One moment in time…

Ein paar Worte zu der gerade eben im Alter von 48 Jahren verstorbenen Whitney Houston.

Wer bei dem folgenden Video nicht ein klein wenig Gänsehaut bekommt, braucht diesen Blog nicht weiterlesen:

Was für eine Stimme!
Und wieso muss jemand erst sterben, um ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, wie es bei vielen Prominenten passiert und derzeit natürlich wieder auf Facebook zu beobachten ist?

Die Gesellschaft ist ein gieriger Rachen, der einzelne Personen auffrisst und erst bei ihrem Tod wieder ausspuckt. Die Reste liegen dann manchmal von Drogen zerstückelt in irgend einem Hotelzimmer oder einer Villa. Eigentlich nicht nur manchmal, sondern ziemlich oft, auch wenn es immer wieder Individuen gibt, die diesem Schicksal entkommen, aber ich muss länger nachdenken, damit mir dafür Beispiele einfallen.

„In Wien musst erst sterben, bevor sie dich hochleben lassen“ – dieser Satz wird dem Qualtinger zugeschrieben. „Aber dann lebst ewig“ hat der Falco ergänzt. Das gilt übrigens nicht nur für Wien, und daher lohnt es sich, eine Ebene tiefer zu gehen. Oder am besten gleich mehrere.

Der Mensch ist ein Widerspruchswesen, daraus entsteht – philosophisch gesprochen – erst das Menschsein. Wir haben es übrigens mit vier Grundwidersprüchen zu tun:
Leben – Tod
Alt – Jung
Männlich – Weiblich
Eines – Vieles

Alle anderen Widersprüche bauen auf diesen vier auf. Heute möchte ich mich mit dem letzten beschäftigen: Eines und Vieles. Damit ist der Widerspruch zwischen dem Individuum und der Gruppe gemeint, denn in dieser Konstellation haben die Menschen den Großteil ihrer Entwicklungsgeschichte gelebt. Später kamen größere Einheiten dazu: Fürstentümer, Großreiche, Staaten, Staatengemeinschaften und Gesellschaften bis hin zur Weltgesellschaft.

Je größer diese Einheiten, desto größer auch der Widerspruch Eines – Vieles. Whitney Houston war das, was wir einen „Weltstar“ nennen, und daher mit dem größten denkbaren Widerspruch konfrontiert. Das Maul, das sie geschluckt und jetzt wieder ausgespuckt hat, war sozusagen das denkbar größte.

Das Monstrum heißt übrigens „Freizeitgesellschaft“ und ist eine Erfindung der Moderne, die zwischen Arbeit und Freizeit trennt. Diese Freizeitgesellschaft braucht Sinn stiftende Elemente, um existieren zu können, quasi ihre Nahrung. Dafür werden Individuen gesucht und gleichsam „geopfert“. Dieser Ritus des Opfers ist uralt und funktioniert bis heute, auch wenn wir es nicht so nennen. Die Menschen werden ausgewählt („gecastet“) und gefüttert (mit Plattenverträgen, Filmrollen, Geld, öffentlichen Auftritten etc.) und am Schluss geopfert. Dann wird ein neues Opfer ausgesucht und es geht von vorne los. Die Profiteure sind nicht andere Menschen, sondern die Gesellschaft. Das war schon vor tausenden Jahren so, ich erinnere an das Kolosseum in Rom. Dort werden die Individuen auf den Rängen zu einer Masse und für eine kurze Zeit verschwindet der Widerspruch zwischen Einem und Vielem. Damit das funktioniert, muss es ein Individuum geben, das aus der Masse heraus geholt wird, übrigens auch nur für kurze Zeit. Das funktioniert umso besser, je individualisierter dieser Mensch ist, bzw. gemacht wird. Dadurch werden diese Individuen als solche gut erkennbar, der Abstand zur Masse muss entsprechend groß sein.

Natürlich zahlt das Individuum einen Preis, im Normalfall sein Leben als Individuum. Diesen Preis zahlt es meist doppelt: zuerst wird es Gegenstand der Massenbetrachtung, also der Öffentlichkeit. Dabei verliert es seine Individualität („Ich kann nirgends hingehen ohne erkannt zu werden“) und zugleich wird genau diese Individualität verstärkt, indem die Person in eine extreme Sonderposition gehoben wird. Die ist dadurch definiert, dass sie nur von wenigen Einzelpersonen erreicht werden kann, und zwar von so vielen, wie die Masse braucht, um rund um die Uhr unterhalten zu werden. Den zweiten Preis zahlt das Individuum mit seinem Tod. Der ist notwendig, damit neue Opfer gefunden werden können, aber auch, um das Opfer erst perfekt machen zu können, quasi um es abzurunden. Die wenigen Menschen, die sich aus dieser Rolle befreien können, finden manchmal irgendwo auf der Welt einen Platz, an dem sie in Frieden alt werden können, gestört nur durch gelegentliche Besuche von Reportern aus der Was-wurde-eigentlich-aus-Liga.

Manchmal genügt es der Masse die Person zu zerbrechen. „Person“ heißt übrigens „durchtönende Maske“ und deutet auf die notwendige Maske hin, die das Individuum braucht, um sich eine Zeit lang vor der Masse verstecken zu können. Deswegen werden die Promis auch meist stark geschminkt und verändert, um ihnen quasi eine Atemschutzmaske zu geben, die sie vor dem allzu schnellen Verbrennen schützt.

Die notwendige Erhöhung zum massentauglichen Individuum wird durch eine Komprimierung erzeugt, also ein extrem verdichtetes Leben oder eine besonders ausgeprägte Eigenschaft:

I’ve lived to be
The very best
I want it all
No time for less

Es braucht nicht zu wundern, wenn diese Leben dann schneller zu Ende gehen als „normale Leben“. Körper und Geist halten diese oft extreme Beschleunigung meist nur mit chemischer Unterstützung durch, besonders beliebt sind hier Alkohol und andere Drogen.

Zerrissen wird das Opfer übrigens durch den Grundwiderspruch Eines – Vieles. Es muss nämlich einerseits extrem individualisiert werden, um quasi tauglich zu sein, andererseits muss es als Mensch, als Teil der Gesellschaft erkennbar bleiben. Auch dafür werden die Drogen gebraucht, die dann Bilder von ganz normal aussehenden Menschen erzeugen, die ein von Leiden durchzogenes Leben haben (Britney Spears ist so ein Fall). Hässlich aufgedunsen und am nächsten Tag wieder perfekte Göttin – so liebt es die Masse, so wird ihr klar, dass der Widerspruch voll einschlägt, dass das Opfer perfekt ausgewählt wurde, tauglich ist für die Riten, nach denen das Monster lechzt.

Verstärkt wird die Sucht der Masse durch extreme Zeiten, in denen z. B. die Sicherheitssäulen bröckeln. Dann ist eine kollektive Flucht notwendig, und die gelingt am besten, wenn es eine möglichst perfekt aufgebaute Scheinwelt gibt. Früher wurde diese um Mitternacht durch die Bundeshymne und das Testbild begrenzt, heute läuft sie rund um die Uhr und zeigt sehr schön die Veränderung der Gesellschaft und auch, in welche Richtung die Entwicklung geht: Panem et circenses, gebt den Leuten Brot und Spiele! In meinem Buch „Ich bin doch nicht frei – willkommen im blöden Markt!“ habe ich das genauer dargestellt und ich merke, es bleibt aktuell.

Wenn die Maschine rund um die Uhr laufen soll, dann braucht es dafür mehr Opfer und natürlich muss auch deren Qualität besser werden, also extremere Individualität und immer gleichere Masse: Rund um die Uhr sitzen die Menschen vor den gleichen Vergnügungsgeräten (Flatscreens) und nehmen die gleichen Ruhigsteller zu sich (Pizza, Pommes, Burger, Kebab, Cola, Bier) – Nahrungsmittel mit viel Fett und Kohlehydraten. Die Stars kommen und gehen immer schneller und es werden mehr, die Auswahl wird größer und durch die Globalisierung verstärkt sich das noch.

Die Angleichung der Opfer funktioniert auch durch einen weiteren Mechanismus: Sie bekommen für eine bestimmte Zeit ein (scheinbar) ideales Leben geschenkt, das aus der Summe unserer Wünsche besteht: große Villa mit Pool, teure schnelle Autos, Privatjet, Kaviar und Hummer den ganzen Tag. Auch dieser Mechanismus ist uralt, schon vor tausenden Jahren wurden die künftigen Opfer wie Könige behandelt, sie wurden sogar zu Königen gemacht, zu Königen auf Zeit.
Je besser ein Individuum dies repräsentiert, desto besser ist es als Opfer geeignet. Je schneller und wilder es lebt, sein vieles Geld verbraucht (siehe Michael Jackson), desto prachtvoller wird sein Opfertod. Dieser funktioniert übrigens dann besonders gut, wenn er tragisch ist (also schnell und plötzlich passiert). Auch langes Siechtum funktioniert, weil dadurch wird das Opfer wieder Teil einer Gesellschaft, deren Individuen auch meist nach längerem Siechtum ableben. „Er/Sie ist so wie wir und doch ganz anders“ – das ist der notwendige Widerspruch. Schnelles Wechseln zwischen diesen beiden Seiten hilft dem Mechanismus: Die Stars müssen in einer fernen Welt (Hollywood, Monaco) leben und zugleich angreifbar werden, daher sind öffentliche Auftritte notwendig, bei denen die Individualisierung zur Schau gestellt wird – Konzerte, Sportereignisse etc. Dort trifft die Masse auf das Individuum und vereinigt sich mit ihm. Das funktioniert vor dem Fernseher, wenn halb Österreich zum Fussball-Bundestrainer wird, aber auch im Leben („Live“), etwa in Stadien, wo die Masse im gleichen Rhythmus schwingt wie der Star auf der Bühne. Das „per-sonare“, also das Durchtönen, zeigt sich hier wieder: die größten Stars haben mit Musik zu tun. Dieses Medium verbindet sehr schnell und direkt, Musik durchtönt die Masse, sie nimmt sozusagen den Star in sich auf, verschlingt ihn, das Viele verschmilzt mit dem Einen, wenn auch nur für Momente. Whitney Houston hat das sehr schön dargestellt:

I want one moment in time
When I’m more than I thought I could be
When all of my dreams are a heartbeat away
And the answers are all up to me
Give me one moment in time
When I’m racing with destiny
Then in that one moment of time
I will feel
I will feel eternity

Die angesprochene Ewigkeit ist ja nur im Tod zu erlangen, womit wir bei einem anderen Grundwiderspruch wären. Und die Träume, die nur einen Herzschlag entfernt sind, repräsentieren die Individuen aus der Masse, die sich emotional nur einen Herzschlag weit weg von ihrem Star empfinden und es bei Konzerten sozusagen auch sind. Aber nur für den Moment.
Mehr zu sein als man dachte, dass man sein kann – das ist das Schicksal der Stars, die das für die Zeit ihres Ruhmes auch sind. Das Individuum kann etwas erreichen, was ihm als Individuum nicht zusteht, nämlich aus der Masse herausragen. Und zugleich will die Masse genau das, dass ihr Menschen vorzeigen, dass es das Individuum doch kann, obwohl es das nicht kann, weil es immer sterblich und somit Teil der Masse bleiben wird. Oder durch den Tod unsterblich wird, daher müssen die Stars sterben, sozusagen umso mehr, je höher sie oben sind. Damit liegen auch die Antworten bei den Stars, sie sind verkörperte Antworten des Widerspruchs und sie geben diese Antworten zur Masse zurück. Dort löst sich der Widerspruch für kurze Zeit auf, in Momenten der Ekstase, getrennt vom normalen täglichen Leben, im Rausch, in der Menge.

Die Individuen leben in ihrem Leben bestimmte Aspekte der Stars. Sie fahren Autos, die fast so aussehen wie die der Stars, und sie singen in Karaoke-Abenden die Musik. Das nähert sie den Stars an und zeigt zugleich, wie weit sie wirklich davon entfernt sind. Die Artefakte müssen käuflich sein, also der Masse zur Verfügung stehen. Dabei reichen Plagiate, die Originale wären zu teuer. Und es reicht der Wunsch danach, also nach der Villa, die man sich mit einem Lottogewinn leisten könnte und an der die meisten Lottogewinner trotzdem scheitern, weil dieses Leben eben nicht für die Individuen der Masse gemacht ist, ohne dass sie den entsprechenden Preis zahlen. So ein Leben „gratis“, also nur durch den Kauf eines Lottoscheins zu erhalten, ist fast unmöglich. Aber der Wunsch danach zählt, und er zählt umso stärker, je schlechter es den Individuen geht, also in den schon erwähnten Zeiten der Unsicherheit, wenn die Säulen bröckeln. Dann steigt der Pizzaverbrauch und Glückspiel sowie Drogenkonsum nehmen zu.

Das Schicksal der Stars (When I´m racing with destiny) macht sie wieder zum Teil der Masse, weil genau dieser Masse ihr Schicksal gehört, sie hat es schließlich erzeugt. In der Annahme des Schicksals vereint sich das Individuum wieder mit der Masse. Das Schicksal selbst besteht darin, letztlich doch von der Masse verdaut und wieder ausgespuckt zu werden.

Und doch gibt es einen Ausweg, ein Schlupfloch. Manche Stars schaffen es und entkommen, sie wählen sich ein anderes Schicksal, wenngleich auch manchmal ihre Umwelt (Angehörigen, Freunde) den Preis dafür zahlt. Wird es Bruce Springsteen schaffen? Hat es Tina Turner geschafft? Manche haben zugehört, wenn ihnen gesagt wurd: Achte darauf, dass Du rechtzeitig aussteigst, von Bord gehst, dich schleichst. Sei eine der Ratten, die das sinkende Schiff schon im Hafen davor verlassen haben. Es gibt einen spannenden Film (Flashpoint, 1984), wo Kris Kristofferson zu Treat Williams sagt: „Hau ab, jetzt gleich. Sei einer von denen, die davon kommen!“

Whitney hat es nicht geschafft, aber ihre Stimme hat die Masse verschluckt und erinnert sich daran. Für einen Moment, für one moment in time.

3 Gedanken zu „One moment in time…

  • 9. März 2012 um 22:46 Uhr
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    Schön geschrieben! Danke!

    LG, Reinhard

  • 13. März 2012 um 15:15 Uhr
    Permalink

    das ist ein testkommentar.

  • 13. März 2012 um 15:35 Uhr
    Permalink

    jetzt ein test mit genehmigung

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