Die Renaissance der Ochlokratie

Ich kannte den Begriff selbst bis vor ein paar Jahren nicht, finde ihn aber inzwischen als wichtigen Orientierungspunkt in der politischen Diskussion.

Anlass ist die 180-Grad-Kehrtwende der ÖVP punkto FPÖ im Januar 2025. Davor gab es im Wahlkampf und auch danach (Herbst 2024) eine sehr klare Linie: Keine Koalition mit der Kickl-FPÖ.
Das war ohnehin schon eine Mauer mit Hintertürchen, das aber letztlich gar nicht benutzt werden musste. Nach dem Scheitern der Verhandlungen zu einer Dreierkoalition (ÖVP-SPÖ-NEOS) gab es binnen weniger Stunden eine Kehrtwende und auf einmal war die FPÖ ein willkommener Regierungspartner, wobei man seitens der ÖVP den Kanzler abgeben muss und noch einiges mehr.

Interessant ist für mich das, was dahintersteckt.
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten Politik zu betreiben:

1.) Ich mache ein Programm und versuche möglichst viele Menschen davon zu überzeugen. Wenn ich eine Mehrheit zustande bringe, setze ich das Programm in der mir zur Verfügung stehenden Zeit bis zur nächsten Wahl um.

2.) Ich höre, wer am lautesten schreit und das verkünde ich dann als Programm. Das ändert sich immer, wenn die Lauten etwas anderes schreien oder wenn andere lauter werden.

Die zweite Variante nannten die Griechen „Ochlokratie“, was so viel heißt wie „Herrschaft der Lauten“. Dazu passt folgender, alter Witz:

In einer Gefängniszelle sitzen drei Herren und unterhalten sich, warum sie eingesperrt wurden.
„Ich habe fünf Jahre bekommen, weil ich war für Popov.“
„Ich habe zehn Jahre bekommen, weil ich war gegen Popov.“
„Gestatten: Popov.“

Die Ochlokratie ist heute manchmal auch als „Populismus“ bekannt. Man braucht dafür keinerlei Programm mehr, gewählt werden stattdessen Einzelpersonen bzw. deren öffentliches Auftreten. Die Sprüche zu den Bildern sind meistens austauschbar, ohne konkrete Inhalte, kurz gehalten und oft auch sehr schreierisch, also für die Lauten gemacht, die das dann laut nachschreien.
Außerdem wird man dadurch selbst laut.

Inhaltliche Tiefe ist dabei nicht mehr notwendig, alles kann oberflächlich bleiben, muss es sogar, die Tiefe würde die Menschen langweilen, weil sie nach einiger Zeit nur gewohnt sind alles in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert zu bekommen. Die Ochlokratie funktioniert nur, wenn die Menschen – die Wähler:innen – auch mitmachen. In einer Zeit, in der sich die Convenience-Food-Regale in den Supermärkten vervielfacht haben und der Trend immer stärker wird alles von daheim vom Sofa aus mit einem Knopfdruck zu kaufen, hat die Ochlokratie als Convenience-Politik mit ihrem Bequemlichkeitsangebot leichtes Spiel.
Die Nebenerscheinungen sind gravierend: Wir können eine zunehmende Volatilität der Wähler:innen erkennen, die immer öfter spontan und sehr kurzfristig entscheiden, wem sie ihre Stimme geben. Die Schwankungen sind in den Wahlergebnissen der letzten 20 Jahre gut zu bemerken. Die Grünen etwa flogen 2017 aus dem Nationalrat und erzielten 2019 das beste Ergebnis seit ihrer Gründung.
Die Partei hat sich dabei genauso wenig verändert wie ihr Programm. Daran kann man gut erkennen, dass das eigentliche Herzstück einer politischen Partei, nämlich ihr Programm, das einer Linie folgt, die wiederum auf Grundwerten aufgebaut ist, immer weniger zählt.
2024 war fast noch extremer: Die Grünen sind auf den Populismus-Zug aufgesprungen und haben statt eines Programms eine junge Frau als Quereinsteigerin quasi als Programm zur Wahl aufgestellt. Aus der recht vehementen Umweltaktivistin wurde ein süßes Mauserl mit Herz gemacht. Die Umfragewerte sagten ein gutes Ergebnis voraus.
Dann wurde die Spitzenkandidatin (dahinter gab es medial und in der Kampagne eigentlich nichts mehr, kein Programm, kein Team) rausgeschossen und das Ergebnis war ein Wahldebakel.
Die Gegner hatten leichtes Spiel, sie mussten nur eine Schwachstelle finden und diese medial ausbreiten.

Aber selbst wenn es ein Programm gibt oder zumindest einen programmatischen Ansatz, funktioniert das nur mehr sehr bedingt. Die Grünen hatten bei der Nationalratswahl 2024 immerhin den Klimaschutz als Ansage. Das hat nur sehr wenige Menschen interessiert, sie wählten vor allem laute Männer.
Das mag die Komplexität vielleicht nicht ganz beschreiben, aber die Grundströmung meine ich zu erkennen.

Leben wir in einem ochlokratischen System? Nach dem Sieg von Trump in den USA und dem Triumph der Rechtspopulisten in zahlreichen europäischen Staaten beantworte ich diese Frage inzwischen mit einem klaren „Ja“.

Wie geht es weiter?
Das hängt davon ab, wie intensiv uns die Klimakrise trifft und welchen Narrativ das auslöst. Es wäre eigentlich höchste Zeit der momentanen Entwicklung weltweit eine vernünftige Politik mit einem klaren Programm entgegenzusetzen. Dazu müssen die Menschen aber aus der Bequemlichkeit heraus und das wird schwierig.
Das Problem der Populisten ist, dass sie für komplexe politische Herausforderungen und Aufgaben keine Lösungen haben. Dort, wo oberflächliches Geschrei nicht reicht, braucht es einen Plan, der die Komplexität bändigen kann und als Basis für Entscheidungen dient, die sehr oft nicht populär sind. Da bedarf es dann gemeinsamer Kraftanstrengungen, da muss man schwierige Phasen durchhalten und noch einiges mehr.
Die Verlockungen der Überflussgesellschaft haben bewirkt, dass viele Menschen glauben ein Recht auf Überfluss und Bequemlichkeit zu haben. So lange ihnen das jemand verspricht, wird die Ochlokratie wohl noch die Oberhand behalten.

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