Der Währinger Wahlkrimi

Als letztes Jahr im Herbst die ersten Vorüberlegungen zur nahenden und doch noch so fernen Wien-Wahl auftauchten, meinten Silvia und Marcel, dass wir diesmal die Stimmenmehrheit in Währing schaffen könnten. Dieser Gedanke war elektrisierend, wagemutig, hoffnungsvoll und irgendwie geil.
Es wurde aber auch schnell klar, dass wir dazu einen wirklich guten Wahlkampf führen müssen und dass das sehr viel Arbeit bedeutet. Und natürlich ist es mit dem Risiko verbunden, dass wir es eventuell nicht schaffen. Dann wäre der gesamte Aufwand mit einem Schlag umsonst, denn für den zweiten Platz gibt es nichts, rein gar nichts – außer einen Bezirksvorsteher-Stellvertreter, na ja – okay, aber nichts, gar nichts im Vergleich zur mächtigen Bezirksvorstehung.

Es war in den internen Diskussionen auch schnell klar, dass der aktuelle Bezirksvorsteher, Karl Homole, wohl nicht leicht zu besiegen ist. Seit fast 25 Jahren im Amt, ein alter Fuchs, durchaus mit allen Wassern gewaschen und laut Silvia ein guter Wahlkämpfer.
Alles in allem eine echte Herausforderung, die wir nur mit viel Arbeit, noch mehr persönlichem Engagement und einem Quentchen Glück würden bewältigen können.

Wir beschlossen sie anzunehmen und machten uns sofort an die Arbeit. Viele Monate intensiver Vorbereitung folgten und im Frühjahr begann dann der Wahlkampf – zuerst etwas zäh, dann mit einer Sommerpause, in der wir zwar einige „Standln“ und ein paar kleinere Aktionen setzten, mehr aber auch nicht.
Was aber auch kam war die syrische Flüchtlingskrise mitsamt den bekannten Auswirkungen auf ganz Wien. Die Landesorganisation der Grünen fand darauf keine Antwort und wir wussten, dass dies unsere Chancen nicht gerade verbesserte.

September und die wenigen Tage bis zum 10. Oktober waren mit unzähligen Aktionen gepflastert, durchgeführt von einer wirklich guten, ausreichend großen und schlagkräftigen und sehr motivierten Truppe. Wir kämpften bis zum frühen Nachmittag am Samstag, um dann mit flauem Gefühl in den Wahlsonntag zu starten.
Und jetzt steigen wir hier live in den spannendsten Krimi ein, den ich je live erleben durfte.

Es ist Sonntag 16 Uhr und ich steige unter die Dusche, um rechtzeitig um 16:40 in meinem Wahllokal zu sein. Dort werde ich nicht nur wählen, sondern auch Wahlzeuge sein. Ich habe einen Eintrittsschein, der mich dazu berechtigt als Zeuge bei der Wahl und der anschließenden Auszählung in einem (übrigens auch meinem) Sprengel anwesend zu sein. Sonstige Rechte oder Pflichten habe ich nicht.
Also fülle ich meine Stimmzettel aus und melde mich dann bei der Leiterin der Wahlkommission. Diese hat mich nicht mehr erwartet und bereits als „nicht erschienen“ vermerkt. Sie ist aber sehr nett und macht das rückgängig, worauf ich auf einem Sessel Platz nehme und die letzten Wähler beobachte, die kurz vor Wahlschluss noch schnell ihre Stimme abgeben. Die Wahlbeteiligung, so erfahre ich, wäre diesmal ausgesprochen hoch und man erwarte etwa 500 Stimmen, die auszuzählen wären.
Ob die Wahlzeugen zum Auszählen eingeladen werden, liegt an der jeweiligen Leitung der Wahlkommission. Ich biete meine Dienste an (irgendwie wäre nur zuschauen fad und auch sinnlos) und schon geht es los: Urne öffnen, Kuverts schlichten, dann öffnen und mit dem Auszählen beginnen. Die anderen 6 Leute sind allesamt nett und freundlich und es rennt sogar ein guter Schmäh, zu dem ich ein wenig beitragen kann.
Als die Gemeindestimmen ausgezählt werden, wird sehr schnell deutlich, dass die SPÖ extrem vorne liegt. Ein erstes, ganz zart ungutes Gefühl stellt sich ein, aber es handelt sich um die Gemeinderatswahl und dass die an die SPÖ gehen würde, war klar. Das Scheinduell mit der FPÖ war ein ebensolches, nicht nur hier in Währing.

Wir arbeiten gut und flott und dann sind wir schon bei der Bezirksvertretungswahl. Jetzt wird es spannend, und zwar richtig. Die Stapel wachsen, die FPÖ fällt immer weiter zurück, auch die ÖVP schwächelt ein wenig, aber SPÖ und Grüne wachsen beständig. Dann werden die Stapel ausgezählt. Grün, rot, grün, rot – beide Stapel erscheinen – in Zehnerblöcke sortiert – gleich hoch. Die Auszählung ergibt eine Abweichung zur Liste, also muss noch einmal nachgezählt werden. Die Spannung bei mir steigt, ich zähle vorsichtshalber die SPÖ aus und nicht die Grünen, um jeden Unregelmäßigkeitsverdacht auszuräumen (den es eh nicht gibt, man vertraut sich hier, was sehr angenehm ist und nicht in allen Wahlkommissionen so abläuft).

Schließlich ist das Ergebnis da und ich notiere es auf einem kleinen Kartonstück:

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Stimmengleichheit mit der SPÖ. Na prack. Und das in einem Sprengel, der bei der letzten BV-Wahl 2010 grün war – ich weiß zwar nicht wie viel, aber grün. Und jetzt das.
Ich greife zum Telefon und rufe Silvia an, denn wir haben vereinbart, dass alle Wahlzeugen ihre Sprengel-Endergebisse abliefern, damit wir eine erste Einschätzung bekommen.
Andreas ist am Telefon und meint, auch in den anderen Sprengeln sei die SPÖ sehr stark, eigentlich sogar ziemlich vorne. Ich bekomme wackelige Knie und kann es nur schwer fassen. Die Roten waren im Wahlkampf nahezu nicht präsent und im Bezirk die letzten fünf Jahre auch nicht wirklich. Ich hatte schon im oben erwähnten Herbst bei den ersten Vorgesprächen meine Sorge geäußert, dass die Roten die lachenden Dritten sein könnten. Dem wurde heftig widersprochen: das würde nicht passieren, sie wären so schwach, dass da keine Gefahr vorhanden wäre.
Doch jetzt ist alles anders, der Spin der SPÖ, die Gewissheit, dass wir Stimmen an die Roten verlieren würden, und möglicherweise nicht zu knapp.
Ich wanke nach Hause und beschließe, gleich zur Wahlparty der Grünen in den Volksgarten zu fahren. Fahrrad oder Roller? Ich entscheide mich für den Roller, ich bin einfach zu müde zum Radfahren und irgendwie auch zu bequem.

Im Volksgarten erwartet mich eine seltsame Stimmung, laute Musik und ich bin so ziemlich der Einzige mit einer grünen Jacke. Alle anderen in „zivil“ und ich beginne zu ahnen, dass das nicht mein Abend wird – nicht hier, nicht heute.
Andreas und noch ein paar andere aus Währing erscheinen, überall lange Gesichter. Wir wissen zwar noch nicht wirklich was konkretes, aber es dürfte die SPÖ vorne liegen. Ich erkundige mich nach der Einschätzung von Silvia und höre, dass sie noch vorsichtig optimistisch ist. Das beruhigt mich aber nicht und auch die Tatsache, dass das kleine Bier hier um 4,80- Euro ausgeteilt wird und es auch nur ein teures Buffet gibt, bessert meine Laune nicht gerade. Hier treffen sich heute all die Kämpferinnen und Kämpfer aus 23 Bezirken, die wochen- oder sogar monatelang unbezahlt geschuftet haben, und dann gibt es nicht einmal ein paar Würstl oder einen Willkommensdrink.
Die ersten Hochrechnungen sind schon da und ich bin mit dem Ergebnis der Grünen auf Gemeindeebene gar nicht unzufrieden – interne Prognosen hatten etwas von „Abfallen bis 10%“ geraunt, nun würde es ungefähr ein Prozent Verlust geben. Das halte ich für okay, den Umständen folgend sogar für sehr okay.
Hier ist übrigens das Gemeinde-Endergebnis (Quelle alle Statistiken: wien.gv.at)

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Aber eigentlich interessiert es mich nicht sehr, denn meine Sorge gilt Währing. Dann treffen Alexander aus der Josefstadt und Barbara aus Wieden ein. Sie wissen schon, dass sie im Bezirk verloren haben. Beide waren auf Bezirksebene unsere stärksten Hoffnungsbezirke und es war irgendwie klar, dass sie die Bezirksvorstehung holen. Und jetzt ist es aus und vorbei. Für beide. Mir tut das sehr leid, denn ich mag sie und habe sehr gehofft, dass sie es schaffen.
Auch die anderen Hoffnungsbezirke würden es wohl nicht schaffen: Mariahilf und Alsergrund liegen hinten, von der Inneren Stadt ganz zu schweigen.

Meine Stimmung sinkt rapide und mich ärgert die laute Diskomusik und dass ein Haufen junger Grüner auf der Bühne stehen und eine halbe Stunde lang auf das Eintreffen der Chefin warten. Sie stehen da im Scheinwerferlicht und langweilen sich. Ich rede noch mit ein paar Freunden, aber die Stimmung wird nicht besser. Ich hasse den Volksgarten seit dreißig Jahren und jedes Mal, wenn ich herkomme, steigert sich das noch.
Ich jammere noch ein paar arme Opfer mit meinem Frust über den scheinbaren Gewinn der SPÖ in Währing an und beschließe dann nach Hause zu fahren. Marcel fragt, ob ich nicht wenigstens die erste Bezirkshochrechnung abwarten möchte, aber ich habe dazu eigentlich keine Lust mehr. Alles rund um mich herum ist irgendwie unfreundlich und ich will auch mit meiner Stimmung nicht über Gebühr abfärben.
Also steige ich auf den Roller und bekomme am Ring eine SMS von Marcel. Ich habe keine Lust sie anzusehen und beschließe eine satte Konderdependenzhandlung zu setzen und mir ein paar fette, garantiert ungrüne Burger beim Schachtelwirt zu holen.

Daheim entdecke ich, mehr oder weniger genussvoll meine Burger und Fritten lutschend, das erste Bezirksergebnis von Währing. Und auf einmal sieht die Sache ganz, ganz anders aus. Währing ist grün, die SPÖ ziemlich geschlagen und auch die ÖVP schon merkbar hinter uns.

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Das ist überraschend, das ist komplett jenseits von dem, was ich befürchtet hatte, und es ist jenseits all der Infos, die ich bis dahin hatte.
Hoffnung keimt auf – das könnten wir doch noch schaffen!
Soll ich noch einmal in den Volksgarten fahren? Nein, das ist heute dort nicht meine Party, warum auch immer. Ich beschließe hier zu bleiben und im Internet die weitere Entwicklung zu beobachten. Noch sind erst 14 von 41 Sprengel ausgezählt, und da die Ergebnisse wahlsprengelweise eintrudeln, ist hier noch überhaupt nichts entschieden, auch wenn meine Hoffnung ständig wächst.
Auf Facebook treffen die ersten Gratulationen ein, die ich nur mit „zu früh“ beantworte.

Und dann kippt es auf einmal. Mit jeder neuen Grafik wächst der Balken der ÖVP, sie zieht unaufhaltsam an uns vorbei.

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Ich bin geschockt und frage mich, was da los ist. Ein SMS an Marcel soll helfen. Der schreibt zurück „Geduld“ – aber ich habe keine Geduld. Wofür soll ich Geduld haben? Ich bin ungeduldig, wenn es um solche Dinge geht.
Der Abstand beginnt wieder zu schmelzen, aber er bleibt auf einem Niveau, das in mir keine guten und schon gar keine hoffnungsfrohen Gefühle auslöst. Warum kann das nicht noch einmal drehen, das hat doch vorher zu unseren Ungunsten auch funktioniert?

Irgendwann so gegen ein Uhr nachts beschließe ich schlafen zu gehen. Ich bin müde und heute würde sich nichts mehr verändern. Die Wahlkarten würden das Rennen morgen entscheiden. Gute Nacht!

Der nächste Morgen. Ich hab nicht gut geschlafen. Als ich den Computer aufdrehe, plötzlich die Überraschung: Wir sind vorne!

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Ich habe keinen blassen Tau, wie das funktionieren konnte. Als ich schlafen ging, waren 40 von 41 Sprengel ausgezählt. Die Frage, warum das überhaupt so unglaublich lange gedauert hat, wurde mir erst viel später beantwortet (spannend, vor allem weil wir selbst mit der Bezirksstimmenauszählung um 19 Uhr fertig waren): Es hängt vom jeweiligen Leiter der Wahlkommission ab. Manche sind locker, andere pingelig. In diesem Fall hatte ich eine sehr lockere Dame, Robert hatte in der großen Wahlkommission einen schwer überforderten Pedanten und daher mussten sie manche Arbeitsschritte mehrfach tun, sinnloserweise.
Nun keimt wieder Hoffnung auf. Das können wir schaffen. Allerdings fehlen noch die Wahlkartenstimmen und da hat uns die ÖVP das Ergebnis bei der Nationalratswahl noch umgedreht – so um ca. 90 Stimmen. Das ist nichts, das ist gar nichts für einen Bezirk mit über 30.000 EinwohnerInnen, und genau deswegen tut es umso mehr weh.
Jetzt heißt es warten und zwar ziemlich lange. Robert hat gemeint, die Auszählung würde um 12 Uhr beginnen und so ca. 2,5 bis 3 Stunden dauern. Allerdings hat er das vorgestern gesagt und da wusste er noch nix vom Wahlkommissionsleiter.
Ich hasse warten. Deswegen suche ich mir sinnvolle und weniger sinnvolle Beschäftigungen: Ein wenig Vespazangeln, Geschirrwaschen oder Bügeln. So vergeht die Zeit und Robert schickt irgendwann die Nachricht, dass sie jetzt mit der Auszählung beginnen.
Die Spannung steigt. Ich sage mir mehrfach, dass ohnehin alles schon gelaufen ist, denn das Ergebnis steht ja seit gestern 17 Uhr fest. Wir wissen es halt noch nicht, aber es gibt genau genommen überhaupt keinen Grund zur Nervosität. Das ist logisch und leuchtet mir ein.
Leider zählt Logik für den Bauch, wo die Emotionen entstehen und damit auch die Nervosität, genau original überhaupt nichts. Rein gar nichts. Daher werde ich immer nervöser, esse ein wenig, habe aber keinen Appetit und beschließe, den Sonnenschein auszunützen und einen Spaziergang zu machen. Am besten in den Türkenschanzpark, das ist nicht allzu weit und mein Handy nehme ich mit. So kann ich jederzeit die entscheidende SMS oder den entsprechenden Anruf bekommen.

Ich plane den Spaziergang auf ein bis 1,5 Stunden und marschiere los. Mit flottem Gehen müsste sich die immer stärker anwachsende Nervosität beseitigen lassen, sie kann quasi meinen schnellen Schritten nicht folgen.
Das funktioniert gar nicht so schlecht. Die Sonne scheint und ich marschiere durch das Cottage bis zum Park. Es ist ein traumhafter Herbsttag, die Luft ist kühl und klar, die Blätter auf den Bäumen beginnen sich einzufärben, nachdem sie Währing den ganzen Sommer über grün eingefärbt haben. Grün eingefärbt – da ist sie wieder, die Nervosität.
Ich erinnere mich, dass ich vor einem Jahr eine schamanische Reise durch den Türkenschanzpark gemacht habe und beschließe, das noch einmal zu tun. Man braucht dazu nur ein Eingangstor (gibt es reichlich im Park) und einen Wunsch, den man für sich formuliert.
Ich wünsche mir, dass Silvia gewinnt. Das ist ein ziemlich fetter Wunsch, aber ich will ihn nicht abschwächen. Plötzlich merke ich, dass meine schamanische Reise schon begonnen hat, obwohl ich noch gar nicht durch das Eingangstor gegangen bin. Das ist so, schamanische Reisen haben ein Eigenleben und lassen sich nur bedingt beeinflussen.
Der Park ist schön wie immer und ich lasse mich einfach treiben. Es gibt gefühlte hundert Abzweigungen, der ganze Park ist ein gestalterisches Meisterwerk mit unglaublicher Vielfalt, für mich der schönste Park in Wien.
Bei einer schamanischen Reise verändert sich die eigene Wahrnehmung. Dinge bekommen plötzlich eine Bedeutung, stechen ins Auge, lassen sich riechen oder ändern schlagartig die eigene Stimmung. Ich versuche an den Gesichtern und Typen der Menschen, die mir entgegen kommen, einen Hinweis auf unseren Wahlsieg zu erkennen. Das funktioniert eher schlecht als recht, aber die die Menschen wirken samt und sonders entspannt und freundlich. Ich beschließe, das einfach als gutes Zeichen einzustufen und marschiere weiter.
Ich bin noch nie so viele Abzweigungen und Runden gegangen, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Die Stimmung ändert sich ständig und auch die Wahrnehmungsformen, von sehen über hören bis riechen – alles ist da und mir durch die letzte schamanische Reise vor einem Jahr auch schon bekannt.

Dann komme ich zum größten Teich im Park und sehe am Springbrunnen einen Regenbogen. Das ist das Zeichen, auf das ich gewartet habe. Vielleicht ist dieser Regenbogen ja öfter zu sehen, aber für mich ist es das erste Mal. Ich zücke das Handy und mache sofort ein Foto.

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Genau genommen mache ich eher fünf oder sechs Fotos, was mein Handy damit quittiert, dass es sich spontan ausschaltet. Ich weiß, dass das am schwachen Akku liegt, der mit drei Jahren seine beste Zeit schon hinter sich hat.
Okay, dann bekomme ich die entscheidende SMS erst daheim, auch egal. Ich lasse mir die wunderschöne Reise nicht vermiesen und setze sie noch ein wenig fort. Dann ist die Zeit gekommen um nach Hause zu gehen.
Als ich daheim das Handy wieder an den Strom anstecke, bekomme ich keine Entwarnung, auch sonst keine Nachricht. Das gibt es doch nicht! Die Stimmen müssten längst ausgezählt sein!
Ich werde wieder nervös und merke, dass ich noch eine Stunde Zeit habe, bevor ich zu unserer Steuerungs-Sondersitzung muss, bei der wir das Ergebnis und die daraus entstehenden Konsequenzen diskutieren wollen. Das funktioniert übrigens nur, wenn es schon ein Ergebnis gibt und das ist noch nicht der Fall.
Also gönne ich mir eine Dusche und denke mir, dass ich ohnehin nichts außer warten tun kann.

Dann wird es Zeit in unser Lokal zu gehen – eine Pizzeria in der Schulgasse. Ich beschließe noch eine ganze Ladung meiner selbstgemachten Marmeladen mitzunehmen, damit ich im Falle eines Sieges ein Geschenk an alle meine KollegInnen habe und im Falle einer Niederlage einen kleinen Trostspender. Mit ca. 25 Gläsern im Rucksack mache ich mich auf den Weg, der ja nicht lang ist.
Dort befindet sich bereits ein Haufen nervlicher Wracks, also bin ich in guter Gesellschaft. Wir besprechen lustlos die einzelnen Programmpunkte für unser Treffen nach der Wahl und für das heutige BO-Treffen, das hier ab 19 Uhr stattfindet. Spätestens dann müssen wir ein Endergebnis haben. Wobei – was heißt „müssen“ – wir müssen genau genommen gar nichts haben, denn die Auszählung dauert so lange wie sie eben dauert.
Und wie lange dauert so eine Auszählung? Das kann doch nicht wahr sein, es wird langsam 17 Uhr und vor 24 Stunden haben die Wahllokale geschlossen, und zwar alle. Und die Sch…Wahlkarten, wie viele können das sein und wie lange kann das dauern, die einfach zu zählen? Wir pfeifen sowieso auf die unnötigen Vorzugsstimmen, es geht jetzt darum, ob wie Währing grün machen, ob wir das schaffen, ob die nächsten fünf Jahre elende Oppositionsarbeit bedeuten oder ein grünes Währing.

Ich will endlich ein Ergebnis! Dummerweise bleibt das ein frommer Wunsch und Silvia legt ihr Handy vor sich auf den Tisch, um die entscheidende SMS gleich sehen zu können. Jede Sekunde zählt. Jede Minute dauert eine Stunde. Irgendwann ruft Robert an und meint, es wären insgesamt ca. 5.500 gültige Stimmen, die ausgezählt werden müssen.
Wir diskutieren, wie viel das ist und wie lange das dauern kann. Unser Ergebnis: schon vor 2-3 Stunden oder länger hätte es nach Menschenermessen ein Ergebnis geben sollen.
Dummerweise geht es nicht nach Menschenermessen sondern nach dem Ermessen des Wahlkommissionsleiters, und der will nicht. Inzwischen ist es 19 Uhr geworden und die meisten BO-Mitglieder sind schon da, allesamt nervös bis auf die Knochen. Das gemeinsame Leid macht es dummerweise nicht besser, meine Wahlkalauer und mehr oder weniger seichten Schmähs nutzen irgendwie nicht viel.
Der Kellner bringt Pizza und Bier, ich nuckle aber an einem kleinen Apfelsaft, weil ich sonst irgendwie noch keinen Appetit auf ein gutes Bierli habe.

Minuten werden zu Stunden, Stunden werden zu Ewigkeiten. Der entscheidende Anruf von Robert kommt nicht. Dafür kommen noch mehr nervöse BO-Mitglieder, um sich mit uns gemeinsam in einen ordentlichen Thrill hineinzuhypen (ein grauenvolles Wort, aber nicht so grauenvoll wie das Warten).
Ich versuche mit kleinen Scherzen die Runde aufzulockern, was teilweise gelingt. Wir fragen uns ständig gegenseitig, warum es wohl so lange dauert. So lang kann das bitte wirklich nicht dauern. Warum ruft Robert nicht an?

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, kommt eine SMS von Robert. Er schreibt, dass die Stimmen der Grünen ausgezählt sind und die der ÖVP teilweise. Und es gäbe noch einen Reststoß von geschätzten 650 Stimmen. Silvia und ich schnappen uns je einen Zettel und einen Stift und versuchen auszurechnen, wie es theoretisch ausgehen müsste. Wir kommen auf einen Unterschied von ca. 40 Stimmen, die wir noch vorne liegen. Das ist knapp, das ist sogar verdammt knapp. Wenn Robert sich verschätzt hat, ist es aus.
Jetzt wird das Warten noch einmal unglaublich spannend. Die Minuten vergehen und wir ahnen, dass auch diesmal die Zählung mehrfach durchgeführt werden könnte. Hoffentlich nicht, das stehen wir irgendwie nicht mehr durch.
Die Zeit vergeht und auch wieder nicht. Minuten werden zu Stunden, die Luft knistert vor Spannung, der Kellner traut sich schon fast nicht mehr zu uns herein. Die Scherze werden weniger.

Dann kommt der Anruf von Robert. Wir liegen nach fertiger Auszählung 117 Stimmen vorne. Doch es ist noch nicht zu Ende, denn die EU-Wahlkarten müssen noch ausgezählt werden. Wie viele sind das? Angeblich ca. 500. Aber genau wissen wir es auch nicht. Der Vorsprung könnte reichen, aber sicher ist das nicht. Es ist überhaupt nicht sicher, aber die Chance lebt, es könnte sich ausgehen. Es muss sich ausgehen. Es darf jetzt nicht mehr schief gehen. Bitte nicht!
Wir diskutieren kurz darüber, wie es denn jetzt den Leuten von der ÖVP geht. Die sitzen sicher genau so wie wir um einen Tisch herum und warten auf das Ergebnis. Und ihr Verhalten wird genau das Gegenteil von unserem sein, so viel ist sicher.

Jetzt steigt die Spannung einerseits ins Unerträgliche, andererseits breitet sich fast eine Art fatalistische Ruhe aus. Etwas von der Spannung ist quasi vor die Türe gegangen eine rauchen.
Wie lange kann die Auszählung von nebbichen 500 Stimmen dauern? Das mach ich mit einer Hand in 15 Minuten, locker. Und dazwischen ess ich noch was. Dummerweise zähle ich aber nicht aus, sondern irgendwelche Schleicher in der Kommission. Ich beginne ihre Langsamkeit zu hassen, ich will endlich ein Ergebnis, mehr als 24 Stunden nach der Wahl, das muss doch möglich sein.

Wieder kommen Anrufe, jedes Mal schrecken wir hoch, ein lauter Schrei wird im Ansatz erstickt, es ist nur Ute, die schon bei der Landeskonferenz ist. Oder irgendwer, der gratulieren will. Wir beginnen die Anrufer zu hassen. Und jetzt steigt auch wieder die Spannung.

Dann eine kurze SMS. Was Silvia genau sagt, höre ich nicht mehr, denn es geht unter in einer wahnwitzigen Kaskade an ca. 25 Jubelschreien, die genau genommen Brüller sind, verdammt laute Brüller. Wer in der Nachbarschaft noch nicht wusste, wie die Wahl ausgegangen ist, der weiß es jetzt. Einige fallen sich um den Hals, andere sitzen einfach da und grinsen, einige packen es gar nicht.
Ich gehöre irgendwie zu allen Fraktionen, aber die pure Freude überwiegt. Es ist interessanterweise keinerlei Triumph über den Sieg gegen einen starken Gegner dabei, sondern nur die reine Freude für Silvia. Sie ist das größte Risiko eingegangen, für sie haben wir wochenlang gekämpft, eigentlich monatelang.

Dann wird es wieder ruhiger, denn das Ergebnis ist noch nicht offiziell. Leichtes Bangen macht sich breit: haben wir zu früh gejubelt? Wir alle wollen jetzt die Bestätigung, doch Robert schreibt, dass das noch ein wenig dauern wird.
Wie fix ist es? Ist es wirklich fix? Robert, sag was!

Er sagt kurz nix, doch dann kommt irgendwie schon die Bestätigung, dass nichts mehr schief gehen kann. Wir liegen mit 212 Stimmen vorne. Das ist nicht anfechtbar, das ist deutlich genug, da kann sich auch bei 100x auszählen nichts mehr verändern.

Wenn im TV irgend ein Sportler meint, er könne es noch gar nicht fassen, lächle ich immer mitleidig. Jetzt weiß ich selbst, wie das ist, denn ich kann es auch noch nicht fassen. Es sind so Erkenntnisfragmente, die unzusammenhängend im Raum schweben und keine gemeinsame, ganze Gewissheit ergeben.
Das ist aber auch irgendwie egal, denn jetzt ist es Zeit für ein großes, kühles Bier als Belohnung. Angelika teilt Cupcakes aus, die sie am Nachmittag selbst gebacken hat. Dazu gibt es Schaumwein auf Haus (also eigentlich nicht auf Haus, sondern von der Silvia) und ich teile Marmeladen aus: für jede(n) hier gibt es ein Glas selbst gemachter Marmelade, sozusagen als Versüßung des Ergebnisses. Ich habe ordentlich geschleppt an den schweren Gläsern, aber das war es wert.
Hier sieht man meine Berechnungen:

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Schließlich ist jeder jedem einmal um den Hals gefallen und die Szenerie wird wieder ruhiger. Nach einiger Zeit kommt auch unser erschöpfter Held Robert aus der Wahlkommission und wird mit richtig viel Applaus empfangen. Wir sind jetzt unter uns, das wahlkämpfende Kernteam, und wir haben uns das Feiern redlich verdient.
Auf den nächsten beiden Bildern sieht man Silvia, die eine Gratulations-SMS empfängt sowie einige von uns, entspannt herumfacebookend oder twitternd.

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So geht der spannendste Real-Life-Krimi zu Ende, den ich je erlebt habe.

NACHTRAG

Der alte Bezirksvorsteher Karl Homole ist Geschichte und darf seine wohlverdiente Pension mit 74 endlich antreten. Hier ist sein faires Abschiedsstatement (Quelle: Facebook)

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Es gibt zum ersten Mal seit über 60 Jahren eine nicht-schwarze Bezirksvorstehung, noch dazu eine Frau und eine Grüne. Die Grünen haben mit Währing als einzigen Bezirk eine grüne Bezirksvorstehung erobert, die schon existierende und verteidigte in Neubau nicht mitgezählt.
Hier sieht man, wie die Bezirke aussehen:

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Auf der nächsten Grafik (alle: wien.gv.at) sieht man das knappe Ergebnis der Währinger Bezirkswahl.

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Spannend ist noch der Unterschied zur Gemeindewahl in Währing. Manche Bezirke – wie Ottakring – haben hier ein fast deckungsgleiches Ergebnis zur Bezirkswahl, bei uns ist es sehr verschieden:

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