Beim Kudlicka

Es ist wie ein Ausflug an einen zeitlosen Ort (Captain Kirk vom Raumschiff Enterprise würde sagen, der Kudlicka befindet sich „außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums), in eine schon lang nicht mehr existierende Welt.
Der Kudlicka ist eines der letzten verbliebenen Vespa-Geschäfte Wiens. Der Filipo macht keine alten Vespas mehr und hat auch keine Ersatzteile mehr, der Jahelka verkauft moderne Plastikroller und beim Faber gibt es großteils nur mehr junge Mechaniker, die nichts mehr von alten Vespas verstehen – einen aus der „alten Garde“ haben sie noch und bieten auch die Restauration alter Vespas an – hier muss sich jeder selbst ein Bild machen.

Der Kudlicka ist der letzte seiner Art. Wenn man in die Österleingasse im 15. Bezirk fährt, betritt man eine andere Welt. Ich war nach knapp 25 Jahren wieder dort, um Ersatzteile für meine alte Vespa zu kaufen, und der Herr Kudlicka sieht immer noch genauso aus wie vor einem Vierteljahrhundert, an ihm als Person scheint die Zeit vorübergegangen zu sein. Auch seine Stimmungsschwankungen gibt es noch und das ist auch sein gutes Recht. Das Geschäft hat sich auch nicht verändert, wenngleich das Haus gegenüber mit seinem Innenhof, auf dem unzählige Generationen von Vespa-Fahrern Gasseile gewechselt und Kupplungen eingestellt haben, letztes Jahr abgerissen wurde.
Aber das Geschäft gibt ets noch und nach wie vor stehen alte Vespas dort herum. In der Auslage liegen – leicht verstaubt – Gepäckträger, Rennauspuffanlagen und Zylindersets – wie schon seit Jahrzehnten, wie schon seit immer.
Der Kudlicka ist inzwischen über 80 und steht jeden Tag hinter der Buddel, auch am Samstag. Der Herr daneben ist nicht, wie viele inklusive meiner Wenigkeit glauben, sein Partner, der Radakovits, sondern der „Sergio“, und auch er ist seit über 25 Jahren der Gleiche, mit seinem Akzent und seiner speziellen Art, die Augenbraue hochzuziehen.

Wer etwas vom Kudlicka will, der muss sich umgewöhnen. Der Kudlicka hat fast alles, aber nicht immer hat er Lust, es dir zu verkaufen. Der Kaufvorgang hat etwas Magisches – Du betrittst das Geschäft und trägst dein Anliegen vor. Danach „entsteht“ der jeweilige Gegenstand irgendwo unter der Buddel. Der Kudlicka sieht dich meist wortlos an und greift mit einer Hand (ohne von dir wegzublicken) hinunter, zieht es hervor und legt es auf die Theke. Dann sagt er irgendeinen Preis. Du zahlst und gehst, aber Du verlässt das Geschäft mit einem völlig irrwitzigen Gefühl von Unsicherheit, gepaart mit Dankbarkeit. Wo kam das her, wieso hat er genau das unter seiner Buddel? Es ist nämlich egal, ob Du einen kleinen Schraubnippel für ein Gasseil brauchst oder eine ganze Vespa. Er hat alles unter der Buddel.
Wenn er etwas dort nicht hat, dann wird er leicht mürrisch. Er geht halt nicht mehr so gerne herum. Dann dreht er sich um und greift nach hinten. Spätestens dort hat er es. Mir ist es sogar passiert, dass er über die Straße in ein anderes Lager gegangen ist, um mir einen Spiegel zu holen. Ein einschneidendes Erlebnis, ohne Frage, wenn einem diese Ehre zuteil wird. Da fragt man nicht mehr nach dem Preis, da zahlt man gerne und ohne zu zögern.

Das mit den Preisen ist auch eine interessante Sache. Er weiß sie einfach, immer und von allem. Es sieht aber so aus, als würde er sie sich in dem Moment gerade ausdenken, und es sieht vor allem so aus, als ob er sie aufgrund deines Gesichts, deiner Person festlegt. Er mustert dich kurz und dann sagt er eine Zahl. Und du zahlst. So einfach ist das beim Kudlicka.
Manchmal kann man auch ein wenig handeln oder bekommt eine Kleinigkeit, die man noch braucht, gratis dazu, eine Dichtung oder so etwas.
Es ist völlig unklar, woher der Kudlicka seine Ersatzteile bekommt und auch, nach welchen Kriterien er sie verkauft. Ich vermute, es ist seine momentane Stimmung und ob er dich gerade heute sympathisch findet oder nicht.
Neulich bekam ich einen Kolben für eine Vespa GS 150, Übermaß 57,2 mm (mein alter Kolben war angerieben, zerbrochen, kaputt). Er hatte ihn direkt hinter sich liegen, und das ist kein gängiges Modell. Der Kolben war auch kein indischer Nachbau von GOL, sondern ein markenloser Kolben, aber sehr gut gearbeitet. Er hat ihn aus einem Zylinder gezogen, der dort ebenfalls herumlag. Einfach so.
Der Preis war bis auf wenige Cent der gleiche wie der, den ich im Internet bei einem deutschen GS-Spezialisten bezahle. Einfach so, der Kudlicka hat ihn sozusagen aus der Hüfte geschossen.
Als er mir letztes Jahr eine Vergaserdüse verkaufte, bei der die Düsenbohrung schlicht und einfach nicht vorhanden war (ich hatte es erst zuhause entdeckt und bin wieder hingefahren), ging er auf die Straße, blickte kurz durch, nahm die Düse und schleuderte sie in hohem Bogen in die Baugrube auf der anderen Straßenseite.
Dann bekam ich eine neue, mit Bohrung. Ich glaube, er mag mich.

Nicht alles ist rosarot beim Kudlicka. Er hat immer wieder Ersatzteile, die nicht optimal passen und man kann sich nicht sicher sein, wie gut eine Reparatur sein wird. Auch das hängt vom Glück und von der Stimmung ab, in der er sich befindet. Das Problem: er ist der letzte seiner Art, man kann nirgends sonst mehr hinfahren, nur er (und seine Mechaniker) kennen sich noch aus, nur er hat die Teile, die man sonst nirgends mehr bekommt und schon gar nicht in Wien. Das Internet ist kein vollwertiger Ersatz und wenn man zum Generalimporteur fährt und etwa einen Zylinderkopf für eine Vespa GS haben will… nun, das soll jeder selbst ausprobieren, vielleicht hat man ja Glück, vor allem für die PX-Modelle gibt es noch Neuteile.

Wenn der Kudlicka einmal aufhört, bricht die Vespa-Szene in Wien zusammen. Eine neue Ära wird beginnen, man wird sich nicht mehr am Samstag Vormittag in der Österleingasse über den Weg laufen, außer der Sergio übernimmt das Geschäft. Er ist inzwischen auf einer ähnlichen „Welle“ wie der alte Kudlicka und er kennt sich auch gut aus.
Hoffen wir das Beste, hoffen wir auf ein langes Leben des Herrn Kudlicka, hoffen wir darauf, dass diese Enklave in Zeit und Raum noch lange besteht. Wir haben es uns verdient, beim Kudlicka einkaufen zu dürfen. Es wäre an der Zeit, eine Am-Schauplatz-Folge zu drehen: Beim Kudlicka, dem Vater der Vespas und der Vespa-Fahrer.

7 Gedanken zu „Beim Kudlicka

  • 27. März 2010 um 12:14 Uhr
    Permalink

    Das stimmt! Kudlicka – Rules!

  • 15. Juni 2010 um 10:13 Uhr
    Permalink

    außerhalb der Zeitschleife… wie wahr, wie wahr!!

  • 18. November 2010 um 22:53 Uhr
    Permalink

    habe nach 26 jahren(er kennt mich noch als wär´s gestern gewesen)diesmal aber für die 85-er pk meiner tochter schaltseile gekauft……ablauf siehe oben….fürwahr ein erlebniss…das mit der zeitreise ist ja quasi schon alleine das einbiegen in die österleing…..toller bericht

  • 31. Dezember 2010 um 11:29 Uhr
    Permalink

    Toller Bericht!

  • 15. Oktober 2011 um 12:36 Uhr
    Permalink

    Danke für den guten Artikel! Ich fürchte immer wenn ich hinfahr‘, dass es das Haus nicht mehr gibt od. Ähnliches.
    Wünsche dem alten Herrn Gesundheit u. ein langes Leben. Nicht wg. der Teile etc. – die bekommt man schon auch wo anders. Sondern wg. der im Bericht angesprochenen Magie die mir fehlen würde (und irgendwann leider auch fehlen wird :-(). Ciao

  • 20. November 2011 um 12:45 Uhr
    Permalink

    auch ich wünsche diesem unglaublichen original kudlicka ein langes leben.bin seit längerem kunde bei ihm.am anfang verwundert ,später überrascht,letzlich begeistert von dieser kompetenz.hut ab, auch vor segio.

  • 11. Oktober 2016 um 20:03 Uhr
    Permalink

    ja so issses… nach 30 Jahren Vespa und Kudlicka-Abstinez alles scheinbar unverändert.schön dass sowas auch noch gibt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert