Einst lehnte er im Stoll am Fassl…

…heut lehrt er an der Uni Kassel.

Dieser Spruch stammt von meinem lieben Freund Peter Bachmann und gehört leider seit gestern der Vergangenheit an (das „Stoll“ ist ein Lokal in Klosterneuburg und unser Stammplatz war rund um ein altes Holzfass zwischen Bar und DJ-Pult). Nach den ersten drei Semestern gab es letztes Sommersemester schon eine Pause, und dann jetzt noch ein letztes Aufflackern, bevor die Flamme meines Lehrauftrags endgültig erlischt.
Obwohl schlecht bezahlt und mit viel Mühe verbunden, hinterlässt es doch ein bisschen Wehmut, und ich frage mich, wieso.

Die Antwort liegt in den StudentInnen, ihre Freude an meinen Geschichten wird mir fehlen. Daher ist ein Blick zurück angebracht, jetzt, wo die Eindrücke noch frisch sind.

Die Uni Kassel ist eine Agglomeration von Backsteinbauten, Anfang der 1970er Jahre errichtet und der Architekt wurde nicht getötet, obwohl er es gleich mehrfach verdient hätte. Ich erwähne als besondere Schmankerln nur die unglaubliche Anordnung von Bauten, Hörsälen und Gängen. Wer sich dort nicht wirklich gut auskennt, gerät in einen Irrgarten, alles scheint gleich auszusehen, es gibt tausende Ecken und Winkel, selbst die zögerlichen Beschilderungen helfen nichts.
In den Gebäuden sieht es nicht viel anders aus. Man sollte an jedem Eingang Ariadne-Fäden verteilen, wobei man dann vor lauter Fäden auch nicht mehr durchkommen würde. Manche Stiegenaufgänge sind offen, andere hinter Türen versteckt, und es gibt keinerlei erkennbare Struktur in der Anordnung der unzähligen Räume und auch nicht in deren Nomenklatur. Ein Beispiel gefällig? Der Hörsaal 1215 befindet sich eine Ecke neben dem Hörsaal 1309. Warum? Das weiß niemand. Manchmal scheint eine Reihenfolge erkennbar zu sein, die ganz plötzlich wieder aufhört. Die Hinweisschilder in jedem Stockwerk teilen mit, dass es bestimmte Räume in genau diesem Stockwerk gibt. Wo man sie findet, sagen die Schilder nicht.

Die Hörsäle selbst sind wahnwitzige Gebilde mit teilweise unbrauchbaren Formen. So gibt es Fenster, die man nur mit akrobatischen Meisterleistungen öffnen kann oder mitten im Hörsaal wurde eine Säule hingebaut. Das ist nicht nur für einen Vortragenden verwirrend, denn bei voller Belegung gibt es eine Art toten Winkel, hinter dem sich dann eine Anzahl Studenten verbirgt. Vielleicht heißt es ja deswegen „Hörsaal“ und nicht „Sehsaal“, weil man von dort aus halt nichts sieht.

Manche Säle sind offen, andere versperrt, wieder andere haben ein Nummernschloss. Und man erlebt jedes Mal eine neue Überraschung, etwas wenn es darum geht, ob man Tische und Sessel vorfindet, und wie viele, und wie sie gerade angeordnet sind. Es gibt in den Hörsälen stets dreckige Tafeln, meist aber keine Kreide und niemals ein Waschbecken, um Wasser für das Säubern der Tafeln zu organisieren.
Der Willkommensgruß letzten Freitag sah so aus:

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Ich hatte wieder einmal ein hartes Wochenende vor mir: Freitag 5.30 Tagwache, dann mit dem ICE ca. 8 Stunden mit 1x Umsteigen bis Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe, dann mit der Straßenbahn quer durch die Stadt bis zur Uni, Seminar bis 20.30 Uhr, Samstag den ganzen Tag, Sonntag früh bis Mittag, dann wieder zurück mit dem ICE und um ca. 22 Uhr in Wien. Wobei das eine sehr optimistische Schätzung ist, denn meist gibt es irgendwo eine Verspätung. Wir hatten diesmal eine Baustelle zu umfahren und bekamen nur eine halbe Stunde aufgebrummt.

Die erste nette Überraschung erfuhr ich gleich zu Beginn, als ich an der Uni ankam. Mein Hörsaal (der schon erwähnte 1215) war eine Art extended Besenkammer, klein, mit besonders fetter Säule, Fenster nur in Form von seltsamen Oberlichten, vor allem aber viel, viel zu klein, für etwa 20 Personen geeignet, notfalls 30. Ich wusste: ich habe 50. Das wäre nicht nur eng, sondern gänzlich unmöglich. Also neuen Hörsaal suchen. Mein lieber Freund Rudi verriet mir den Zahlencode für 1219, den ich vor zwei Jahren schon einmal hatte. Auch mit prachtvoller Säule, aber größer, knapp ausreichend. Also zog ich wie Moses mit der Karawane aus und brachte meine StudentInnen in das gelobte Land, äh, den gefundenen Hörsaal. Leider war klar, dass ich ihn Samstags und Sonntags nicht haben konnte, da Rudi dort selbst Lehrveranstaltung hatte.
Also zog die Karawane am Samstag weiter. Die Hörsäle 1102 und 1309 waren belegt, und zwar beide durch den mir persönlich unbekannten Kollegen Jurkovsky. Wie das genau funktionieren sollte, war mir nicht klar. Würde er sportlich zwischen beiden Räumen hin- und hersprinten, Gruppenarbeiten beaufsichtigen und kleine Vorträge halten? Meine Hochachtung vor solch famosen Leistungen schwand, als sich herausstellte, dass der Kollege weder den einen noch den anderen Hörsaal brauchte – schlicht und einfach, weil er nicht da war, weder Samstags noch Sonntags. Er hatte nur beide reserviert und somit für mich blockiert. Gab es ihn überhaupt, oder ist der das Phantom der Uni?

So schnappten wir uns die Räume, einen für das Plenum und den anderen für zwei Arbeitsgruppen. Mir ist unbekannt, ob der Kollege für Abwesenheit bzw. Mehrfachbelegung (oder eben Nicht-Belegung) von Hörsälen bezahlt wird. Wenn ja, so einen Job hätte ich auch gerne. Und ich koffere für ein Wochenende von Wien nach Kassel und zurück. Nun gut, es war eh das letzte Mal.

Das administrative System der Uni Kassel hat auch etwas Gutes: Man lernt Selbständigkeit, und zwar als Student wie auch als Dozent. Diese Selbständigkeit fördert die Tatsache, dass ab Freitag Mittag alle Sekretariate fest verschlossen sind, die Dozenten der geblockten Wochenendveranstaltungen dürfen daher improvisieren: Wo bekomme ich Kreide her? Wer sperrt Sonntags den plötzlich abgeschlossenen Hörsaal auf? Man fühlt sich unwillkürlich gewollt, unterstützt, gewertschätzt etc.

Ich will nicht meckern, die von mir bestellten Flipcharts waren samt Papier und Stiften vorhanden. Da man die Hörsäle jedoch nicht zusperren kann, musste ich sie jeden Tag zwei Mal in den Lift hineinquetschen und in den durch Code versperrbaren Postraum bringen, damit sie nicht gestohlen werden, so wie die vielen Beamer in den Hörsälen, von denen nur noch leere Boards und ins Nichts ragende Stecker zeugen. So bleiben alte Professoren jung und junge Dozenten sehen manchmal ein wenig alt aus. Die StudentInnen dürften es gewohnt sein, sie nehmen die Lage recht stoisch hin, ganz im Gegensatz zu der praktizierten Geschäftstüchtigkeit eines meiner (mir ebenfalls unbekannten) Kollegen, der von all seinen TeilnehmerInnen verlangt, dass sie sein Buch kaufen, um die Lehrveranstaltung absolvieren zu können. Zum Sonderpreis von 80 Euro. Deswegen waren sie bei mir so erstaunt, dass sie mein Buch erstens nicht kaufen mussten und wenn sie doch wollten, dann um 15 Euro. Ich gebe nämlich den Autorenrabatt weiter.

So geht eine anstrengende Zeit vorbei. Vielleicht lehne ich ja demnächst wieder einmal im Stoll am Fassl. Und denke an Kassel, an diese seltsame Stadt in Nordost-Hessen, die im Krieg dem Erdboden gleich gemacht wurde (Panzerproduktion) und der man das heute stimmungsmäßig noch immer anmerkt. Die als einzige kulinarische Errungenschaft „Aaale Woarst“ hat, eine Art Kantwurst in einem Weckerl. Wo die Menschen meinen Vornamen „Giiido“ aussprechen und wo ich letzen Samstag Abend eine Kirschplunder und eine Marzipantasche um zusammen nur einen Euro bekam, weil sie von gestern waren. So wie ich inzwischen, an der Uni Kassel.

Ein Gedanke zu „Einst lehnte er im Stoll am Fassl…

  • 23. November 2011 um 11:23 Uhr
    Permalink

    Interessant, wie es an anderen Unis so zugeht. Ich denke, Du musst Dir aber wegen Kassel keine Sorgen machen. Die Zeiten ändern sich, statt Schlüssel zum Aufsperren versperrter Hörsäle benötigt man jetzt username und Passwort, um zur Lehrveranstaltung im Online Campus Zutritt zu erhalten. Derartige Entwicklungen werden zwar immer wieder auch kritisiert – wo bleibt die Kommunikation – aber ehrlich gesagt, was sagt der Mistkübel im Eck eines Ganges auf der Uni Kassel aus und wie läuft die Kommunikation, wenn man seinen Hörsaal erst suchen, finden und vielleicht gar verteidigen muss bevor man überhaupt anfangen kann. Der unauffindbare Kollege hatte wahrscheinlich auch genug und ist auf vermutlich schon E-Learning umgestiegen.

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