Zahltag für die Engländer

Nanu, was ist denn da los? Wenn ich an London denke, dann fallen mir distinguierte Herren in Tweed-Sakkos ein, die mit einer Melone am Kopf und einem Schirm auf der Straße flanieren, um 17 Uhr Teatime abhalten und gerne und oft „indeed“ und „Well“ sagen.
Okay, das ist nicht alles, London ist auch eine große Stadt mit vielen schnuckeligen Gärten und Backsteinhäusern, es gibt Guinness und höfliche Menschen lassen dir in der Schlange gerne den Vortritt, indeed.

Gut, London ist auch tolles Shopping, viele Sehenswürdigkeiten, Künstler, Carnaby Street und Toast. Alles sehr nett, alles sehr gepflegt.

Irgendwas stimmt da nicht mit meinem London-Bild. Schlägerbanden und Plünderer? Angezündete Fabriken und kaputte Geschäfte? Gut, es gibt in den Vororten ein paar Arbeitslose und man kennt die Fußball-Hooligans, aber bitte was ist da auf einmal los?

Wenn ich ein wenig genauer nachdenke und mir meine Mod-Zeit in Erinnerung rufe, dann kommen schon noch ein paar Facetten dazu: Sowohl die Mods wie auch die Rocker waren meist Unterschicht-Jugendliche, die in tristen Verhältnissen aufwuchsen, wenig Geld und viel Protestpotenzial hatten, viel Wut und wenig Perspektiven. Schon in den späten 1960er Jahren brach dies das erste Mal hervor und die Schlachten im noblen Seebad Brighton sind Legende (der Film „Quadrophenia“ handelt davon).

Aus London stammt auch die harte Rockmusik der Rolling Stones, The Who und einigen anderen. Warum denn das? Brodelte da etwas, das irgendwann raus musste? Findet sich unter der nobel-höflichen Fassade noch etwas anderes?

Die Fakten zeigen sich jetzt in London: Alle Macht den City Boys, keine Macht den arbeitslosen Jugendlichen in den schlechten Wohnvierteln. Das öffnet die Schere und geht eine Zeit lang gut. Dann gibt es zu viele Menschen, die zu wenig haben. Auf der anderen Seite fließt der Champagner in Strömen und man kann sich selbst gar nicht genug Bonuszahlungen verpassen. Ein einziger Spekulant kann mit einem einzigen Knopfdruck in Asien eine Hungersnot auslösen. Das klingt verrückt, aber genauso ist es. Wenn er dafür noch einen fetten Bonus bekommt – was soll ihn abhalten? Gesetze dagegen gibt es nicht, die Moral ist letzte Nacht im Kaviar erstickt und Bangladesh ist weit weg und dort will man ohnehin nicht auf Urlaub fahren. Wenn man Menschen den roten Knopf vor die Nase setzt und sie wissen, dass sie persönlich nicht für die Resultate verantwortlich gemacht werden können – da kann es schon passieren, dass der eine oder andere schwach wird. Und wirklich voraussagen, was am anderen Ende der Welt dann passieren wird, das kann doch bitt schön niemand.
Also wurden die Knöpfe gedrückt, und in USA saßen ein paar Zehntausend Familien auf der Straße. Selber schuld, sie hätten sich ja die Kredite für das Eigenheim nicht aufnehmen müssen!

Wenn man den Banken und Investmentgesellschaften
a.) jede Menge Macht gibt
b.) sie ihre Regeln selbst aufstellen lässt und
c.) den Profit an jeder Ecke als einzig erstrebenswertes Ziel hinausplärrt,
dann darf man sich nicht wundern, wenn irgendwann Zahltag ist.

Eine durchprivatisierte Verwaltung, die zwar nicht funktioniert, bei der aber im Gegenzug jede Menge Menschen entlassen wurden, ein Bildungssystem ohne Budget bzw. nur mit Budget für die Reichen, garniert mit einer größeren oder kleineren Wirtschaftskrise – all das ergibt eine sich immer weiter und schneller öffnende Schere. Die öffnet sich übrigens nur bis zu einem bestimmten Punkt. Was sich jetzt auf den Straßen von England abspielt, sind die Vorboten des Zusammenklappens.

Jahre- bis Jahrzehntelang wurde den Menschen an jeder Ecke eingetrichtert: Du bist nur ein Mensch, wenn Du dir alle Wünsche erfüllen kannst. Du sollst alles wollen, und das jetzt gleich!
Und dann wundert man sich, wenn sie sich das nehmen, was sie sich wünschen sollen: das Auto, den Flatscreen, den Computer – all die Ikonen unserer modernen Gesellschaft. „Mach kaputt, was dich kaputt macht“ lautet ein alter Revolutionsspruch. Genau das tun sie: Sie zerstören die Geschäfte, die ihnen das anbieten, was sie kaufen sollen aber nicht können.

„Gerade in England haben sie so ein tolles Sozialsystem“ höre ich ständig als Argument. Stimmt das, ist das wirklich so toll? Michael Moore hat es in einem seiner Filme so dargestellt. Aber ein Sozialsystem ist nicht alles. Was habe ich davon, wenn das Krankenhaus gratis ist, ich mir aber kein Essen leisten kann? Oder keine Perspektive auf einen Job habe.

„Das sind nur die faulen Schwarzafrikaner, die da randalieren.“ Leider kenne ich die Statistik nicht, aber angeblich sind es nicht nur die. Und wenn – jahrhundertelange Kolonialherrschaft bringt nun einmal die eine oder andere Spätfolge.

War es vielleicht doch die unheilige Allianz Thatcher/Reagan, die zu unserem heutigen Wirtschaftssystem geführt hat? Nun, das hat sich bald erledigt, ähnlich dem Realsozialismus, nur ein paar Jahre später.

Ich glaube, dass der Kapitalismus derzeit ungefähr so viel mit seiner Grundidee zu tun hat wie die katholische Kirche mit den Lehren von Jesus von Nazareth.

Es wird spannend, in den nächsten zwei bis drei Jahren.

Ein Gedanke zu „Zahltag für die Engländer

  • 30. August 2011 um 22:20 Uhr
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    Guter Artikel! Ich werde da noch mal genauer recherchieren!

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