Rom mit einer 39 Jahre alten Vespa – Tag 4

Weg war er, der Appetit. Ich hatte gut geschlafen und auch mein Genick wirkte wieder okay für einen neuen Tag on the road, aber ich musste nach einem halbem Semmerl aufgeben, obwohl Helga mir ein fantastisches Frühstück bereitet hatte, mit selbstgemachter Zwetschgen-Feigen-Marmelade, einem weichen Ei und Käse und Speck und noch viel mehr. Es war mir peinlich, das alles übrig zu lassen, aber ich brachte keinen Bissen mehr runter.
Ich hatte Reisefieber, weit mehr als noch am Tag zuvor. Objektiv gesehen war alles bestens, die Vespa lief gut, ich war in einem traumhaften Quartier und das Wetter war exzellent, kein Wölkchen am Himmel. Und trotzdem hatte ich Stress, genauer gesagt Angst vor der langen Fahrt und dass wieder was kaputt gehen könnte.
Helga setzte sich zu mir und ließ mich über mein Reisefieber erzählen, über die Sorgen, die ich mit dem Motor hätte und über das blöde Suchen nach der richtigen Strecke alle paar Kilometer.
Sie blickte mich lange an und gab mir dann einen entscheidenden Tipp: „Wir waren längere Zeit in Alaska und dort haben wir gelernt, wie man am besten mit so einer Situation umgeht, nämlich mit der Alaska-Methode. Repariert wird etwas erst, wenn es kaputt ist. Davor benützt man es und kümmert sich nicht darum.“
Ja, das war es, was mir weiter half. Es vertrieb zwar nicht den gesamten Stress, aber ich atmete ein wenig auf. Dann kam noch Sigi dazu und gemeinsam studierten wir die Karte.
„Je weiter Sie in den Süden kommen, desto mehr alte Vespas gibt es und da wird es auch leichter, eine Werkstatt zu finden, wenn wirklich was sein sollte“ meinte er und beschrieb mir den Weg durch Mestre.
Das Zittern ums Anspringen war ohne jede Berechtigung, aber im Kaltzustand war das ohnehin noch nie ein Problem. Im Warmzustand hatte sich gezeigt, dass ich im Prinzip genau eine Gelegenheit hatte. Ich musste den Kickstarter so auf Zug bringen, dass ich mit einem einzigen heftigen Kick den Motor starten konnte. Wenn es beim ersten Kick nicht funktionierte, nutzten die zehn weiteren auch nichts.
Was auch funktionierte – glücklicherweise fast immer – war der alte Trick mit dem nach links kippen der ganzen Vespa. Man nimmt sie vom Ständer und kippt sie. Es ist dann nicht ganz leicht den Kickstarter zu treten, aber aus irgend einem Grund ändert das was im Vergaser und sie nimmt dann Gas an. Sobald sie einmal lief, war alles kein Problem mehr, sie hatte Standgas und Kraft.

Wieder auf der Straße, zuerst ein paar elende Kilometer zurück nach Jesolo und zur Hauptstraße. Schon um 8 Uhr waren etliche Holländer mit Wohnwägen und Wohnmobilen unterwegs und schlichen unüberholbar auf langen Alleen dahin. Eine Sorge, die ich von Anfang an hatte, erwies sich schnell als unberechtigt. Ich dachte, dass ich es nicht vermeiden könnte ständig in Eile zu sein und dauernd nervös überholen zu wollen. Das war aber von Anfang an nicht der Fall, ich war durchaus gelassen und konnte mich dem Verkehr anpassen. Zeit für einen Tipp

Tipp: Rhythmisch fahren
Es geht um die Frage der Sicherheit und die ist auf so einer langen Tour entscheidend. Genau genommen ist sie auch bei 300 Metern zum Bäcker entscheidend, denn da können genau so schwere Unfälle passieren, aber auf der Langstrecke bekommt der Sicherheitsaspekt noch einen zusätzlichen Kick.
Verkehr ist gemeinsame Mobilität, auch wenn es oft eher nach dem Gegenteil aussieht – jeder gegen jeden. Großteils funktioniert es aber und zwar nicht nur weil es Regeln gibt. Gerade in Italien kann man sich die Regeln oft auf den Hut stecken, es geht eher darum, sich in das Geschehen einzuklinken. Mir ist das meistens ganz gut gelungen, der Trick dabei liegt darin, den Rhythmus zu erfassen und sich ihm anzupassen. Das betrifft die gerade gefahrene Geschwindigkeit, aber auch die Manöver, die man fährt. Manchmal ist flottes Überholen genau richtig, dann wiederum sollte man sehr defensiv fahren. Letztlich muss man das üben, routinierte Fahrer zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie diese Kunst beherrschen – oder sie landen früher oder später im Krankenhaus oder am Friedhof. Wenn man das Gefühl hat, dass es irgendwie gerade gar nicht passt und man trotz Anstrengung nicht weiter kommt, dann hilft eine kleine Pause am Straßenrand. Sie muss nicht lange dauern, gerade so, dass man sich aus dem momentanen Geschehen ausklinken kann. Ein paar Minuten, dann kann es weiter gehen. Keine Angst – man holt die vorne Fahrenden, die einem so viel Stress bereitet haben, nicht mehr ein und wenn doch, dann sind sie inzwischen in einer anderen Konstellation bzw. einem anderen Rhythmus unterwegs, der einem dann eventuell besser liegt.
Es gibt auch Tage, da schafft man es gar nicht sich anzupassen. Dann ist vielleicht die Überlegung angebracht, eine andere Strecke zu fahren oder überhaupt eine Pause einzulegen.

Ich hatte die einzig brenzlige Szene mit einem Holländer, der mich fast zum Hermann Maier machte: Ich überholte gerade eine Kolonne, als er plötzlich unvermutet links abbog. In solchen Momenten wird es gefährlich, weil die Hauptbremse ist bei der Vespa die Fußbremse, und die blockiert gerne. Dann kommt die Fuhre ins Schleudern und man muss von der Bremse gehen. Das verlängert den Anhalteweg enorm, ganz abgesehen davon, dass die Bremsen sowieso nicht die besten und mit modernen Scheibenbremsen nicht vergleichbar sind. Unter anderem deswegen fahre ich in der Stadt und im Alltag einen modernen Roller.

In Venedig verfuhr ich mich nicht und war wenig später auf der S 309 Richtung Ravenna. Von Rudi hatte ich den Tipp bekommen, mir auf jeden Fall Chioggia anzusehen, aber die Hauptstraße in den Süden zu meiden, da sie mangels paralleler Autobahn sehr stark frequentiert und außerdem nicht sehr reizvoll wäre. Leider war die Alternative auch nicht sehr ansprechend, nämlich winzige Landstraßen und endlose Ortsdurchfahrten, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. Die Po-Ebene ist nun einmal für Nicht-Flachländer nur mäßig interessant und so wählte ich doch die Schnellstraße, vor allem, weil ich sie auf diesem Abschnitt befahren durfte.
Das ist nämlich leider so eine Sache mit italienischen Schnellstraßen und Zweirädern mit weniger als 150 ccm. Manche sind erlaubt, manche nicht, und manche sind teilweise befahrbar, also 15 Kilometer ja, dann 8 nein, dann wieder 34 ja und 22 nein. Das ist unglaublich nervenraubend, weil man ständig runter muss und dann den Weg ein paar Kilometer weiter finden muss, auf dem man wieder hinauf kommt. Oder man bleibt gleich unten, dann braucht man aber richtig viel Zeit, weil die kleinen Landstraßen nicht sehr gut ausgeschildert sind (wozu auch, ihre Benützer sind von genau dort und wissen eh, wo sie fahren müssen). Daher muss man entweder dauernd auf die Karte schauen, oder man benützt ein Navi – aber das habe ich ja schon diskutiert.

Also auf die Schnellstraße, das ging flott dahin, bis auf die bereits jetzt auftauchenden Nackenschmerzen war alles bestens. Man fährt hier auf kilometerlangen Geraden, die von Sümpfen, Feldern und Windbrecher-Alleen gesäumt sind. Alle paar Kilometer gibt es eine Tankstelle und generell viel LKW-Verkehr. Ich hing mich hinter einen, der auch 80 km/ fuhr, das war genau die ideale Reisegeschwindigkeit für meine Vespa. Der Motor wirkte nicht angestrengt und schnurrte vor sich hin, ich konnte links und rechts ein wenig die Landschaft ansehen (nicht, dass es hier so viel zu sehen gab, aber ich war ja nicht nur für die Straße geboren) und einige Kilometer abspulen.
Dann meldete sich auf einmal der Stress zurück. Auf so einer endlosen Geraden hat man nicht allzu viel Ablenkung und auch nicht viel zu tun als den Lenker festzuhalten. Also kommt man ins Nachdenken und das war in diesem Falle gar nicht gut, denn das erste, was mir in den Sinn kam, war die noch ziemlich endlose Strecke bis Rom. Und die vielen Pannen, die ich bisher hatte. Und die Wahrscheinlichkeit weiterer Liegenbleiber. Außerdem fühlte ich mich irgendwie ganz schön allein. Die Landschaft unterstützte das auch noch.

Dann plötzlich, kurz vor Chioggia, überholt mich ein Italiener auf einer Africa Twin, winkt mir freundlich zu und deutet „thumbs up“. Das gab mir in diesem Moment enorm viel Kraft, ein leiser Schauer rieselte über meinen Rücken und ich wusste, das war schon okay, was ich da tat.
Da es ohnehin Zeit für eine kleine Pause war, fuhr ich dort rechts ran, wo der Italiener auch gerade auf einen Kaffee stehen geblieben war. Es wurde eine sehr nette Unterhaltung, er fuhr gerade auf den Strand von Chioggia und wünschte mir alles Gute für die noch lange Reise.
Das sind die Begegnungen, die einen einsamen Vespa-Fahrer wieder aufrichten. Von da an ging der Tag irgendwie besser weiter.

Chioggia ist das kleine Venedig. Es gibt dort auch eine Lagune und Kanäle mit Booten und Brücken und natürlich auch Touristen. Hier stellte sich das erste Mal die Frage, ob ich die Vespa zwecks einer kleinen Fotorunde alleine lassen könnte. Am Ende der Straße, von wo aus es in die Altstadt hinein ging, war eine Art Rollerparkplatz. Ich setzte mich in ein Café und trank eine Flasche Wasser, traute mich aber nicht wirklich weg von der Vespa. Wie schnell wäre die Gepäckrolle weg, oder das ganze Gefährt?

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Bild: Chioggia

Vielleicht war meine Angst ja völlig grundlos, aber wie hätte ich das in diesem Moment entscheiden sollen? So ging ich einfach nur eine kleine Runde und hatte die Vespa stets in Sichtweite.
Dann ging es weiter, wieder hinaus auf die Schnellstraße Richtung Süden nach Ravenna. Mir wurde auch bewusst, dass mir die Stadtdurchfahrten eine Menge Stress bereiteten. Da gab es schöne und interessante Städte in der Nähe, aber ich hatte einfach keine Lust mich mit der voll bepackten Vespa durch dichten Verkehr zu quälen, stets auf der Suche nach dem richtigen Weg. Das wäre keine Erholung gewesen. Ich glaube, bei Ravenna fing es an: der Weg war nicht mehr das eigentliche Ziel, sondern ich hatte Tagesziele, die ich gerne erreichen wollte. Sie galten jeweils nur für den kommenden Tag und eigentlich nicht einmal für diesen, denn ich wusste ja nicht, wie weit ich jeweils kommen würde.
Für heute war mein Ziel Urbino, die schöne Stadt auf einem Berg in den Marken. Es war kein Muss dorthin zu kommen, aber ein Wunsch, ein anstrebenswertes Ziel. Mir wurde auch klar, dass ich aufgrund der Umstände nicht mehr als maximal 350 km am Tag schaffen könnte. Auf der Autobahn wäre jederzeit mehr möglich, aber die durfte ich sowieso nicht fahren. Es wurde auch deutlich, dass mir Hintern, Nacken und meine Konzentrationsfähigkeit keine größeren Etappen erlauben würden. Andererseits sind 350 Kilometer gar nicht so wenig, so wäre ich in fünf Tagen in Rom – und damit in der Mindestzeit, die ich ausgerechnet hatte.

Über die nächsten Stunden gibt es nicht allzu viel zu berichten. Die Vespa lief gut, ich stoppte immer wieder an Tankstellen und füllte meine Wasservorräte auf. Das bringt mich zum nächsten Tipp.

Tipp: Wasser
Ich weiß es vom Bergsteigen und von diversen Sportarten: Trinken ist wichtig. Das ist eine Binsenweisheit, aber auch beim Vespafahren gilt sie uneingeschränkt. Durch den Fahrtwind trocknet der Körper schneller aus. Das Schwitzen spielt im Sommer eine große Rolle, aber die wichtigste Botschaft lautet: Du merkst es nicht. Experten sagen, wenn Du Durst hast, ist es zu spät. Ich stimme dem nicht ganz zu, denn der Körper ist eine clevere Konstruktion und weiß, was er dem Verstand mitteilen muss. Allerdings kann er sich ein wenig täuschen. Daher empfehle ich um eine Nuance öfter zu trinken als es der Körper offensichtlich verlangt. Ich trank an Tagen wie diesem auf der Strecke sicher zwei bis drei Liter Wasser und musste oft kein einziges Mal pinkeln. Als ich bei der Rückfahrt wieder ins deutliche kühle Österreich kam, verlangte der Körper sofort wesentlich seltener nach Wasser.
In Italien bekommt man die unseligen, für solche Fahrten aber natürlich sehr praktischen Wasserflaschen in 0,5 Liter Gebinden, mit 1 Liter und mit 1,5. An das Thema Umweltschutz darf man da überhaupt nicht denken. Ich schmiss jeden Tag mehrere Flaschen in den Müll und die werden in Italien ganz sicher nicht wieder aufbereitet.
Man bekommt diese Flaschen an fast jeder Tankstelle und auch in Lokalen an der Straße. Sie sind meist nicht sehr teuer und aufpassen muss man nur um die Mittagszeit.
Ich habe mir angewöhnt, immer etwa 0,25 Liter übrig zu behalten, d. h. nicht auszutrinken. Vielleicht braucht man einmal einen Schluck Wasser, etwa nach einem Unfall.

Ich mache Pausen immer gerne nach einem schwierigen Abschnitt, in diesem Fall hinter Ravenna in einer kleinen Nebenstraße unter einem großen Feigenbaum.

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Bild: Mittagspause

Rundherum jede Menge Gegend und ich fuhr auch recht bald wieder weiter.

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Bild: Ebene

Jede Pause war eine gute Gelegenheit, um den Nacken ein wenig zu dehnen. Das half zwar nur ein paar Kilometer wirklich, aber immerhin. Die Landschaft veränderte sich nur unmerklich, auffällig waren nur die vielen Schilder „Vende“ („zu verkaufen“), die ich vor allem auf Wirtschaftsgebäuden ständig sehen konnte. Die Ebene ist für den Anbau von Korn, Mais und Gemüse bekannt und das gibt es dort auch noch in größerem Ausmaß.

Die Sprint zieht gut, nur ein seltsames Klappern ist aufgetaucht und sie hat im Schiebebetrieb immer noch dieses Stampfen. Ich beschließe, das alles zu ignorieren und einfach weiter zu fahren. Schließlich kenne ich ja jetzt die Alaska-Methode und sie gefällt mir immer besser.
Obwohl die Fahrt wegen der notwendigen Konzentration auf Verkehr, Gegend, Straße, Abzweigungen, Land und Leute entsprechend anstrengend war, hatte ich fast keinen Hunger. Helga hatte mir ein Sackerl mit Äpfeln mit gegeben und ich aß die nächsten zwei Tage zu Mittag je ein bis zwei Stück. Dazu noch Wasser, das war alles. Ordentlich gegessen wurde erst am Abend und auch da hatte ich nicht den Appetit, den ich haben sollte. (Am Ende der Reise hatte ich drei Kilo abgenommen).

Ich sehe extrem wenig Polizei auf den Straßen. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Die LKW sind meist sehr diszipliniert und fahren ein wenig nach rechts, wenn ich mit der kleinen Vespa überhole. Meist sind sie aber ohnehin schnell genug, nur manchmal juckt es mich und ich drehe die Sprint ein wenig aus – die Dritte geht ohne Gegenwind und wenn sie gut aufgelegt ist, bis 95.
Vorerst überschritt ich aber einmal den Rubicon.

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Bild: Rubicon

Vor Rimini ist es dann soweit – ich muss runter von der Schnellstraße, weil ein riesiges Schild deutlich und unmissverständlich anzeigt: keine Weiterfahrt für Roller unter 150 ccm.
Ich fahre ab und verfahre mich noch in der Sekunde. Ich habe mir angewöhnt, vor allem Rollerfahrer nach dem Weg zu fragen. Erstens gibt es davon jede Menge und zweitens glaube ich einen gewissen Startvorteil zu haben. Meist klappt das und auch in dieser Situation erwische ich einen jungen Mann, der gerade jemand nach Hause geführt hat. Ich winke ihm und er dreht um.
Leider kann auch er gerade mal „Yes“, „No“ und „Marlboro“, sonst aber keinerlei Englisch. Trotzdem erklärt er mir ausführlich, welche kleinen Straßen ich nehmen kann und dass es ca. 1,5 Stunden bis Rimini dauern würde.
Ich bin entsetzt, es sind nur ein paar Kilometer, auf der Schnellstraße eine Sache von einer Viertelstunde. Ob ich mir das antun soll? Doch noch ist mein Respekt vor der Polizei und eventuellen Strafen größer. Also nehme ich die ganz kleinen Straßen, mittlere gibt es hier nicht, entweder Superstrada oder Feldweg.
Ich schaffe es ein paar Kilometer, dann lande ich zweimal in einer Sackgasse und mir reicht es langsam. Was soll das, liebe Italiener? Seid ihr deppat geworden? Lasst mich doch einfach fahren, ich bin schnell genug.
Nun, offiziell würde meine Vespa knappe 80 gehen und das nur in der Ebene. Das wäre auf der Autobahn tatsächlich eher ein Hindernis. Allerdings ist das auf der Superstrada in einer brettlebenen Gegend egal. Ich werde dieses italienische System nie durchschauen.
Was würde tatsächlich passieren, wenn mich die Polizei aufhält? Verhaftung und dunkler Kerker? Satte Geldstrafe, gleich in bar zu bezahlen und ohne Quittung? Oder würden sie die Vespa bestaunen und Mitleid mit einem irren Philosophen mit ordentlich Nackenschmerzen haben? In meinem Kopf geistern Geschichten von konfiszierten Fahrzeugen herum, die irgendwann irgendwo versteigert werden. Ich sehe mich schon mit meinen Gepäckrollen schwitzend über endlose Landstraßen zur nächsten Busstation gehen.

Es passiert aber nichts und irgendwann hab ich dann darauf geschissen und bin einfach wieder auf die Schnellstraße gefahren. Reparieren soll man Dinge erst, wenn sie kaputt sind und vor Angst gestorben ist auch tot.
Aber die Fahrt ist doch sehr stressig, natürlich hoffe ich ständig, dass kein Polizeiauto auftaucht.
In Riccione weiß ich wieder einmal nicht mehr weiter und fahre in eine kleine Nebenstraße, um mich in Ruhe orientieren zu können. Auf einmal fährt ein älteres Pärchen auf einer Honda SH vorbei und ich stoppe sie.
Englisch können sie nicht, aber sie helfen mir gerne und erklären, dass ich eigentlich immer nur geradeaus bis Pesaro fahren müsste und dann rechts hinauf – alles wäre angeschrieben.
Sie geben mir noch ein paar Sightseeing-Tipps und warten am Kreisverkehr auf mich, um mir die richtige Ausfahrt zu zeigen. Sehr nette Menschen, so wie übrigens die meisten, die ich auf meiner Italienreise kennen gelernt habe.

Der Nacken tut jetzt schon extrem weh und ich erfinde ständig neue, abenteuerliche Sitz- und Genickpositionen. So lerne ich Italien aus einer neuen, weil sehr schrägen Perspektive kennen, den Kopf einmal stark nach links und dann wieder stark nach rechts gekippt. Die Leute müssen mich für verrückt gehalten haben, allerdings wegen der alten Vespa war das sowieso jedem klar. Und ich bin kein einziges Mal angehupt worden.
Nach einem neuerlichen Besuch an einer Bedienungstankstelle mit einem sehr freundlichen Tankwart geht es weg von der Ebene hinauf in die Berge, nach Westen. Die Sprint läuft gut und das Tagesziel rückt in greifbare Nähe – noch 35 Kilometer, das müsste zu schaffen sein.
Allerdings hatte ich für heute kein Quartier und würde mir eines suchen müssen.

Durch eine traumhaft schöne Landschaft immer bergauf erreiche ich Urbino und bin gleich einmal erstaunt wegen der tollen Kulisse. Weniger toll finde ich, dass man auch mit dem Motorroller nicht in die Stadt hinein fahren kann, außer man hat eine Spezialgenehmigung.
Von einem Barbesitzer erfahre ich, dass es in der Altstadt von Urbino sehr wohl nette Hotels und Pensionen gibt. Allerdings bräuchte man vorher die Bestätigung vom Vermieter, dass man mit dem Auto (bzw. Motorroller) hinein fahren dürfe.
Es ist 16 Uhr, ich bin fix und foxi, bekomme aber von dem Barbesitzer eine Karte von Urbino und den Tipp, wie ich die Stadt umfahren und bei einem anderen Stadttor um Quartier fragen kann. Ein Tourist (Unterschied zu den Italienern: kann Englisch) hatte mir erzählt, er hätte dort ein Bed and Breakfast gesehen.
Also los. Zumindest in meinen Wünschen, denn die Sprint springt nicht mehr an. Auch Anrennen nützt nichts und ich bin zwar nicht verzweifelt, aber einfach müde, verschwitzt und fertig und möchte ein Quartier und nicht Vespa zerlegen.
Der Trick mit dem Linkskippen funktioniert und ich finde heraus, dass sie im Warmzustand gar nicht startet, wenn sie leicht nach rechts gekippt ist (also so, wie das am rechten Straßenrand oft der Fall ist). Seitdem achtete ich sehr genau auf die Standposition, noch dazu, wo sie durch den fehlenden rechten Ständerfuß ohnehin schon leicht nach rechts gekippt steht. Das hätte mir zwar schon in Klagenfurt auffallen können, aber wer denkt denn an so was!

Die Umrundung von Urbino klappt gut, die Suche nach dem Bed & Breakfast nicht, wobei ich beschließe, mir sowieso ein Quartier etwas außerhalb zu suchen, da die Stadt innen keine sichere Parkmöglichkeit für die Vespa bietet. Urbino ist eine uralte Stadt mit winzigen Gässchen, viele davon steil, und der Platz wurde seinerzeit für andere Dinge benötigt als für die noch nicht erfundenen Autos und Motorroller.
Ich frage zwei junge Herren, ob sie wüssten, wo ich hier ein Bed & Breakfast „economico“ finden könnte. Sie bemühen sich nach Kräften mir zu erklären, dass sie nur wüssten, wo ein Hotel wäre, nämlich hinter dem „ospedale“. Der Weg dorthin wäre nicht schwer, aber ihnen fehlten die Worte, ihn mir zu erklären. Verzweifelt starrten sie in ihre iPhones und versuchten, ein paar englische Worte zu finden. Erfolglos, aber mit „sinistra“ und „destra“ und weil ich einigermaßen gut Italienisch verstehe, wenn ich es auch nur sehr wortfetzenhaft spreche, wurde mir klar, in welche Richtung ich fahren musste. Inzwischen war mir „economico“ (günstig) auch nicht mehr so wichtig, ich wollte ein Zimmer und sonst nichts mehr.
Am Weg Richtung Krankenhaus kam ich an einer sehr nett aussehenden Pension vorbei, parkte mich ein und läutete. Da niemand aufmachte, ich aber im Stadtplan die Telefonnummer gefunden hatte, versuchte ich es auf diese Weise, erreichte aber nur ein Tonband. Also fuhr ich weiter und mit einer zusätzlichen Fragerunde fand ich das Hotel Dei Duchi, das zwar ein wenig heruntergekommen aussah, aber für eine Nacht wohl passen würde.
Der Rezeptionist Domenico sprach einigermaßen Englisch und war sehr hilfsbereit. Ich durfte meine Vespa über Nacht in der Garage abstellen und bekam ein ruhiges Zimmer, obwohl dort ohnehin die ganze Gegend sehr ruhig war.
Das Zimmer war okay, die Dusche sehr fein und das alles inklusive Frühstück um 43 Euro wohlfeil.
Als ich gerade eingecheckt hatte, rief der Besitzer der Pension an, bei der ich gerade vorbei gefahren war. Sein Zimmer hätte 45 Euro gekostet und ich merkte mir das für das nächste Mal vor. Ich hatte nach dem Läuten nur nicht lange genug gewartet, meinte er. Und ich lernte, dass die Siesta in Italien locker bis 17 Uhr dauern kann.
Ich blieb wo ich war und suchte mir erstmal eine Stellung auf dem Bett, in der ich meinen Nacken entspannen konnte. Das stellte sich zunehmend als Problem dar, denn ein Muskel entwickelte sich zum Dauerschmerzbringer, was die Fahrfreude deutlich trübte. Ich musste dafür eine Lösung finden, aber wie? Vorerst half es, auf dem Bauch zu liegen und den Kopf über die Bettkante hängen zu lassen. Sah sicher nicht sehr würdevoll aus, aber ich war ja unbeobachtet.

Das war genau genommen der erste Tag, an dem ich mit der Vespa keine Panne hatte. Dafür erwischte es mich, denn schon als ich abgestiegen war, schmerzte der linke Fuß. Ich hatte im Sommer 2009 einen schweren Unfall mit meinem Stadtroller und brach mir bei dieser Gelegenheit zwei Mittelfußknochen. Die verheilten zwar gut, aber von Zeit zu Zeit meldeten sie sich mit stechenden Schmerzen. Diese Zeit war jetzt gekommen und ich fürchtete, dass ich Urbino nur humpelnd erkunden würde können.
Außerdem bemerkte ich zum ersten Mal die Spuren, die so eine lange Strecke an mir hinterließ. Das Gesicht war öl- und rußgeschwärzt, die Nase hatte sich vorwitzig in die Sonne gewagt und musste nun dafür büßen. Nur beim Zweiradfahren mit offenem Visier (Sonnenvisier heruntergeklappt) bekommt man das ab, was sich durch tausende Autos an Dreck in der Luft befindet. Vom Reifenabrieb über die Abgase bis zum Industriestaub, all das, was beim Autofahren weggefiltert wird. Da sitzt man in einem fast hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen System mit Luftfilter, Klimaanlage, getönten Scheiben und Lärmdämmung. Das genaue Gegenteil ist Vespafahren.

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Bild: Ölverschmiertes Gesicht

Nach ein bis zwei Stunden kehrten die Lebensgeister zurück und ich beschloss noch eine kurze Serviceeinheit bei der Vespa einzulegen, sie hatte sich das verdient.
Ich entdeckte einen losvibrierten Auspuff, der aber noch halten würde, zumindest bis Rom. Auch das Gasseil wirkte noch frisch, wenngleich die Reibestelle genau dort war, wo man sie nicht mehr sehen konnte. Aber mit meiner neuen Einstellung aus der Alaska-Methode kam ich gut zurecht und schmierte nur etwas Fett aus der kleinen Fettspritze auf das Seil.
Ich fand nicht alles, sollte das aber erst am nächsten Tag auf sehr unangenehme Weise zu spüren bekommen.

Eine ausgiebige Dusche später nahm ich den Shuttlebus, der direkt vor dem Hotel anhielt, wenn man ihm entsprechend wachelte. Die Fahrt kostet 1 Euro und 5 Cent und ich will diese Fahrpreispolitik nur so kommentieren: Ich musste nur einen Euro bezahlen, weil der Herr vor mir nur einen Euro und ein 20 Cent Stück hatte, und das Gerät leider kein Wechselgeld herausgeben kann. Nettes Geschäftsmodell, muss ich sagen.

Urbino ist großartig, das sollte man gesehen haben. Es wirkt ein wenig wie Disneyland, durchkonzipiert bis in die kleinste Ecke, mit sensationeller Architektur, alles feinst renoviert und blitzsauber. Mein lieber Freund Rudi meinte, er hätte die Stadt besucht als sie von Touristenhorden überschwemmt war, ich hatte mehr Glück und konnte sie in sehr lockerer Atmosphäre erkunden, wenn auch humpelnd. Aber ich hatte ja Zeit und gönnte mir gleich einmal das erste Gelati dieses Italienurlaubs, äh, -abenteuers.

Gleich neben dem Eisgeschäft sah ich auch die erste Vespa 50 S, mit einer schönen Polinischnecke und ohne Rücklicht.

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Bild: Vespa 50 S

Insgesamt kam ich auf nicht mehr als eine Handvoll Smallframes, eine weitere Handvoll Largeframes und vielleicht zwanzig PX. Das war alles, mehr alte Vespas sah ich innerhalb einer ganzen Woche nicht. Im Mutterland der Vespas, wo viele Millionen Stück verkauft wurden, gibt es nur mehr einige wenige. Das mag daran liegen, dass die Italiener die Roller stets als Alltagsfahrzeuge verwenden und nicht wie bei uns einmal pro Woche ins Kaffeehaus fahren. Die meisten dürften wohl irgendwann so kaputt gewesen sein, dass sie auf den Schrottplatz kamen. In den letzten zehn Jahren saugte auch der nach Oldtimern hungrige Markt auf der ganzen Welt Italien leer. Scouts fuhren bis in die Bergdörfer und kauften alte Vespas, die dann mit guten Gewinnen in die USA und den Rest der Welt verkauft wurden. Jetzt sind die Preise für alte, teils schrottreife Vespas auch in Italien in die Höhe geschossen und man bekommt selbst einfache Ersatzteile nicht mehr oder ebenfalls nur überteuert.
Ob es im Süden anders ist, kann ich nicht sagen, bis Rom jedenfalls ist die Sache sehr klar.

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Bild: Blick in die Landschaft der Marken von Urbino aus

Urbino bietet an jeder Ecke eine andere Perspektive, von großen Plätzen bis winzigen Gässchen, alles auf einem Hügel angeordnet und ich frage mich, wie sie früher das notwendige Wasser in die Stadt bekamen. Wurde das von unten herauf geschafft oder hatten sie so tiefe Brunnen? Urbino ist Sitz eines Erzbischofs, hat etwa 15.000 Einwohner und ist Teil des Weltkulturerbes.

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Bild: Urbino, Palast

Es gibt seit 1506 eine kleine Universität und die Stadt hatte ihre Hochblüte in der Renaissance.
Im Gegensatz zu Disneyland ist Urbino belebt und bewohnt. Nur Autos haben es schwer und dürfen nur mit Sondergenehmigung hinein, was aber natürlich unbedingt notwendig ist, sonst wäre die Stadt ein einziger Parkplatz. So wirkt sie ruhig und ohne Hast und auch ich wurde ruhiger und vergaß die Anstrengungen des Tages.

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Bild: Kleine Gassen in Urbino

Bis zur Öffnung des Internetcafes gönnte ich mir ein gutes Abendessen in einer netten Osteria. Ich war der einzige Gast, der alleine an einem Tisch saß, dafür war das Essen hervorragend: Cresce, eine lokale Spezialität, bestehend aus einer Flade, deren Konsistenz ich nicht ganz ermitteln konnte, irgendeine Mischung aus Palatschinkenteig und Pizza, in Fett herausgebraten und belegt mit Rohschinken – wobei der Belag frei wählbar ist. Ich nahm dazu Ruccola und eine Art Weichkäse, alles hervorragend und ausgesprochen sättigend.

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Bild: Osteria

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Bild: Cresce

Dazu eine kleine Karaffe Wein und eine weitere mit Wasser – mehr brauchte ich nicht. Auch der Preis war fair, 10,80 Euro für alles zusammen, inklusive Cuperto und das in einer Gasse neben dem Hauptplatz in der Hochsaison. Italien ist nicht mehr so teuer, scheinbar passen sie sich den abnehmenden Touristenmengen an bzw. der Wirtschaftskrise.

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Bild: Guido beim Abendessen

Der kleine Spaziergang nach Hause gefällt meinem Fuß nicht sehr, ist aber ein feiner Abschluss dieses Tages und die Bewegung tut als Ganzes gut. Aus der Dunkelheit der Nacht taucht plötzlich ein alter Fiat 500 auf, einer der ganz wenigen, die ich insgesamt noch gesehen habe. Nur der Fiat Panda ist noch häufig, er hat die Position des 500ers als Arbeits- und billiges Transportmittel eingenommen. So vergeht langsam das Italien der 1950er bis 80er Jahre und die Bilder unserer Jugend müssen langsam ersetzt werden.

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Bild: Fiat 500

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