und daher siedeln dort seit langer Zeit verschiedene Stämme. Dann kamen reiche Politiker und andere Herrschaften, kauften einen Teil des Landes und legten riesige Farmen an. Fast alles, was dort produziert wird, geht in den Export und macht die Großfarmer sehr reich. Unsere Rosen kommen z.B. zu einem Teil von dort. Damit sie bei uns billig sind, muss der Anbau billig sein. Deswegen leiten die Großfarmer, nachdem sie sich die Genehmigung dafür geholt haben (und ein wenig Bestechungsgeld mag dabei auch fließen), das Wasser auf ihre Farmen. Die kleinen Farmer rund herum gehen kaputt. Sie werden zu Wirtschaftsflüchtlingen.
Viertens macht Europa die afrikanische Wirtschaft kaputt. Eine der bekanntesten Geschichten ist die mit den Hühnern: in Deutschland und Holland essen die Menschen fast nur mehr Hühnerfilet, also das Brustfleisch. Der Rest des Huhnes ist uninteressant und wird daher anderwertig verarbeitet. Man presst die Hühnerteile in große Blöcke (1x1x1 Meter) und exportiert sie nach Westafrika. Dort werden sie spottbillig auf den lokalen Märkten verkauft, weil sie von der EU subventioniert sind (Exportsubvention).
Das macht die lokale Hühnerwirtschaft kaputt. Glücklicherweise konnten sich die Westafrikaner dagegen ein wenig wehren, weil die Qualität der mehrfach aufgetauten und wieder eingefrorenen Hühnerstücke entsprechend mies war. Aber das ist nur ein Beispiel von vielen.
3.) Die Fluggäste sind uns ähnlicher als die ertrunkenen Afrikaner – daher gilt unser Mitgefühl nur ersteren
Hier dürfte ein Lernschritt notwendig sein. Selbst wenn man das psychologisch irgendwie hinbiegen kann, zeigt es nicht gerade eine heroische Seite unserer als so hoch eingestuften Zivilisation. Erst heute kam die Meldung, dass ein Boot mit angeblich 550 Flüchtlingen gekentert sei, nachdem es gerade mal 80 Seemeilen geschafft hatte. Die italienische Küstenwache konnte 150 Menschen retten, die anderen werden „vermisst“.
Das mag sein, dass sie jemand vermissen wird. Europa gehört jedoch nicht dazu. Vielleicht erfahren Angehörige irgendwann, dass ihre Söhne, Väter, Brüder, Töchter, Enkel etc. ertrunken sind. Wahrscheinlich erfahren sie es nicht, denn oft flüchten hier ganze Familien – laut Fernsehbericht sind unter den Ertrunkenen viele Kinder.
Es flüchten also ganze Familien und nicht nur junge, männliche Drogendealer, wie uns gerne gesagt wird. Außerdem ist jeder ertrunkene Flüchtling ein Schmarotzer weniger, der hier bei uns ankommt und uns unseren hart erarbeiteten Wohlstand wegnehmen will. Es ist also ausgesprochen praktisch, wenn möglichst viele ersaufen.
Besser wäre es natürlich, wenn sie erst gar nicht flüchten würden. Aber das steht nun einmal nicht zur Diskussion, und wir sollten uns angewöhnen unsere Worte sorgsamer zu wählen. Diese Menschen flüchten nicht gerne, sondern sehen keine andere Chance.
Es mag unter diesen Flüchtlingen auch böse Menschen geben, aber deswegen sind gleich alle böse? Wie kommen wir zu dieser Anmaßung?
Mitgefühl wäre jedoch gefährlich, denn es führt zu einem Nachdenkprozess, vielleicht sogar zu schlechtem Gewissen. Dann könnte man die Kräfte, die uns diese Flüchtlinge vom Hals halten sollen (Frontex), nicht mehr bedingungslos gut finden. Im Extremfall müsste man sogar sehen, dass wir unseren Wohlstand zum Teil auf deren Armut aufbauen. Dann müsste man eigentlich etwas ändern, und wer tut das schon gern?
Nachtrag am 20. April: gerade kam die Meldung, dass noch einmal ca. 700 Flüchtlinge ertrunken sind. Es überrascht mich nicht, denn es werden immer mehr Menschen versuchen dem Tod zu entkommen und dabei doch nur den Tod finden.
Zur gleichen Zeit wurden im Parlament die Asylgesetze verschärft, nachdem man kurz davor große Betroffenheit geheuchelt hat. Unsere Regierung ist eine Schande.