Was mir sofort aufgefallen ist: Der hat sich nicht hamdraht! Alle Amokläufer der letzten Jahre haben sich selbst erschossen. Gestern wurde mir auf die Frage danach geantwortet: Die Linken bringen sich danach um, die Rechten nicht.
Ich bezweifle das, ohne hier irgend eine Statistik zu kennen. Aber darum geht es gar nicht. In der aktuellen Sendung „Runder Tisch“ wurde es schon angesprochen: Wir leben in einem Internet-Zeitalter und das spielt eine zunehmend immer größere Rolle. Möglicherweise auch für diesen Fall.
Davor musste man (Mann – Amokläufer sind meines Wissens immer männlich) sich in die entsprechende Gesellschaft begeben, ob dies nun eine politische Partei oder ein Jugendlager war. Mann musste in der realen Welt Kontakte knüpfen und etwa irgendwo von irgendwem lernen, wie man eine Bombe baut oder auch mit einer Waffe umgeht.
Jetzt ist das nicht mehr unbedingt so. Heute kann Mann zum Amokläufer werden und alle Vorbereitungen treffen, ohne Mitglied einer Gruppe zu sein oder auch nur irgend jemand zu treffen. Anders Breivik hat sich nicht nur die notwendigen technischen Informationen aus dem Internet geholt, sondern auch die vielen hasserfüllten Manuskripte, die er scheinbar brauchte, um sich in seinen Wahn hineinzuleben. Er dürfte sich von der realen Welt entkoppelt haben. Schade, dass er nicht in seiner Welt geblieben ist, sondern leider zurückkehren musste.
Die Ballerspiele mit täuschend echter Grafik heißen nicht umsonst „Ego-Shooter“ oder auch „First-Person-Shooter“. Darin versucht man möglichst realgetreu zum Amokläufer zu werden und alles niederzuknallen, was sich bewegt. Das Skript für sein reales Massaker schrieb ihm das „Game“. Irgendwann dürften die Menschen auf der Insel für ihn auch nur mehr virtuelle Gestalten gewesen sein, die er umbringen musste. Im Spiel muss man sie ja auch umbringen.
Ist es ein Glück, dass er bis zu seiner Verhaftung nicht mehr in die Realität zurück gefunden hat? So wird sich zumindest die Möglichkeit ergeben, diesen Menschen (auch wenn das hart klingt: er ist ein Mensch und kein Tier, denn Tiere machen so etwas nicht) genau zu studieren. Die Frage ist nur, ob das was hilft. Den Toten hilft es nichts. Kann wenigstens die Gesellschaft daraus lernen?
Bisher hatten die meisten Amokläufer noch einen gewissen Bezug zur realen Welt. Das ist für mich die beste Erklärung, warum sie sich selbst aus ebendieser entfernten. Anders Breivik hat sich eine komplett virtuelle Welt aufgebaut, mit einer virtuellen Gefahr (Islam), mit Guten und Bösen. Diese klare, eigentlich schon radikale Einteilung in Gut und Böse macht ihn zum Psychopath der gefährlichsten Sorte: vorher nicht erkennbar, extrem gefährlich, kaltblütig, ohne Reue und ohne Emotionen. So stellen sich die meisten Militärs den idealen Soldaten vor: ohne Familie und daher ohne Bindungen und ohne Kontrolle durch andere Menschen.
Er sieht aus wie einer von uns. Er ist auch einer von uns, und das macht ihn so gefährlich. Er gehört zur Generation Internet – einem Typ Mensch, der sich lieber am Bildschirm einen Sonnenuntergang ansieht als hinauszugehen und sich selbst einen anzusehen. Er hat Beziehungen geknüpft, aber diese waren auch in erster Linie virtuell, also über das Internet.
Warum ist er nicht vor dem Bildschirm geblieben? Das wird sicher das größte Rätsel sein, das es zu klären gilt. Was hat ihn dazu bewogen, zumindest in einem gewissen Maß in die Realität zurückzukehren?
Er mag einer gewisse Veranlagung dazu haben, aber in welchem Ausmaß hat das Internet diese Anlagen verstärkt, heraustreten lassen, gefördert? Ob er ohne Internet auch zum Massenmörder geworden wäre, steht nicht zur Debatte, denn das Internet ist nun einmal da und scheinbar nicht nur ein Segen. Die wirre Sammlung an Ideologien und Verrückheiten, die sich in seinem 1500 Seiten starken Pamphlet findet, ist ein gutes Zeugnis für die Art und Weise, wie uns das Internet beeinflusst: Wir können uns jederzeit einen Cocktail aus allen möglichen Ideen brauen. Eine Doktorarbeit ist genauso schnell geschrieben wie eine Bombe gebaut ist.
Entgleitet uns das Internet? Ist die derzeitige Internet-Generation der 30 bis 40jährigen noch nicht so gut darauf eingestellt, dass sie die schädlichen Seiten abwehren kann?
Jedenfalls ist es gerade in Norwegen leicht, sich automatische Waffen zu besorgen, mit denen man die Computerspiele möglichst realistisch in die Tat umsetzen kann. Wofür brauchen eigentlich Privatpersonen diese Schnellfeuer-Maschinenpistolen, außer um damit Amokläufe zu begehen? Zur Jagd? Zur Selbstverteidigung? Aber gegen wen? Gegen andere Amokläufer?
Hoffentlich gibt es wenigstens eine Waffendebatte im schönen Norwegen. Den Herrn Breivik würde ich die Gräber für all seine Opfer schaufeln lassen. Nicht virtuell, sondern real. Und bitte, gebt ihm im Gefängnis keinen Internet-Anschluss. Zumindest das Recht auf die virtuelle Welt sollte er sich in der Realität verspielt haben.