Griechenland 87 – ein Sommer wie von STS besungen

Es ist Sonntag Abend und ich sitze auf meiner Couch. Plötzlich summe ich „I still haven´t found what I´m looking for“ und habe große Lust, die Nummer sofort anzuhören.
Also marschiere ich zum CD-Regal und greife ganz nach unten, zur neunten CD, die ich je gekauft habe: U2 – The Joshua Tree. Ich bin begeistert, wie gut die Scheibe heute noch ist, irgendwie nicht tot gehört, zeitlos, vielleicht wirklich die beste CD, die U2 je gemacht hat.

Und dann kommen die Erinnerungen. An den Griechenland-Urlaub im Juli 87. Eine Geschichte nach der anderen fällt mir ein. Und es wird Zeit, sie wieder an die Oberfläche zu holen und aufzuschreiben – oder besser: einzutippen.
Leider gibt es von diesem Urlaub keine Fotos – zumindest keine, die ich zur Verfügung habe. Handys gab es damals noch nicht, Digitalkameras natürlich auch nicht und keiner von uns hatte einen Fotoapparat mit. So bleiben nur die Erinnerungsbilder im Kopf.

Eigentlich beginnt die Geschichte noch viel früher, nämlich im Sommer 1980, als mein Vater meine Geschwister und mich in seinen damals brandneuen Puch G einlud und wir alle nach Griechenland fuhren. Das Ziel war die Ostseite von Sithonia, dem mittleren Finger der Halbinsel Chalkidike.
Dort gibt es eine Küstenstraße und mein Vater wollte dort campen, wild und direkt am Meer. Eine Bucht gab es nicht und so schlugen wir die Zelte einfach irgendwo auf. Das war damals noch möglich und mehr oder weniger erlaubt.
Viele Jahre später, im Frühjahr 1986, fuhren wir wieder hin. Ich schon mit meinem ersten, eigenen Auto, 19 Jahre alt, frisch vom Bundesheer abgerüstet.
Wir zelteten damals in einem wilden Oleandertal, an das ich mich noch erinnern und glücklicherweise auch finden konnte. Es war der wahrscheinlich schönste Urlaub meines Lebens.

Ein Jahr später fuhr ich noch einmal hin, diesmal in einer anderen Konstellation. Mit dabei waren der Schmidl und der Georg. Ich weiß nicht mehr, warum wir uns gerade für diesen Urlaub entschieden. Georg war ein Jahr davor auch dabei und wahrscheinlich fiel uns auch einfach nichts besseres ein. Dort kannten wir uns wenigstens schon gut aus und so borgte ich mir einen alten, grünen Audi 100 aus, da mein eigenes Auto kurz davor aufgrund von Rost einfach mehr oder weniger zerfallen war.
Der Audi war in mittelprächtigem Zustand, hatte immerhin ca. 100 PS und somit das Doppelte von meinem alten Golf. Ich würde mit so einem Auto heute gar nirgends mehr hinfahren, aber damals war uns das egal. Springt die Kiste an? Ja. Rinnt irgendwo was aus? Nein. Passt.
Wir hatten sehr wenig Geld und viel Optimismus, wir waren unglaublich unbekümmert und packten einfach Campingequipment zusammen, wobei ich mir das meiste von meinem Vater ausborgen konnte.
Zwei Zelte, Schlafsäcke, Matten, ein wenig Geschirr und ein paar T-Shirts, sehr viel mehr brauchten wir nicht.

Was wir aber sehr wohl brauchten, waren Benzingutscheine, ohne die man in Jugoslawien keinen Sprit bekam oder nur viel teurer – so genau weiß ich das nicht mehr.
Wir fuhren einfach los und kamen auch gut über die Grenze nach Ungarn. Das war damals nicht so einfach wie heute, der Ostblock war noch stark und für Ungarn musste man einen „Adatlap“ ausfüllen, ein kompliziertes Formular. Aber das waren wir gewohnt.
Mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen nahmen wir es nicht so genau und so wurden wir in einer Ortschaft von der ungarischen Polizei aufgehalten. Weil wir durch Ungarn nur schnell durchfahren wollten, hatten wir keine Forint mit, nur jugoslawische Dinar und griechische Drachme und natürlich Schillinge.
Nach längeren Verhandlungen gaben uns die Ungarn zu verstehen, dass sie weder Drachme noch Dinar wollten und ließen uns einfach weiterfahren.

Ich weiß nicht mehr viel von der Fahrt, der Georg und ich wechselten uns ab, weil der Schmidl damals noch keinen Führerschein hatte – oder umgekehrt? Jedenfalls hielt der Audi durch und nach 20 Stunden durchgehender Fahrt kamen wir zu unserem Zeltplatz im Oleandertal. Aus heutiger Sicht war das der komplette Wahnsinn, denn wir waren natürlich komplett übermüdet – und Red Bull war noch nicht erfunden. Vor allem gab es in Jugoslawien noch keine Autobahn, erst wieder ab der griechischen Grenze in Gevgelija. Wir mussten die alte „Autobutt“ fahren – die damals gefährlichste Straße von überhaupt, die sogenannte „Gastarbeiterroute“, auf der im Sommer gefühlte Millionen uralter Ford Transits unterwegs waren, vollgestopft mit türkischen Familien am Weg nach Ostanatolien. Jedes Überholmanöver ein Hasardspiel.
Und dann die Fahrt durch Thessaloniki, eh schon hundemüde und damals gab es ja kein Internet, d.h. wir mussten nach Karte fahren und Tankstellenverzeichnis gab es auch keines, von Handys ganz zu schweigen.

Als wir im Oleandertal ankamen, war es fast wie im Vorjahr. Nur der wildromantische Bach war kleiner, aber wir fanden unseren alten Zeltplatz wieder.
Das war eine komplett andere Zeit, offiziell war es damals schon nicht erlaubt wild zu zelten, aber wir hatten im Jahr davor Jannis kennengelernt, einen alten Ziegenhirt, und dem waren wir sympathisch. Sein Sohn Christos war der zuständige Feuerpolizist und so bekamen wir eine inoffizielle Sondererlaubnis. Wir durften halt kein Feuer machen und mussten aufpassen, aber das war sowieso Ehrensache. Außerdem kam Jannis fast jeden Tag einmal mit seinen Ziegen vorbei.
Der einzige echte Unterschied zum Jahr zuvor war ein riesiger Sandhaufen, den ein Bagger neben unserem Platz aufgeschaufelt hatte. Das Tal war sonst menschenleer, wir waren die einzigen dort, alle paar Tage kamen zwei, drei verirrte Wanderer vorbei – wenn überhaupt. Wenn wir ins Dorf fuhren, ließen wir unsere Sachen einfach im Zelt. Es ist nie etwas weggekommen.

Es gab einen Weg in das Tal hinein, den man mit einem Auto befahren konnte, wenngleich es auch ziemlich holprig war. Am Ende des Weges war unser Zeltplatz. Von da ging ein schmaler Pfad weiter, den man nur mit einem Geländewagen befahren konnte, was mein Vater 1980 auch getan hatte. Es ging dort auch relativ steil die Hügel hinauf, bis auf den Berg Itamo. Es war alles von Feuerstraßen durchzogen, sonst aber so wild, wie nur möglich.

Ein paar hundert Meter oberhalb unseres Zeltplatzes gab es einen kleinen Teich, in dem man baden konnte. Hohe Pinien, das laute Zirpen der Zikaden, eine wilde Geruchsmischung aus zahllosen Kräutern und eben jede Menge blühender Oleander an den Flanken des Baches.

Leider gibt es dieses Tal in seiner alten Pracht nicht mehr, der Bach wurde einige Jahre später weiter oben in ein anderes Tal zu einem Hotelkomplex umgeleitet und das romantische Oleandertal ziemlich zerstört. Als ich das erfahren habe, hat es doch ziemlich weh getan. Mein Unverständnis für die blinde Zerstörung der Natur aus Profitgier machte mich damals schon wütend, vielleicht ist da in mir der Grüne gewachsen, der ich heute bin.

1987 war die Welt dort noch heil. Und wir waren Anfang unserer Zwanziger und wollten einen Sommer in Griechenland erleben, mit allem, was dazu gehört.
In den 1980ern waren das Disko, dunkelbraune Haut und Coolness. Und wir waren die coolsten, das war von vornherein klar. Und dass das im Dorf Sarti auch alle merken sollten, war noch viel klarer.
Also bauten wir zuerst einmal unsere Zelte auf, ich hatte mein kleines, grünes Marechal-Kuppelzelt (und habe es bis heute), Schmidl und Georg schliefen in einem anderen. Damals musste ich lernen, dass es eine große Rolle spielt, wo man sein Zelt aufbaut. Und zwar spätestens am nächsten Morgen, wenn die Sonne aufgeht und ein dunkelgrünes Zelt in einen Backofen verwandelt, vor allem in Griechenland im Juli. Der einzige, mehr oder weniger erwünschte Nebeneffekt besteht darin, dass man trotz ordentlichem Rausch am Vorabend verlässlich aufsteht, wenn die Sonne auf´s Zelt scheint, was in Griechenland im Juli verdammt früh der Fall ist.

Wir waren punkto Campingequipment hervorragend ausgestattet, vor allem Dank der Erfahrung aus dem Jahr davor. Außerdem brauchten wir nicht wirklich viel, das Gewand beschränkte sich auf T-Shirts, kurze Hosen und Espandrillos, am Abend vielleicht eine lange Hose und ein luftiges Hemd. Wir mussten auch nicht viel Essen kochen, da wir das Frühstück meistens verschliefen, zu Mittag zu faul zum Kochen waren und daher vor allem Früchte zu uns nahmen, vielleicht einmal eine Eierspeis oder ähnliches, Weißbrot mit Paradeiser und Gurken – alles, was schnell hergerichtet war und wofür wir keinen Kühlschrank brauchten, den hatten wir nämlich nicht dabei.
Es ist heute schwer vorstellbar, mit wie wenig Dingen wir auskamen und dabei genauso zufrieden waren wie heute mit einem Campingmobil um 100.000 Euro. Wir hatten den alten Audi und wenig Ansprüche.
Und wir hatten wenig konkrete Pläne für den Urlaub. Wir wollten die Schönheit der Wildnis von Sithonia genießen, eine Menge Gaudi haben, abends im Dorf abhängen und einfach eine nette Zeit erleben.

Da es ziemlich heiß war, wanderten oder fuhren wir unter Tags gerne nach vor zum Meer um zu baden oder machten einen kleinen Spaziergang zum kleinen See. Die schon erwähnte Bräunung spielte dabei eine große Rolle, sie war Teil der geplanten Coolness und letztlich dazu da, die Mädels zu beeindrucken, die wir ja hoffentlich kennenlernen würden.

Schon am ersten Abend fuhren wir die sieben Kilometer nach Sarti, um die Lage zu checken und unseren Hunger zu stillen. Es gab dort jede Menge Tavernen im Ort und am Strand, das Essen war sogar für unsere schmale Börse leistbar und von guter Qualität. Kalamari, Fisch, Moussaka, Spieße und natürlich den griechischen Salat. Nach dem Essen gab es eine Reihe Bars, um sich ein kühles Bier zu organisieren oder einen Cocktail. Und es gab eine Handvoll Diskos, die wir alle abklappern mussten.
Ich erinnere mich an die Lokale nur sehr dunkel, beim Bier hatten wir auf jeden Fall die Auswahl zwischen Amstel und Henninger und auch hier waren die Preise sehr moderat.

Heute wäre eines der größten Probleme, wie wir nach einem feuchtfröhlichen Abend nach Hause in unser Oleandertal kommen würden. Damals war das komplett egal, gefahren wurde in fast jedem Zustand, der noch irgendwie eine halbwegs brauchbare Überlebenschance auf der extrem kurvigen Küstenstraße erkennen ließ. Da der Schmiedl ja noch keinen Führerschein hatte, war meistens ich der Fahrer.
Aus heutiger Sicht war das ein Wahnsinn, reihte sich aber gut in den dort üblichen Wahnsinn junger, griechischer Männer ein, die in Shorts und Espandrillos und in jedem Fall ohne Helm mit schweren Maschinen herumbrausten. Zahlreiche Kreuze am Straßenrand machten damals schon deutlich, dass das nicht immer gut ging.
Die Sorglosigkeit dieses Urlaubs war uns damals selbst nicht bewusst, sie war einfach da und selbstverständlich. Es war Sommer, wir waren in Griechenland und das Leben war so wolkenlos wie der Himmel.

Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, als beim Essen neben uns eine kleine Gruppe aus Wien saß. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir sie kennenlernten, aber es war wenig später der Fall. Kathi mit ihrem Freund, Dagmar und XX – sie wohnten in einem Hotel im Ort, waren ebenfalls für 2-3 Wochen da und zu viert mit einem alten Mazda 323 hergefahren.
Wir wussten damals noch nicht, dass sich daraus eine nette Freundschaft ergeben würde, die über den Urlaub hinaus halten sollte. Wir trafen uns einfach am Abend und zogen gemeinsam durch´s Dorf.

Dieser Urlaub sollte auch ein paar der legendärsten Geschichten hervorbringen, die wir in unserer Jugend zusammenstecken konnten.
Die erste beginnt an einem der Morgen, an denen ich von der Hitze schon recht früh aus dem Zelt getrieben wurde. Da die anderen noch schliefen, beschloss ich ins Dorf zu fahren und einzukaufen. Mich überkam noch rechtzeitig der Gedanke, dass die Schlafmützen recht ang´fressen wären, wenn ich ihnen nichts mitbringen würde. Also weckte ich sie so sanft aus, wie mir das nur möglich war. Die Reaktion war ein böses Fauchen, wobei ich mich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern konnte, irgendwas mit „Schleich di, lass uns schlafen“ wird schon dabei gewesen sein.
Also schlich ich mich und fuhr ins Dorf. Neben frischem Brot und Gemüse kaufte ich auch sogenannte „Yannis-Riegel“, das waren geschnittene, viereckige Stücke aus Nüssen und Honig oder Sesam und Honig.
Und natürlich kaltes Cola für die Jungs.

Als ich zurück kam, waren sie immer noch nicht wach, konnten aber eine Hand aus dem Zelt strecken und das kalte Cola hineinziehen.
Später saßen wir dann bei einem späten Frühstück, so gegen 13 Uhr muss das gewesen sein, und ich gab den beiden die Yannis-Riegel, die ich als absolute Köstlichkeit zu schätzen gelernt hatte.
Schmiedl unterlief allerdings genau jetzt ein folgenschwerer Fehler. Er dachte, dass die Riegel etwa in der Konsistenz eines Müsli-Riegels wären und biss herzhaft hinein.
In Wirklichkeit waren die Dinger steinhart und man musste sie vorsichtig abknabbern.
Dieser Unterschied war entscheidend für Schmidls oberen Schneidezahn, der spontan beschloss, den Besitzer zu wechseln und im Riegel stecken zu bleiben.
Es handelte sich nämlich um einen Stiftzahn, was wir vorher nicht wussten, und jetzt mit Erstaunen, gefolgt von brüllendem Gelächter zu Kenntnis nahmen. Das Gesicht von Schmidl habe ich heute noch vor mir, wir sind fast gestorben beim Anblick der Zahnlücke.
Schmidl hätte es auch durchaus gerne gesehen, wenn wir gestorben wären, er fand das nämlich ganz und gar nicht lustig. „Wof foll i jepft mochn, i fau auf wie a Volltrottel“ waren in etwa seine Worte. Wir lagen am Boden und wälzten uns im Staub.

Irgendwann hatten wir fertig gelacht und waren bereit, dem armen Schmidl zu helfen, dessen Disko-Coolness mit einer fetten Zahnlücke auf der Stelle gegen Null gehen würde.
Also musste ein Plan her, denn uns war klar, dass ein ständig ang´fressener Freund auch unserem Urlaub nicht gut tun würde. Die Option Zahnarzt gab es aus irgend einem Grund nicht, also mussten wir eine Möglichkeit finden, den Zahn irgendwie wieder in den Mund zu bekommen, konkret: hineinzukleben.
Wenig später saß ich im Audi und raste nach Sarti, um Superkleber oder etwas ähnliches zu kaufen. Dummerweise gab es nichts dergleichen, in keinem der greißlerartigen Geschäfte, und ich klapperte sie alle ab.
Also wieder zurück zum inzwischen ziemlich verzweifelten Schmidl, dem die Nachricht, dass ich ohne Erfolg zurückgekommen war, nicht eben zur Freude gereichte.
Und dann kam der legendäre Satz: „Ef Oaflächa, fiats mi sofoat noch Falloniki, i foa ham.“

Diese nicht sehr erfreuliche Aussicht brachte unsere Gehirnzellen zum Arbeiten, nachdem wir uns wieder eine Runde vor Lachen im Staub gewälzt hatten.
Dann kam mir der rettende Gedanke: Weil der Audi damals eine seltsame Konstruktion der Rückspiegelbefestigung hatte – er war auf die Windschutzscheibe geklebt – und ich wusste, dass er von Zeit zu Zeit runterzufallen pflegte, hatte ich aus Wien einen Zwei-Komponenten-Kleber mitgenommen.
Wir beschlossen, damit dem Schmidl den Zahn wieder in die Pappn zu kleben. Das Hauptproblem bestand darin, eine ruhige Hand zustande zu bringen, was vor lauter Lachen eine ordentliche Herausforderung darstellte. Georg und ich konnten uns nur schwer beruhigen, vor allem, weil der Kleber 30 Minuten Trocknungszeit verlangte. Und der Zahn in dieser Zeit nicht bewegt werden durfte.
Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie wir das geschafft haben. Ich weiß nur, dass Georg dem Schmidl währenddessen mit einem Strohalm Wasser auf der Seite des Mundes einflößte.
Irgendwann war der Kleber trocken und Schmidl konnte wieder lachen. Als er zwei Wochen später in Wien zum Zahnarzt ging, rüttelte der nur am Zahn und meinte, dass er in drin lassen würde. Er hielt noch weitere zwei Jahre, wenn ich mich richtig erinnere.

Also alles wieder gut. Dass wir das am Abend in Sarti ordentlich feiern und begießen müssen, war klar. Und irgendwie war auch klar, dass die Geschichte mit dem Zahn nicht das einzige Erlebnis bleiben sollte.
An einem der nächsten Abende lernten wir in der Disco ein paar Griechinnen kennen, die sich als der weibliche Teil der griechischen Rudernationalmannschaft herausstellten. Was sich in dieser Nacht genau abspielte, kann ich bei bestem Willen nicht mehr rekonstruieren, ich weiß nur noch, dass wir am nächsten Tag am Strand aufwachten, und zwar im Audi. Es stellte sich heraus, dass wir irgendwann von der Disko noch zum Meer gefahren sein mussten und dort mit dem Audi uns im Sand eingegraben hatten. Scheinbar konnten wir ihn nicht mehr frei machen und sind einfach eingeschlafen, mit offenen Türen, irgendwie auf den Sitzen liegend, mit Verrenkungen, die ich mir heute ebenfalls nicht mehr vorstellen kann. Die Griechinnen waren weg, dafür waren jede Menge Badegäste rund um uns herum, die uns alle ziemlich erheitert bewunderten. Zumindest hoffe ich, dass sie uns bewunderten, ich verstehe kein Griechisch.
Gemeinsam mit ein paar jungen Griechen schoben wir die Kiste aus dem Sand und fuhren nach Hause, mit einem ordentlichen Brand und großem Schädel.

So und so ähnlich verliefen die Nächte, an den Tagen ruhten wir uns aus, mehr oder weniger war es das. Wer heute die Partylaune junger Menschen kritisiert, sollte an die eigene Jugend zurück denken, wir jedenfalls hatten außer Strand, Disko, Saufen und Mädchen genau nichts im Kopf. Die Erinnerungen bestehen aus Fragmenten, etwa aus dem Tanzwettbewerb in der Disko, der wahrscheinlich an einem Samstag Abend stattgefunden hat und an dem wir natürlich teilnahmen. Die Musik durfte man sich aussuchen und wir wählten „Real wild child“ von Iggy Pop. Dazu tanzten wir eine Mischung aus Pogo und Ska, genau genommen irgendetwas, bei dem wir wie wild auf der Tanzfläche herumhüpften, die Beine in die Höhe rissen und uns gegenseitig anrempelten. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Anwesenden das gar nicht so lustig fanden, wir waren von uns jedenfalls begeistert und hatten riesigen Spaß.

Irgendwann, genauer nach drei Wochen, war der Urlaub zu Ende und wir packten unser Klumpert für die Heimreise. Unser Bach war merklich geschrumpft und wir hatten auch nicht vor gehabt länger zu bleiben. Jedenfalls stand uns eine lange Heimreise bevor, die glücklicherweise ohne größere Zwischenfälle verlief. Also bis auf einen, an den ich mich gut erinnern kann. Eigentlich zwei, aber der zweite war bereits daheim.
Wir fuhren irgendwo durch Jugoslawien, ich war hundemüde und wir mussten tanken. Dazu muss ich anmerken, dass das ganz anders war als heute. Um bei der Tankstelle Benzin zu bekommen, brauchte man Tankgutscheine – zumindest war das Benzin damit wesentlich billiger. Ich hatte sie in Wien besorgt und sorgsam gehütet, weil wir sie bei der Rückfahrt brauchten.
Georg wurde zahlen geschickt, kam zurück und wir fuhren weiter. Irgendwann, wahrscheinlich bei der nächsten Pinkelpause machte ich einen Blick in unsere Reisebörse und war leicht geschockt – die Benzingutscheine waren weg, alle oder fast alle, glaube ein oder zwei waren noch da.
Georg wurde zur Rede gestellt und erklärte, dass er nicht genau gewusste hätte wie viel wir zu zahlen hätten und so hätte er dem Tankwart einfach alle Gutscheine in die Hand gedrückt, auf dass dieser sich nehmen sollte, was es eben ausmacht.
Und das tat dieser auch, nicht zu knapp.

Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir dann in Wien, die Rückfahrt hatte 20 Stunden gedauert, ohne nennenswerte Pausen. Ich stellte den Audi daheim ab, schnappte mir meinen kleinen Reiserucksack mit den Wertsachen und ging hundemüde ins Bett. Der verdiente Schlaf dauerte aber nicht lange, denn meine Großmutter rief an, um mir mitzuteilen, dass die Feuerwehr bei unserem Audi stehen würde. Dazu muss man wissen, dass ich damals im 17. Bezirk wohnte und der Weg zur Straße, in der der Audi stand, den halben Schafberg hinunter führt. Es stellte sich heraus, dass ein Benzinschlauch gerissen und der Tankinhalt auf die Straße geflossen war. Die Feuerwehr hatte bereits alles abgesichert und den ausgelaufenen Sprit gebunden und ich wusste, dass das jetzt ganz zum Schluss noch ein wirklich großes Loch in die Reisekasse reissen würde.
Immerhin konnte ich jetzt schlafen gehen.

Emmylou Harris in Gstaad

Es muss irgendwann ca. 2008 gewesen sein, ich war zu Gast bei meinem lieben Freund Rudi in Klagenfurt und er meinte, ich soll mir unbedingt Gram Parsons anhören. Gram wer? Nie gehört.
Ich muss zugeben, das war ziemlich lässig. Liegt vielleicht daran, dass mich Rudi lange und gut kennt. Einige Nummern später war die Bestellung einiger CDs quasi schon abgeschickt.

Gram Parsons war ein Star der US-Country Szene und starb 1973 im Alter von 27 – so wie fast alle Musikerinnen und Musiker, die ihren 30er nicht erleben.
Irgendwann blieb ich bei einer seiner Nummern hängen, genauer gesagt bei „We´ll sweep out the ashes in the morning“, und zwar bei einer Strophe, die von einer Frau gesungen wurde. Die Stimme fesselte mich und ich wurde neugierig, wer das wohl sei.
Die Recherche ergab: eine gewisse Emmylou Harris.
Nie gehört. Also googeln.
Und dann ging es dahin, wie auf einer Wasserrutsche hinein in die Welt einer Sängerin, die 14-fache Grammygewinnerin ist, in der Country Music Hall Of Fame und noch einiges mehr.
Je mehr ich von ihr hörte, je mehr YouTube-Videos ich genoss, desto interessanter wurde sie. Eine Frau, die seit mehr als fünfzig Jahren auf der Bühne steht, in Würde ergraut, und scheinbar immer noch Spaß an der Musik hat.
Mit der Zeit verstand ich auch, warum Willie Nelson gemeint hat: „There’s only two kinds of men in the world, those that are in love with Emmylou and those who have never met her.“

Und dann war sie es, die mir lange Abende im ersten Corona-Lockdown kurz vorkommen ließ.
Der entscheidende Moment war jedoch im Frühsommer 2021, als ich irgendwo las, dass sie nach Europa kommen würde, und zwar zum Country Music Festival nach Gstaad, genauer gesagt für zwei Abende, 10. und 11. September.

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Bild: Konzert-Plakat

Als mir dann dämmerte, dass Gstaad nicht gerade ums Eck ist, war eine Entscheidung schwer. Noch dazu war ich bei vielen Aufnahmen der letzten zwanzig Jahre von ihrer Stimme eigentlich enttäuscht. Sie hat viel Kraft verloren, sie singt die Texte schlampig und verschluckt halbe Worte.
Würde ich eine herbe Enttäuschung erleben, verbunden mit ziemlich viel Aufwand?
Also beschloss ich die Entscheidung aufzuschieben.

Am 21. August beschloss ich dann hinzufliegen. Wie oft würde ich noch die Gelegenheit haben, sie live zu sehen? Wie oft würde ich mir in Zukunft eingestehen müssen, dass ich aus Bequemlichkeit die Chance verpasst habe, sie einmal in meinem Leben zu treffen – wenn auch nur als Unbekannter in der Menge?
Billig wird das nicht, andererseits: Ich hatte heuer noch keinen Urlaub und auch meine Österreichtour mit der Elektrovespa musste ich am zweiten Tag abbrechen. Das Geld war also da, blieb noch die Frage, ob ich die notwendigen Tickets bekommen würde. Nach Gstaad in der Westschweiz ist es eine halbe Weltreise, dann noch die Übernachtung, das Konzertticket und einiges mehr.
Zwei Wochen vor dem Konzert sagt noch Rodney Crowell (war in Emmylous bester Band aller Zeiten, der „Hot Band“) ab und mir kommen Zweifel, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Corona kann dem Festival in letzter Sekunde einen Strich durch die Rechnung machen, oder Emmylou sagt ab und das Ganze wird für mich wertlos.
Egal – no risk, no fun. Ich buche einen Flug, der mit 178 Euro deutlich billiger als eine Zugfahrt ist und noch dazu direkt geht, wenn auch zu der sportlichen Abflugzeit 07:35 Uhr.
Dann brauche ich noch zwei Zugtickets, denn eine Busverbindung lässt sich irgendwie nicht eruieren und das Taxi ist viel zu teuer.
Der Zug ist allerdings auch nicht gerade billig, hin und zurück macht das 106 Euro, und zwar vom Flughafen in Genf nach Montreux und von dort mit einem zweiten Zug nach Gstaad.
Das Konzertticket kostet 125 Euro und das billigste Hotel, das ich zu diesem Zeitpunkt noch buchen konnte, schlägt mit 130 Euro an.
Das müssten die größten Brocken sein, es kommt noch was fürs Essen dazu und ev. ein paar kleinere Ausgaben.
Das Hotel ist übrigens nicht in Gstaad, weil dort wären nur noch Zimmer in Luxushotels frei gewesen, so ab 800 Euro aufwärts, pro Nacht und nicht unbedingt mit Frühstück.
Ich wohne in Saanen, dem Nachbarort, der binnen einer guten halben Stunde auch zu Fuß erreichbar ist. Mein Hotel, der „Saanerhof“ liegt direkt an der Bahnstation und das Frühstück ist im Preis inkludiert.

Die letzten zwei Wochen verbringe ich in einer Mischung aus Vorfreude und ein wenig Bauchweh.
Dann allerdings ist es Samstag, sechs Uhr früh und ich fahre mit dem Roller zum Flughafen. Hier ist schon die erste Hürde zu überwinden: Vor einigen Jahren gab es einen eigenen Motorradparkplatz, den man gratis benützen konnte. Er war überdacht und man konnte von dort direkt in die Abflughalle gehen.
Gibt es den noch? Am Flughafen wird seit Jahren massiv um- und ausgebaut und gratis gibt es dort eigentlich gar nichts, schon gar keine Parkplätze.
Ich bin allerdings hocherfreut, als ich feststelle, dass es diese Enklave in einer durchkapitalisierten Welt noch gibt. (Für alle, die das auch einmal machen wollen: Man fährt an der Abflugrampe vorbei und biegt direkt dahinter scharf rechts ab, fährt unter der Rampe durch und hat sofort auf der rechten Seite den überdachten Abstellplatz.)

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Bild: Gratis-Parkplatz am Flughafen Schwechat

Ich gebe Helm, Jacke, Handschuhe und Nierengurt in den Koffer, nehme meinen Rucksack heraus und wandere zu meinem Gate.
Dass ich schon lange nicht in der Schweiz war kann ich daran erkennen, dass der Schengen-Beitritt spurlos an mir vorübergegangen ist. Also marschiere ich nach der Sicherheitskontrolle (gefährliche Deos, terroristische Nagelscheren) ohne jedwede weitere Kontrolle (Covid, Pass) zum Gate und warte auf den Abflug.
Ein erster Vorgeschmack auf die Schweiz zeigt sich in Form von Abflugpünktlichkeit, die ich seit Jahren nicht mehr gewohnt bin. Alle, ausnahmslos alle Abflüge der letzten Jahre waren verspätet.
Der Flug ist halbvoll, dauert eine Stunde und zwanzig Minuten und das Wasser an Bord kostet 3,50 Euro, kann aber gerne mit Kreditkarte bezahlt werden, wahrscheinlich nehmen sie sogar Bitcoins.

Kurz vor der Landung taucht die Sonne den Genfer See in goldenes Licht und ich bin schon gespannt, wie die Preise in der Schweiz sich entwickelt haben. Das mehrfach angekündigte Einreiseformular verlangt niemand und ich marschiere mit meinem kleinen Rucksack schnurstracks hinaus und Richtung Bahnhof, der in wenigen Minuten erreichbar ist. An einem Geldautomaten hole ich mir Schweizer Franken, was ebenso problemlos funktioniert. Die kleine Wasserflasche kostet 4 Euro und ich erreiche den Zug um 09:19, der ebenfalls pünktlich abfährt.
Ich sitze in einem Doppelstockzug, der extrem leise und sehr flott unterwegs ist. Vom Flughafen nach Genf fährt er in weniger als zehn Minuten, dann geht es weiter über Lausanne nach Montreux, was in Summe knapp 1,5 Stunden dauert.
Ich muss mich erkundigen, welche Weinsorten hier an den Hängen des Genfer Sees wachsen, jedenfalls müssen es unglaubliche Mengen sein, die hier produziert werden, ich fahre fast die ganze Strecke an Weingärten vorbei. Es steht hier quasi an jeder freien Ecke ein Weinstock, das Klima dürfte günstig sein.

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Bild: Wein wohin man schaut

Bis auf zwei Deutsche reden im Zug fast alle Passagiere Französisch, viele auch eine Sprache, die ich nicht verstehe, die irgendwie portugiesisch klingt.

In Montreux steige ich um und fahre nach wenigen Minuten mit dem zweiten Zug Richtung Gstaad. Es ist eine Schmalspur-Panoramabahn und die Teleobjektive der asiatischen Touristen haben in den letzten Jahren nichts an Größe eingebüßt.
Kurz nach dem Bahnhof schraubt sich der Zug steil in die Höhe, hier ist überhaupt alles sehr eng und sehr steil. Am Berghang stehen überall Schlösschen herum, alles wirkt sehr sauber und ordentlich, wie man es klischeemäßig in der Schweiz erwartet.

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Bild: Blick von oben auf Montreux am Genfer See

W-Lan gibt es im Zug keines, dafür hält er auf Wunsch an winzigen Bahnhöfen, wo er von Zeit zu Zeit ein paar Minuten warten muss, bis der Zug aus der Gegenrichtung vorbeifährt, die Strecke ist nämlich eingleisig.
Die Gegend ist nett, sieht aber auch nicht viel anders aus als bei uns in den Alpen.

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Bild: Landschaft zieht am Zug vorbei

Nach knapp 1,5 Stunden erreichen wir Saanen und ich gehe die wenigen Meter zum Hotel.

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Bild: Saanerhof

Dort erfahre ich vom ziemlich gestressten Manager, dass ich mein Zimmer leider erst gegen 16 oder 17 Uhr beziehen kann, die Festivalgäste von gestern sind heute erst ausgezogen und das Herrichten der Zimmer würde etwas dauern. Ich könnte mein Gepäck allerdings gerne schon im Zimmer abstellen.
Es ist Mittagszeit und ich hatte heute noch keinen Bissen zu Essen. Also beschließe ich einen kleinen Rundgang durch den Ort, um nach einem passenden Wirtshaus Ausschau zu halten. Nach dem Essen wäre dann ein längerer Spaziergang angesagt, für den ich vom Wirt noch schnell einen Tipp erhalten habe: Entlang des kleinen Flusses in Richtung Rougemont wäre es sehr nett.

Saanen ist ein rein touristischer Ort, den es mit ziemlicher Sicherheit irgendwo in China noch einmal gibt. Alles wirkt wie frisch geschleckt, die Häuser sind hier in der Gegend alle im gleichen Stil gebaut, mit Holzfront und Balkonen mit Blumenkisten und die Erdgeschosse sind fest in der Hand von Nobelboutiquen. Der Ortskern ist eine Fußgängerzone, die Schar der Touristinnen und Touristen hält sich allerdings in Grenzen, alles wirkt ruhig und beschaulich.

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Bild: Ortskern von Saanen

Als alter American-Football-Fan bin ich beim Anblick eines Geschäfts hängengeblieben. (Für Nicht-Fans: Der Quarterback der Pittsburg Steelers Ben Roethlisberger hat Vorfahren in der Schweiz. Möglicherweise auch von hier.)

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Bild: Röthlisberger

Punkto Essen geht man hier mit der Mode, es gibt fast ausschließlich Burger und Pizza, eventuell noch was Asiatisches.
Ich will das nicht. Wenn ich in ein Land komme, dann möchte ich landestypisch essen und Burger hängen mir sowieso schon zum Hals raus, die gibt es bei uns auch seit einigen Jahren an jeder Ecke.
In einem Gasthof bekomme ich Rösti mit Spiegelei und Käse, immerhin. Die Kellner:innen sind ausschließlich aus dem ehemaligen Ostblock, also auch alles wie bei uns. Bis das Essen kommt dauert es, die Schweiz bemüht sich hier dem eigenen Klischee gerecht zu werden, aber ich habe es ja nicht eilig.
Die Rösti ist okay, sehr sättigend und ohne jeglichen Pfiff, auch Pfeffer kann da nicht viel retten.

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Bild: Rösti

Um der schnell aufsteigenden Müdigkeit zu entkommen, mache ich mich auf den Weg zu der empfohlenen Wanderung, die mich zuerst ein gutes Stück am Flughafen vorbeiführt. Hin und wieder landet ein Sportflugzeug und bringt gut betuchte Gäste. Auch hier auf dem kleinen Waldweg ist alles sauber und ich sehe das erste Mal in meinem Leben Mistkübel mit einem eigenen Dach.

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Bild: Mistkübel mit Dach

Hin und wieder zieht ein Mountainbiker vorbei und ich treffe einen älteren Herrn – freundlich, mit dezentem Schnurrbart, so stelle ich mir einen Schweizer vor. Kurz vor Rougemont drehe ich um und bin erfreut, dass mein Zimmer jetzt um 16 Uhr doch schon beziehbar ist. Nach einer Dusche und einer Stunde des Ausruhens mache ich mich auf den Weg nach Gstaad, der Zug fährt wie erwartet pünktlich und die Fahrt dauert nur etwa fünf Minuten.
Gstaad selbst ist das, was man einen Nobelort nennt. Boutiquen aller Luxusmarken, hohe Ferraridichte und eine Art Schloss, das über dem Ort thront.

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Bild: Gstaad

Auch das gibt es mit Sicherheit irgendwo in China noch einmal, vielleicht ohne das Country-Festival, aber selbst da bin ich mir nicht sicher.
Das Festival findet in einer Halle plus angeschlossenem Zelt plus Freigelände statt. Es sieht aus wie auf einem Jahrmarkt, mit Fahrgeschäften, Zuckerwatte und einem elektrischen Bullen, der von Kindern gezähmt werden will.
Das Publikum ist bunt gemischt, das Alter eher Richtung Pension gehend, aber auch ganz kleine Knirpse sind unterwegs, wenn auch eher bei den Attraktionen im Freien.

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Bild: Freigelände

Es gibt eine strenge Ausweis- und Coronanachweispflicht, im Gelände bewegen sich die Menschen jedoch ohne Maske – das wird in ein paar Tagen spannend. (gleich vorweg: Ich habe mich drei Tage später testen lassen und war glücklicherweise negativ. In den Medien gab es auch keinerlei Vorfallsmeldungen.) Interessanterweise gibt es keinerlei Taschenkontrolle, ich habe meinen Rucksack dabei und hätte mir jede Menge Getränke mitnehmen können. So habe ich nur eine kleine Flasche Wasser dabei. Scheinbar gibt es keinerlei Angst vor einem Terroranschlag.
Alles ist nach Möglichkeit amerikanisiert worden, sogar die Künstler:innen werden mit Jeeps abgeholt, es gibt an jeder Ecke Burger und anderes Junkfood plus jede Menge Verkaufsstände für Cowboystiefel, Fransenjacken, Cowboyhüte und ähnliche Dinge, die in der Schweiz eher wie eine Verkleidung wirken.
Als ich in das Musikzelt komme, spielt bereits Jade Eagelson, ein junger kanadischer Country-Sänger, der für Rodney Crowell eingesprungen ist. Seine Musik klingt gefällig, aber ohne irgendwie was Besonderes. Nice to hear.
Das Zelt ist groß und bietet ca. 2.500 Sitzplätze, von denen geschätzt 75% belegt sind, wobei ein ständiges Kommen und Gehen herrscht.
Bier wird hier in eher geringen Mengen getrunken, es gibt 0,3-Liter-Becher, die 5,50 CHF kosten und Flaschen mit alkoholfreiem Bier um das gleiche Geld, das eindeutig mehr konsumiert wird als das alkoholische Bier.
Die Stimmung ist friedlich, viele Schweizerinnen und Schweizer sind da, natürlich Leute aus USA, viele Deutsche, Italiener und dann noch jede Menge Leute von überall aus der Welt. Der Ansager redet in moderatem Schwitzerdütsch und Englisch.

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Bild: Die Halle

Irgendwie wirkt die Country-Kulisse für mich ähnlich wie die Gstaad-Kulisse. Nahezu niemand hier ist Cowboy oder Holzfäller, aber viele bemühen sich so auszusehen. Es wirkt oft nicht echt, ganz im Gegensatz zur Musik, die sehr echt ist. Nach Jade Eagleson kommt Philipp Fankhauser, ein Ur-Schweizer, aber mit gewaltiger Stimme, guter Profi-Band und gutem Schmäh.
Der dritte Act ist Aaron Watson – der Cowboy unter den Cowboys. Er lebt tatsächlich in Texas und sieht auch so aus. Seine Musik ist typisch Country, seine Sprüche aber durchaus witzig. Er erzählt, dass er mit einem Hangover von gestern (ich war ja am zweiten Abend dort) heute auf einen Gletscher gebracht wurde und dass er so etwas noch nie gesehen hätte. Es wäre sein erstes Mal in der Schweiz und er sei sehr erstaunt und beeindruckt, dass die Landschaft hier hinter jeder Ecke aussieht wie ein Gemälde. Und dass Pflanzen, die sie in Texas mit enorm viel Mühe und mäßigem Erfolg züchten, hier einfach überall auf Felsen wachsen.
Am meisten aber hat ihn das Unkraut beeindruckt: „Bei uns hat das große Dornen, hier hat es Erdbeeren und Heidelbeeren“ meinte er.

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Bild: Aaron Watson

Ich habe mir meinen Platz vier Reihen vor meinem eigentlichen Sitz gesucht, dort ist alles rundherum frei, was nicht nur Covid-mäßig angenehm ist, sondern auch was die Sicht betrifft.
Der Ton ist extrem laut, auch als mit ein wenig Verspätung Emmylou auftritt. Es gilt den ganzen Abend schon die Regel, dass die Leute bei der ersten Nummer nach vorne kommen und ein Foto machen dürfen. Ab der zweiten Nummer werden sie von den Securities weggescheucht.
Bei Emmylou funktioniert das aber nicht gut und es dauert bis zur dritten Nummer, bis vorne alles geräumt ist.
Auf dem ganzen Festival geht es aber extrem friedlich zu, die Taschenkontrollen sind tatsächlich nicht notwendig, es gibt keine Betrunkenen und keine Randalierer, alles läuft sehr gesittet ab.

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Bild: Emmylou

Emmylou ist wunderbar, ihre Stimme kräftig wie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr und ich merke ihr an, dass sie immer noch echte Freude am Spielen hat. Die Frau ist 74 und rockt die Bude ordentlich. Sie spielt eine gute Mischung aus alten und neueren Nummern, von schwungvollem Country bis zu langsamen Balladen ist alles dabei, die letzte Zugabe ist „From Boulder To Birmingham“ und ich bin begeistert, weil ich das nicht erwartet hatte.

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Bild: Emmylou

Als das Konzert aus ist, beschließe ich zum Hotel zurückzugehen. Es gibt zwar in der Halle noch eine Party, aber ich habe eigentlich den ganzen Abend komplett alleine zugebracht, das Festival wirkte auf mich nicht so, dass ich Anschluss hätte finden können. Die meisten Leute waren in Form von Pärchen oder kleinen Gruppen da und mehr als ein paar belanglose Worte waren nicht drin, als ich mich zu ein paar Leuten an einen Tisch setzte, um mein Bier zu genießen.
Außerdem war es schon kurz vor ein Uhr in der Früh und ich hatte noch eine halbe Stunde Fußweg vor mir, von Gstaad nach Saanen. Ich hätte zwar das Geld für ein Taxi, aber ich wollte sowieso ein wenig Luft schnappen und runterkommen. Der Weg war nicht schwer zu finden, er führt immer am Fluß entlang, zum Großteil jedoch unter Bäumen und so war es ausgesprochen dunkel. Das Licht am Handy ist jedoch mehr als ausreichend und ich hatte auch noch genügend Akku.
Irgendwann treffe ich dann auf ein Pärchen, das ebenfalls in die gleiche Richtung unterwegs ist und kein Licht hat. Wir gehen gemeinsam bis zu dem Campingplatz in Saanen, wo sie ihr Wohnmobil stehen haben. Es ist das einzige echte Gespräch an diesem Abend für mich und sehr nett.
Dann bin ich im Hotel und rechtschaffen müde.

Am nächsten Morgen freue ich mich schon auf ein ausgiebiges Frühstück, werde aber leider enttäuscht. Die Kellnerin ist entweder komplett demotiviert oder überfordert, das Buffet ist fast leer. Ich urgiere Butter und Marmelade und bekomme ein langes Gesicht, als sie den Kaffee bringt (ich vertrage keinen Filterkaffee). Auf meine Frage nach einem weichen Ei kommt ein schroffes „Nein“ und bis auf ein wenig Müsli und ein paar Scheiben Käse, die nicht sehr appetitlich aussehen, gibt es mehr oder weniger nichts. Nur das Croissant ist gut, ansonsten kann ich das Hotel für Frühstückfans nicht empfehlen.
Ich bin ordentlich ausgeschlafen und beschließe, den Zug um 10:39 nach Montreux zu nehmen und mir diese Stadt anzusehen. Zeit habe ich genug und hier hält mich auch nichts mehr.
Die Fahrt verläuft unspektakulär und ich begebe mich in Montreux zur Uferpromenade, weil mir der Zimmerwirt in Saanen empfohlen hat zum Chateau zu wandern, das sei besonders schön.

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Bild: Promenade mit Palmen

Glücklicherweise gibt es ein Häuschen mit einer Touristeninformation und ich hole mir ein paar Infos und einen Stadtplan. Der Weg ist mit 40 Minuten angegeben und ich beschließe, eher dahinzuschlendern, schließlich habe ich es nicht eilig, jede halbe Stunde fährt ein schneller Zug nach Genf, ich habe also die Wahl, wann ich weiterfahren möchte.
Es sind ziemlich viele Leute unterwegs, es ist sehr warm und ich marschiere im T-Shirt los. Die Promenade ist angenehm zum Gehen, Montreux hat einen alten Stadtkern mit jeder Menge schöner Gründerzeithäusern und Villen, die sich die steile Bergflanke hinaufziehen. Da ist seit langer Zeit das Geld daheim – so der Eindruck.
Die Moderne hat aber auch an den Grenzen der Schweiz nicht Halt gemacht und so verschandelt eine Autobahn die eigentlich wunderbare Bergkulisse.

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Bild: Autobahn

Und es gibt eine Nestlé-Straße, mit passendem Schild am Rasen daneben.

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Bild: Die Nestlé-Straße in Montreux

Als ich dann aber an mehreren großen, alten Hotelkästen vorbeikomme, die zum Teil leer stehen, ändert sich der Gesamteindruck. Auch in der reichen Schweiz ändert sich scheinbar einiges, Montreux dürfte seine besten Zeiten vielleicht schon hinter sich haben.

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Bild: Das Grand Hotel

Alt und Neu treffen sich hier so wie Arm und Reich. Und es gibt einen Raddampfer, der natürlich nicht mehr mit Dampf betrieben wird, mich aber sehr an die „Gisela“ am Traunsee erinnert.

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Bild: Raddampfer

Ich bin körperlich heute nicht ganz auf der Höhe, vielleicht ist es auch die Sonne, jedenfalls fühle ich mich nicht sehr fit und beschließe, bei dem Chateau eine kleine Pause zu machen. Die ins Wasser gebaute Burg ist ein düsterer Kasten, für dessen Besichtigung sie 13 Franken Eintritt verlangen, was mich nicht wirklich reizt.

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Bild: Chateau de Chillon

Ich marschiere zurück und finde ein nettes Bankerl, um eine meiner Wasserflaschen zu leeren. Ein Vogel (Spatz oder was ähnliches) pickt Kerne aus dem Baum neben mir und ich kann ein wenig entspannen.
Dann geht es weiter, ich beschließe mir bei McDonalds eine Kleinigkeit zu kaufen, erstens um zu sehen, wie der hier ist und zweitens, weil ich glaube, dass es hier W-Lan gibt.
Fazit: Schmecken tut das Zeug wie bei uns, die Preise sind genau das Doppelte und W-Lan gibt es nur, wenn man eine Schweizer Telefonnummer hat.
Ich marschiere zum Info-Haus zurück, wo es tatsächlich W-Lan gibt.
Nach einiger Zeit gehe ich zum Bahnhof und fahre mit dem nächsten Zug nach Genf, um dort auch noch ein wenig die Zeit totzuschlagen. Eigentlich wäre mir ein früherer Rückflug durchaus recht, den gibt es aber nicht und so werde ich noch warten müssen.
Ich war vor langer Zeit einmal in Genf, bei einem Frisbee-Tournier, und kann mich an die Stadt nicht mehr erinnern.
Die Häuser sehen aus wie in Montreux und vom Bahnhof zum See sind es nur ein paar Meter.

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Bild: Park am See

Die Promenade dort ist wesentlich ausladender als in Montreux und ich suche ein nettes Plätzchen zum Ausruhen, irgendwie bin ich ziemlich geschlaucht.
Ich finde es unter einer großen Birke, ein schattiges Stückchen Wiese, auf dem ich mich ein wenig hinlegen kann.

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Bild: Die Birke am Genfer See

Die Atmosphäre ist friedlich, irgendwo daneben hockt eine kleine Gruppe, Kinder spielen und das Wetter ist sehr angenehm. Das Einzige, was mein Glück trübt, ist eine Taube, die im Baum genau über mir sitzt. Ich hatte schon vor vielen Jahren ein wenig angenehmes Erlebnis dieser Art und hoffe, dass sie nicht runterschwatzt.
Natürlich tut sie das irgendwann, glücklicherweise verfehlt mich aber der Batzen Glück. Ich hole mein Handy heraus, höre ein paar alten Nummern von Emmylou und genieße die freundlich-angenehme Szenerie, wenngleich im Hintergrund dreispurig die Autos vorbeifahren.

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Bild: Der Genfer See

Irgendwann hält es mich dann nicht mehr hier, die Sonne ist verschwunden und ich mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Der Zug fährt aber nur zehn Minuten zum Flughafen und ich bin viel zu früh dort. Ohne Gepäck und mit Bordkarte am Handy ist das Einchecken auf diesem eher kleinen Flughafen keine Affaire.
Also hole ich mir einen W-LAN-Code und gehe aus dem Abfluggebäude hinaus. Draußen gibt es eine freie Bank und ich beschließe, hier zu warten. Es wird nämlich noch dauern, da es hier heute genau einen einzigen verspäteten Flug gibt, und das ist natürlich meiner.
Ich hasse das Warten auf Flughäfen. Ich kann natürlich Musik hören oder diesen Bericht hier schreiben, aber das verkürzt die unendlich erscheinende Wartezeit nur unwesentlich. Das W-LAN funktioniert übrigens nur im Gebäude, hier draußen nicht, dafür muss ich hier keine Maske tragen.

Irgendwann sind auch diese Stunden vergangen und ich mache mich auf den Weg zum Gate. Dort sitzen zwei gelangweilte Angestellte, die für genau nichts zuständig oder kompetent sind. Vor allem nicht für die Frage, wie viel Verspätung wir tatsächlich noch aufreißen werden. Ich habe nämlich den Verdacht, dass die angegebene Zeit von 30 Minuten eine freie Erfindung ist. Kurz vor der angegebenen Abflugzeit steht nämlich immer noch kein Flieger da. Auf meine lästige Nachfrage erfahre ich, dass die Maschine vorher aus Athen nach Wien geflogen ist und von dort schon verspätet kam.
Diese elende Nicht-Information hat den Sinn, dass Fluglinien für Verspätungen nicht belangt werden können. Würden sie zugeben, dass sie eine nennenswerte Verspätung haben, könnte irgendwer irgendwie Entschädigung verlangen. So tun sie so, als wäre eh alles im Plan und lassen die Fluggäste dumm sterben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit landet die Maschine und nach einer weiteren Ewigkeit beginnt das Boarding.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt, der Flug verläuft unspektakulär, ebenso die Heimfahrt mit dem Roller.
Ich bin froh, wieder da zu sein. Die zwei Tage haben mich viel Kraft und Geld gekostet. Ich bin aber mindestens genauso froh, dass ich mir das Konzert mit Emmylou gegönnt habe. Es war die Reise wert, keine Frage.

Und nach Corona?

Vor weit über hundert Jahren hatte die damals noch junge Firma Dupont eine Sprengstofffabrik, in der es häufig Unfälle gab, mit Toten und Verletzten. Man bekam dieses Problem erst in den Griff, als man die Vorarbeiter samt ihren Familien mitten in der Fabrik ansiedelte. Danach sanken Anzahl und Schwere der Unfälle drastisch.

Wir haben es hier mit einem Widerspruch zwischen Chance und Risiko zu tun. Die Chance bestand darin, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Gewinn zu erzielen, das Risiko in den Unfällen.
Die Vorarbeiter waren für den Arbeitsablauf verantwortlich, mussten die Risiken aber nicht oder fast nicht mittragen. Erst als ihre Familien Teil des Risikos wurden, waren sie bereit auf einen Teil des Gewinns zu verzichten und Sicherheitsmaßnahmen einzuführen, die letztlich dazu führten, dass die Firma Dupont ein relevanter Player in der Sicherheitstechnikbranche wurde.

Was hat das mit Corona zu tun?
Menschen fühlen Risiken nicht, wenn sie davon nicht selbst betroffen sind und sind daher auch nicht bereit, diese Risiken mit eigenem Aufwand zu minimieren. Und sie sind auch selten bereit ihr Handeln zu verändern, wenn die Beibehaltung keine Konsequenzen mit sich zieht. Wenn ein Manager oder eine Managerin eine Firma an die Wand fährt und dafür auch noch einen Bonus bekommt, wird er/sie daraus maximal lernen, es das nächste Mal wieder so zu machen.

Corona zeigt uns jetzt die eigene Beteiligung, indem klar wird, dass wir es sind, die die Viren verbreiten, und zwar durch unsere Ansprüche an die Globalisierung. Zugleich wollen wir unsere Gewohnheiten, vor allem aber Luxus und Bequemlichkeit nicht einschränken. Jemand hat im Internet geschrieben, dass Corona uns in Hausarrest schickt, wie Kinder, die darüber nachdenken sollen, was sie falsch gemacht haben.
Luxus war ursprünglich das Besondere, das seinen Reiz durch den Mangel in der Normalität bekam. Das Zeichen war der Preis. Heute haben wir den Anspruch auf billigen Luxus für alle, mindestens aber für uns selbst.
Dass das nicht lange gut gehen kann, zeigt das alte Handwerkerbeispiel: Der ideale Handwerker soll schnell, günstig und gut sein. Dummerweise gibt es diesen Handwerker nicht – wer schnell und günstig ist, liefert meistens qualitativen Pfusch ab. Wer schnell und gut ist, hat seinen Preis und wer günstig und gut ist, braucht dafür ewig.
Corona deckt unseren Egoismus auf, getarnt als gesellschaftlich hoher Wert des Individualismus, gefördert durch die neoliberale Ideologie des Rechts des Stärkeren. Begründet wird das mantrahaft damit, dass es „der Markt verlangt“ und es daher so etwas die ein Gesetz wäre. Gerne sprechen die Vertreter dieser Ideologie auch vom „Gesetz des freien Marktes“.

Zugleich sind wir mit einer ganzen Reihe an Überhitzungen konfrontiert. Vielleicht ist es auch kein Zufall, jedenfalls aber eine Ironie des Schicksals, dass uns die Erde dafür Überhitzung liefert, deren Folgen wir nicht entkommen, auch wenn wir wollen.

Das betrifft vor allem zwei Bereiche: Reisen und Warenproduktion.

1.) Reisen

Sehr viele Menschen finden es „cool“ übers Wochenende nach London, Paris oder Mailand zu fliegen, oder eine Woche nach Dubai, drei Wochen nach Australien oder zum Meeting nach Berlin, New York oder sogar Peking.
Wir (mich nicht ausgenommen) haben uns daran gewöhnt, dass Reisen – genauer: Flugreisen – zu unserem Leben, unserer Kultur, unserem Standard, ja sogar Mindeststandard gehören. Jegliche Einschränkung dieser „Freiheit“ wird als unnötige Schikane empfunden, bei der uns jemand Freiheit wegnehmen will. Da werden sofort niedere Motive unterstellt, ähnlich wie bei der Parkraumbewirtschaftung („Abzocke“) und wir empfinden es als ungerecht, vielleicht auch, weil uns die Werbung seit Jahrzehnten suggeriert, dass wir alles verdienen, was es auf dieser Welt an Luxus und Freuden gibt.
Entscheidend ist jedoch, dass diese Einschränkungen sogar empfunden werden, wenn die Preise für den Luxus steigen, denn erstens empfinden wir diese Freiheiten nicht mehr als Luxus, sondern als Normalzustand und zweitens gewöhnen wir uns an die niedrigen Preise und empfinden sie ebenfalls als normal.
Sobald sie dann steigen, sind sie logischerweise abnormal und das soll, darf, kann nicht sein. Bei der Suche nach Schuldigen ist schnell wer gefunden, aber auch bei der Suche nach der Rettung ist der Messias nicht weit: der „freie Markt“ – er soll garantieren, dass jeder Mensch das angesprochene Recht auf uneingeschränkten Luxus jederzeit und überall und ohne irgendwelche negativen Konsequenzen ausüben kann.
Eine Einschränkung – welcher Art auch immer – wird als Angriff auf die eigenen Rechte empfunden und man behält sich rechtliche Maßnahmen vor.
Wenn also im Urlaubsort das Hotel nicht ganz den Erwartungen entspricht, wird eine Klage überlegt. Wenn der Flug sich um eine Stunde verspätet, ist das Grund zu grenzenloser Empörung.
Das Problem liegt darin, dass wir uns sehr schnell an Normalitäten gewöhnen, wenn sie auf dem Weg der Bequemlichkeit erreicht werden, uns aber sehr schwer tun mit neuen Normalitäten, die aus Einschränkungen entstehen.
Wir glauben an ein Recht der ständigen Verbesserung unserer Bequemlichkeit, zu der Luxus und unendlicher Konsum zählen. Die Auswirkungen des alten Werbespruchs „ich will alles, und das jetzt gleich“ sehen wir an Entwicklungen, die von einiger Distanz aus betrachtet nichts weniger als pervers erscheinen. Dazu gehören Kreuzfahrten, moderne Skigebiete mit Kunstschnee, Gletscherskilauf im Sommer, Wellness-Oasen auf Bergspitzen und noch vieles mehr.
Die Spitze des Eisbergs stellt sicher die Skihalle in Dubai dar, aber auch die Ressorts auf den Malediven bemühen sich sehr um maximalen ökologischen Fußabdruck. Hier wird die Überhitzung einer ursprünglich begrüßenswerten Entwicklung sehr deutlich, denn Tourismus selbst entstand aus dem Entdeckungsdrang der Menschen.

Den Preis dafür zahlen Angestellte in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und natürlich die Umwelt. Den genussgewohnten Konsument*innen wird das jedoch tunlichst nicht unter die Nase gerieben und wenn, dann tritt obiger Mechanismus in Kraft und Empörung macht sich breit, man redet von einer „Verbotskultur“ und fühlt sich total im Recht.

Und jetzt ist auf einmal alles anders. Natürlich versuchen wir die Bequemlichkeit und Normalität zu retten, aber das wird jeden Tag schwieriger. Zu Beginn des Lockdowns im Frühling 2020 fühlten sich viele Menschen daheim wohl. Das hat sich im Laufe der Pandemie geändert.

2.) Warenproduktion

Lange Gesichter gibt es dort, wo Medikamente auf einmal nicht mehr vorhanden sind und Apotheker oder Arzt nur bedauernd den Kopf schütteln und meinen, sie wüssten auch nicht, wann das wieder lieferbar sein wird.
Der Großteil der Medikamente kommt nämlich aus China und wurde im Lockdown nicht oder verspätet geliefert. Dummerweise haben einige Pharmafirmen stets damit geprahlt, dass sie hier bei uns produzieren. Nur hat das halt nicht gestimmt.
Noch sind die meisten Warenlager voll, noch gibt es alles zu kaufen, was das Herz begehrt, wenngleich die meisten Geschäfte geschlossen haben. Noch tut das nicht weh, denn wir kaufen es halt, wenn sie wieder offen haben oder kaufen online, was ja sehr bequem ist.
Noch ist überhaupt nicht klar, wie viele Unternehmen es danach überhaupt noch gibt, der Sommer 2021 wird das wahrscheinlich deutlich machen, vielleicht noch stärker der Herbst. Das Problem liegt unter anderem daran, dass bisher schon sehr viele Unternehmen am Limit gewirtschaftet haben bzw. wirtschaften mussten, weil sie „der Markt“ dazu zwingt. Kredite konnten nur mit guten Umsätzen bedient werden, jeder kleine Umsatzeinbruch ist da und dort schon ein Insolvenzgrund.
Das „Leben am Limit“ zieht sich quer durch alle Bereiche. Angestellte haben oft keine Rücklagen, dafür aber zwei Jobs. Unternehmen haben oft ebenfalls keine Rücklagen und müssen dann genau die Angestellten hinausschmeißen, die zwei Jobs haben und brauchen, von denen jetzt einer wegfällt.
Daraus entsteht im schlimmsten Fall eine Abwärtsspirale, die sich nur schwer aufhalten lässt, bevor wir alle ganz unten angekommen sind, zumindest sofern nichts oder das Falsche unternommen wird.

Die Überhitzung zeigt sich sehr gut im Überfluss, der durch die Warenüberproduktion entstand. Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Wegwerfgesellschaft zu leben und verteidigen diese meist mit dem Argument, dass es erstens keine Alternative gäbe und wir zweitens ja nicht zurück in die Steinzeit wollen.
In zwei Bereichen zeigt sich das besonders gut: Wir werfen Lebensmittel weg, die vollkommen in Ordnung sind, weil ihr Wert verloren gegangen ist. Etwas, das stets überall im Überfluss zur Verfügung steht und relativ wenig kostet, verliert automatisch seinen Wert. Und wir werfen Kleidung oft weg ohne dass sie auch nur ein einziges Mal getragen wurde. Dieser Trend nennt sich „Fast shopping“ und wird seitens der Industrie auf vielfältige Weise unterstützt. Es gibt z.B. nicht mehr eine Frühjahrs- und eine Herbstmode, sondern monatlich wechselnde Kollektionen, teilweise sogar bereits wöchentlich.

Was ist das für ein System, das jetzt blitzschnell an seine Grenzen zu kommen scheint? Und was passiert danach?
Im Idealfall lernen wir daraus und ändern unser System, das sich in so einer Situation als – teilweise – fehlerhaft herausstellt, weil es an Resilienz fehlt.
Das betrifft z.B. folgende Bereiche:

Abhängigkeit durch die Globalisierung

Der Großteil unseres Wohlstands bzw. der Ressourcen, die wir dafür brauchen, ist importiert. Das betrifft die Energie, die Rohstoffe, aber auch die fertigen Waren, die zum Großteil woanders erzeugt werden, weil das billiger ist. Bisher – und das ist für eine spätkapitalistische Gesellschaft sicher typisch und in diesem Sinne auch ganz normal – ging es ausschließlich um den Preis.
Das betrifft auch in vollem Umfang unser Gesundheitssystem. Als meine Mutter starke Schmerzen im Bein hatte, wurde eine Hüftoperation fällig. Der Arzt meinte, ein Termin würde 4-6 Monate dauern. Wenn sie es selbst zahlt, ist sie nächste Woche dran.
Wer genügend Geld hat, kann sich gute Versorgung leisten. Die anderen haben Pech gehabt bzw. nicht genug geleistet, wobei als Leistung nur zählt, was mit Geld entlohnt wird, also die Erwerbsarbeit.

Glücklicherweise sind wir noch nicht ganz dort angelangt, auch wenn die neoliberalen Kräfte das versuchen durchzusetzen. Dazu gehört auch die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Wasser. Wie damit umgegangen wird, ist eine politische Entscheidung, genauso wie die 2-Klassen-Medizin. Die Commons-Bewegung hat an dieser Stelle die Forderung nach vier Bereichen erstellt, die vergemeinschaftet werden sollten: Boden, Arbeit, Geld und Wissen. (Für die genaue Aufarbeitung dieses Themas braucht es einen eigenen Beitrag.)

Zurück zur Globalisierung. Die ausschließlich profitorientierte Wirtschaft sucht sich immer den Ort, an dem die Kosten am niedrigsten sind und so geraten die einzelnen Länder, Kontinente und Regionen in Wettbewerb: Wer bietet die niedrigsten Kosten? Dabei sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Die Lohnkosten und die Kosten für den Umweltschutz. Wer also die Ausbeutung von Mensch und Umwelt zulässt, gewinnt.
Damit diese Globalisierung der Märkte auch funktioniert, müssen die Transportkosten weltweit niedrig gehalten werden. Das hat etwa zu den ersten großen Öltankerkatastrophen geführt, weil die Tanker aus Kostengründen einwandig gebaut wurden. Bis heute hat sich nicht viel geändert, die Frachter fahren mit dem billigsten Treibstoff, den es weltweit gibt. Der ist deswegen so billig, weil keinerlei Umweltkosten eingepreist sind. D.h. wer mit Schweröl fährt, vergiftet die Umwelt, ohne dafür bezahlen zu müssen.
Es gibt für die internationale Seefahrt keinerlei Beschränkungen (der berühmte „freie Markt“) und daher ein Maximum an Umweltverschmutzung, weil ja jeder die billigste Variante wählt. Derzeit sieht es so aus, als ob das auch noch lange so bleiben wird.

Was wir also lernen können, wenn wir wollen:
1.) Wie wichtig Gesundheit für ein gutes Leben ist und dass es dafür ein leistungsfähiges System braucht, das auch was kostet.
2.) Egoismus funktioniert nur kurzfristig.
3.) Lokale bzw. regionale Produktion aller lebenswichtigen Güter ist sinnvoll.
4.) Entschleunigung schadet nicht.

Kommen wir zu den Lösungsansätzen einer PVÖ, einer „Post-Virus-Ökonomie“.
Über diesen Begriff wurde viel diskutiert, etwa weil man für ein positives Bild nicht so negative Begriffe wie „Virus“ verwenden sollte. Letztlich überwiegt aber ein Argument, nämlich dass der Begriff sofortige Klarheit schaffen soll, worum es geht.

Neudefinition des Glücks

Derzeit gibt es in unserer Gesellschaft einen dominanten Glücksbegriff, nämlich den des Konsumglücks. Je mehr ich kaufe und je mehr ich besitze, desto glücklicher bin ich.
In der Glücksforschung stellt sich das differenzierter dar, nach Herbert Laszlo gibt es drei Formen von Glück:
a.) Der Zustand innerer Zufriedenheit, ähnlich dem altgriechischen Begriff der „Eudaimonia“.
b.) Emotionale Glücksmomente, etwa wenn die Mutter ihr Baby lachen sieht.
c.) Fortuna, also das Glück etwa im Spiel.

In der Überhitzung unserer Konsumglücksgesellschaft, in der wir vor allem „Keep it up with the Jones“ spielen, erreichen wir maximal den kurzen Adrenalinausstoß, den uns ein Kauferlebnis bringt, angeblich ganze sieben Sekunden lang. Dann brauchen wir das nächste Erlebnis – das ist übrigens einer der Motoren des „Fast Shoppings“.
Ach ja: „Keep it up with the Jones“ ist ein US-amerikanischer Begriff. Die Familie Jones sind die Nachbarn, deren Konsum ich nacheifere und ständig glaube übertreffen zu müssen. Wenn Herr Jones ein neues Auto hat, brauche ich auch eins, am besten ein größeres, schöneres als er. Herr Jones sieht das übrigens genauso und Frau Jones ebenfalls.

Wie könnte ein moderner Glücksbegriff aussehen?
Jedenfalls kommt Eudaimonia wieder ins Spiel und führt zu einer Neugestaltung unserer Zeit. Derzeit verwenden und leben wir von den beiden Zeitbegriffen der alten Griechen nur einen einzigen, nämlich „Chronos“, die Quantität der Zeit. Alles wird in Monate, Tage, Stunden, Sekunden eingeteilt und treibt uns vor uns her. Gemessen wird mit Chronometern.
Der andere Begriff ist der des „Kairos“, was so viel bedeutet wie „der richtige Augenblick“. Es handelt sich hier um die Qualität der Zeit, also um den Genuss des Hier und Jetzt.
Statt Dingen bringen uns Menschen das Glück, also die Geselligkeit, auch der gemeinsame Genuss des Besonderen, der gemeinsame oder auch einsame Müßiggang, idealerweise in der Natur, die unseren Puls zu senken vermag, speziell im Wald.
Vielleicht schenkt uns die Corona-Krise ja auch einen neuen Blick auf Gesundheit, und zwar jenseits der individuellen Ebene. Wir können uns als Teil einer gesunden Gemeinschaft verstehen und sind bereit, Gesundheit umfassender zu denken. Das führt uns weg vom ungesunden Egoismus hin zu einer modernen Form einer sozialen Ordnung. Die Begriffe Kommunitarismus, Commons und Almende stehen plötzlich vor der Tür und wollen herein. Ihnen folgen in Zukunft wohl noch einige andere.
Essen und Trinken bekommen einen neuen Stellenwert, weil es nicht mehr alles immer und überall gibt und wir lernen, dass wir alles immer und überall zu unserem Glück gar nicht brauchen. Qualität will genossen werden, dazu muss sie als solche erkennbar sein, etwa durch klare Herkunftsnachweise. Der Sonntagsbraten ist wieder dem Sonntag zugedacht, was der Gesundheit der Gemeinschaft gleich auf mehreren Ebenen zuträglich ist.
Das Glück ist immer auch das Glück der anderen. Dazu brauchen wir aber sozialen Ausgleich und der beginnt mit einer gerechten Verteilung der Güter, die wiederum auf der Wertigkeit des Menschen aufbaut.
Natürlich gibt es nach wie vor individuellen Reichtum und auch eine ungleiche Verteilung der Güter, aber nicht in der derzeitigen Überhitzung.

Neudefinition des Wachstums

Die Post-Virus-Ökonomie ist auch eine Post-Wachstums-Ökonomie. Nein, das führt uns nicht in die Steinzeit zurück, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob an dieser viel beschworenen Zeit alles so schlecht war. Aber es steht sowieso nicht zur Debatte.
Wir folgen jetzt den Ideen von Leopold Kohr, der das richtige Maß eingefordert hat, und war von allem und somit auch von allen.
Er meinte, alles auf dieser Welt soll bis zu seiner idealen Größe wachsen. Diese ist aus der Natur der Dinge gut erkennbar, wenn man erkennen will. Nichts soll darüber hinaus wachsen, weil es dann pervers wird, und nichts soll unter seiner idealen Größe bleiben, weil es sonst verkümmert.

Wenn wir diesem Grundsatz folgen und etwa das Design der Dinge bzw. unseres Lebens danach gestalten, wäre das nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Ob wir dafür bereit sind oder noch eine zweite Pandemie plus eine Verschärfung der Klimakrise brauchen, wird die Zukunft zeigen.

Design

DESIGN

Anmerkungen zu einem Element unseres Konsumlebens

Auf Wikipedia heißt es schlicht „Entwurf“ oder „Formgebung“ und das hilft uns nicht weiter. Die Übersetzung aus dem Englischen („Gestaltung“) schon eher.
Aber auch Wikipedia wird noch genauer: „Insbesondere umfasst es auch die Auseinandersetzung des Designers mit der technischen Funktion eines Objekts sowie mit dessen Interaktion mit einem Benutzer. Im Design-Prozess kann somit unter anderem Einfluss auf die Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer eines Objekts genommen werden, was insbesondere beim Produktdesign relevant ist.“

Wenn es also heißt „ein schönes Design“, dann kann damit die Gestaltung eines Objekts gemeint sein, also die äußere Form, oder das, was darin enthalten ist, denn mit „Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer“ ist das Wesen beschrieben, das ein Gegenstand, ein Objekt hat.
Wer einen Gegenstand „designt“, übernimmt damit auch die Verantwortung für das, was er ist und für seine Relation zur Welt, denn es handelt sich um einen bewussten Vorgang.
Im Doku-Film „Design ist niemals unschuldig“ von Reinhild Dettmer-Finke wird dieser Verantwortungsaspekt unter die Lupe genommen.
Design gestaltet unsere Welt, es ist zumindest mitgestaltend und somit auch dafür verantwortlich, was die Dinge in und mit unserer Welt machen.

Wenn ein Gegenstand geplant, entworfen und gebaut wird, dann ist seine Form nicht zufällig, sondern steht für etwas. An dieser Stelle ist noch nicht gesagt, wofür er steht.
Ein gutes Beispiel ist der VW Käfer, der für „moderne Mobilisierung der Massen“ steht bzw. stand und ganz bewusst dafür entworfen wurde.
An dieser Stelle kommt eine politische Dimension dazu, denn der Käfer wurde sowohl vom Nationalsozialismus wie auch von der US-amerikanischen Hippie-Bewegung als Symbol verwendet.
Der Käfer hat 4-5 Sitzplätze und wurde somit für die Kernfamilie entworfen, also Vater, Mutter und 2-3 Kinder plus eine bestimmte Menge Gepäck. Durch seine Technik wurde er so gestaltet, dass die Erzeugung zu einem Preis möglich ist, den sich die erwünschten Besitzer auch leisten können.
Ist das Design des Käfers nun eine Antwort auf ein erwünschtes Gesellschaftsmodell oder wird dadurch dieses Modell erst entworfen?

Der Designtheoretiker Friedrich von Borries erklärt im Film anhand des Smartphones die verschiedenen Ebenen des Designs. Hören wir ihm kurz zu:
„Auf den ersten Blick würde man sagen, das Design eines Smartphones ist die Oberfläche, die Materialität, dass ich darüberwischen kann, dass ich es gerne anfasse, dass es der Hand schmeichelt, dass es gut aussieht usw. Das ist Design.
Auf den zweiten Blick kann man sagen, vielleicht ist das Design des Smartphones noch etwas anderes, nämlich die Art, wie wir es benutzen, wie wir miteinander kommunizieren, also dass wir jetzt alle erwarten, innerhalb von zwei bis vier Stunden – oder wie auch immer – eine Antwort auf eine E-mail oder SMS zu bekommen. Eine Interaktionserwartung an andere zu haben, ist auch das Design.
Das Design eines Smartphones ist aber auch, dass wir bereit sind uns überwachen zu lassen, dass wir aus Bequemlichkeit unsere Ortungsdaten zur Verfügung stellen, diese verknüpfen lassen mit den Informationen, die wir an dem Ort gesucht haben, um damit also selbst gläsern, transparent und kommerziell verwertbar zu werden.“

Laut von Borries ist Design politisch, weil es manipulativ die Überwachungsfunktion hinter der glänzenden Fassade verbirgt, weil es damit Selbstüberwachung schafft und in Folge auch eine ebenso gestaltete Gesellschaft.
Er meint, dass dies nicht von „durchgeknallten Politikern“ geschaffen wird, sondern von den Konsument*innen und den kommerziell interessierten Herstellern.

Es taucht die Frage auf, was wir für ein gutes Leben brauchen und ob Design die Verantwortung hat, uns das zur Verfügung zu stellen, dafür zu designen.
Design kann somit entweder die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft befeuern oder genauso gut einen anderen Entwurf, etwa eine Gesellschaft in einer Postwachstumsökonomie, in der die Gegenstände möglichst nachhaltig, möglichst reparierbar und möglichst langlebig entworfen werden.

Design hat in den letzten Jahrzehnten die Aufgabe übernommen, Gegenständen das Attribut „innovativ“ zu verleihen, „anzudesignen“ könnte man sagen. Eine Wachstumsgesellschaft braucht ständige Innovationen, um ständig neue Gegenstände verkaufen zu können, die eigentlich nicht gebraucht werden. Ein neu entworfener Sneaker (Turnschuh) kann nicht mehr als das Vorgängermodell, soll aber durch sein Design vermitteln, dass er etwas besser kann und daher gekauft werden soll.
Wir finden das natürlich ganz besonders bei der wichtigsten Ikone unserer Zeit, dem Auto. Neue Modelle unterscheiden sich von den Vorgängermodellen in winzigen Details, die aber durch die Werbung zu unglaublichen Innovationen aufgeblasen werden müssen, um einen entsprechenden Verkaufserfolg zu schaffen.
Wer hier nicht mitmacht, gerät ins Hintertreffen, verliert Marktanteile und verschwindet früher oder später.
Ein Beispiel dafür ist die Marke „Eudora“, die viele Jahrzehnte Haushaltsgeräte erzeugt hat, vor allem Waschmaschinen.
Diese Geräte haben sich als ausgesprochen langlebig erwiesen – ich selbst besitze eine seit dreißig Jahren. Das bedeutet, dass ich mir seit dreißig Jahren keine neue gekauft habe und Eudora kein Geld mit mir verdient hat.
An dieser Stelle greift wiederum die Politik ein, die unser System steuert, etwa indem sie Herstellern, die Geräte für Langzeitgebrauch erzeugen, steuerliche Vor- oder Nachteile verschafft.
Dadurch steuert sie, welche Art von Design belohnt und welche bestraft wird. Am Beispiel von Eudora können wir leicht erkennen, dass Langlebigkeit nicht gerne gesehen und somit bestraft wird.

An dieser Stelle wird gerne erwähnt, dass es ja die KonsumentInnen sind, die langlebige oder kurzlebige Waschmaschinen wollen und somit kaufen.
Ist das wirklich so? Weshalb sollte ich eine Waschmaschine kaufen, die schnell kaputt wird? Beim Smartphone kann ich das noch irgendwie verstehen, etwa wenn man mit dem neuen Modell bei Freunden angeben will und es somit äußerst praktisch ist, wenn das alte schnell kaputt geht– aber bei der Waschmaschine?
Da gibt es noch das Argument, dass die neue Maschine umweltfreundlicher ist als die alte und daher diese daher möglichst schnell ausgetauscht werden sollte.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass auch hier manipuliert wurde und die neuen Maschinen genauso viel Strom verbrauchen wie die alten. Man verwendet dafür den gleichen Trick wie VW mit seinen Dieselautos: Es wird ein bestimmter Testzyklus entworfen, in dem geringer Verbrauch gemessen werden kann. In der Praxis gibt es solche Zyklen aber nicht und daher handelt es sich bestenfalls um Manipulation.

Dinge können so designt werden, dass Menschen sie etwa gut teilen können oder dass sie reparierbar sind. Sie können so gestaltet werden, dass man sie gerne lange benützt, eine Beziehung zu ihnen aufbaut und in ihnen einen Wert erkennt. Das kann über die Materialwahl, die Verarbeitung oder die Formgebung geschehen.
All das macht das Design.

Design nimmt auch direkt Einfluss auf das Verhalten der Menschen, es kann beziehungsfördernd wirken oder hemmend. Wenn eine Freifläche, ein Innenhof, eine Straße, ein Haus so gestaltet wird, dass die Leute zum Beziehungsaufbau animiert werden, so ist das eine Frage des Designs, das nicht nur für einzelne Gegenstände zuständig ist.
Im Film wird ein Rondeau gezeigt, das aus einem grünen Ring mit Pflanzen besteht, die von Besucher*innen gestaltet werden können. Innen gibt es eine ringförmige Bank, ähnlich einem Sesselkreis. Sie lädt zum Plaudern oder Diskutieren ein.
Das Gegenteil ist das Design moderner Bahnhöfe, wo es gar keine Sitzgelegenheiten mehr gibt, die genützt werden können, ohne zu konsumieren. Selbst freie Bodenflächen werden umgestaltet, etwa durch spitze Zacken, so dass sich niemand hinlegen kann. Dadurch sollen Obdachlose vertrieben werden, die sich im Winter aufwärmen wollen.
Auch das ist Design.

Es kann Kreativität fördern oder verhindern. Das beste Beispiel ist LEGO. Die ursprüngliche Designidee war die Förderung der kindlichen Kreativität. Die Bausteine waren so gestaltet, dass sie vielfältig verwendbar waren. Wenn man genügend davon hatte, konnte man so ziemlich alles bauen, was man sich ausdenken konnte. Dafür reichten kleine, viereckige Bausteine unterschiedlicher Länge und Größe plus ein paar Sonderelemente wie Räder oder schräge Bausteine als Dachelemente.
Dann entwickelte LEGO die „Technik“-Serie. Damit konnten die Kinder nach genauer Anleitung technische Geräte wie Bagger oder Autos bauen. In den ersten Jahren waren auch diese Bausteine noch flexibel verwendbar und so konnte man aus einem Bagger auch einen Kran bauen und die Teile mit den alten Legosteinen mischen. Die Kreativität wurde dadurch schon deutlich eingeschränkt.
In der heutigen Form wird ein Objekt – etwa ein Raumschiff aus der Star-Wars-Serie – vorgegeben und kann nach genauer Anleitung zusammengesteckt werden. Die Elemente sind hochkomplex und nachdem etwas aufgebaut ist, kann zwar noch seine Funktion getestet werden, es animiert aber nicht mehr zu einer Umgestaltung. Die Kinder werden überhaupt nicht mehr dazu angeregt kreativ zu sein, sondern folgsam nach einer exakten Vorgabe etwas abzuarbeiten. Die meisten Bauelemente können nur für genau einen Zweck verwendet werden und passen nur auf genau einen Platz. Das Design der modernen LEGO-Elemente hat die Freiheit gegen die Gehorsamkeit getauscht und das Spiel gegen die Arbeit.

Die Forderung nach anderem Design als diesem ist alt, erschreckend alt. Auf der Design-Konferenz in Aspen forderten junge Designer bereits 1970: „Hören Sie mit dem unnötigen Ressourcenverbrauch auf! Weigern Sie sich Strukturen zu schaffen, deren einziger Zweck der Profit ist und damit eine zerstörerische Kraft in unserer Gesellschaft.“
Bereits damals wurde intensiv über ein alternatives Wirtschaftssystem nachgedacht. Aus heutiger Sicht ist klar, dass sich diese Gedanken, Wünsche und Forderungen nicht durchgesetzt haben. War ihre Zeit damals noch nicht gekommen? Ist sie es heute? Oder handelt es sich um ein kritisches Grundrauschen, mit dem der Kapitalismus damals wie heute locker fertig wird?

Haben Designer*innen Verantwortung für das, was sie entwerfen? Oder liegt diese Verantwortung bei ihren Auftraggebern?
Entwickeln die Designer*innen das, was die Konsument*innen fordern bzw. wünschen, oder nehmen diese einfach das, was designt wird? Erzeugt das Design erst den Wunsch?

Die politischen Dimensionen von Design sind vielfältig. Wer etwa Solarzellen entwirft, die jenseits der bekannten Paneele auf Fenstern oder verschiedenen, nicht auffälligen Gegenständen angebracht sind, verändert die Art und das Ausmaß der Akzeptanz. Das wiederum führt möglicherweise zu einer steigenden Zahl an Anwendungen und in Folge zu Autarkie oder auch stärkerer Vernetzung der Menschen durch Technologie: Wenn jeder Haushalt seinen eigenen Strom erzeugt, verändert das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Machtverhältnisse und somit das demokratische System.

Der modernste Ansatz richtet sich gegen das ursprüngliche Ziel des Designs: Dinge so zu gestalten, dass Menschen sie kaufen, obwohl sie diese Dinge nicht brauchen, um das ständige Wachstum anzutreiben.
Heute geht es um das Gegenteil: Dinge so zu gestalten, dass die Menschen mit weniger auskommen und trotzdem keinen Mangel empfinden. Langandauernde Nützlichkeit rückt in den Vordergrund, Reparierbarkeit wird zum zentralen Gestaltungselement, vielfältiger Nutzen ebenso wie die Möglichkeit die Dinge nach ihrem Gebrauchszyklus wiederzuverwerten.
Modernes Design kehrt den Wert der Gegenstände hervor, optisch und haptisch, und lenkt das Begehren in eine Langzeitnutzung anstatt in die schnelle Erneuerung. Der Statusgewinn entsteht dann nicht mehr dadurch, dass ich das Neueste habe, sondern dass ich das Beste teile.

„Kritisches Design“ denkt heute schon über die Probleme der Zukunft nach. Wie werden wir leben (können), wenn die Klimakrise jetzt bewohnte Teile unserer Erde unbewohnbar macht? Wie müssen Lebensräume gestaltet sein, um ohne Ressourcenverschwendung auszukommen? Wie funktionieren Kreislaufsysteme?
All diese Fragen und die darauf fehlenden Antworten machen klar, welche Verantwortung die Querschnittsmaterie Design hat.

Sehen wir uns abschließend an, was Friedrich von Borries dazu zu sagen hat:
„Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mache deshalb Autos und ich mache, dass die schön aussehen und sich gut verkaufen. Ich kann sagen, ich bin Transportation Designer und mich interessiert, wie in einer Stadt das Verhältnis zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern ist und deshalb gestalte ich nicht nur Fahrräder und Autos, sondern überlege mir, wie breit sind die Gehwege, wie breit sind die Straßen – aber ich überlege mir auch, wie kann ich von dem einen auf das andere umsteigen und deswegen entwerfe ich auch Umsteigestationen, entwerfe S-Bahn-Waggons, in die ich einfach die Fahrräder mitnehmen kann usw.
Und plötzlich gestalte ich an der Umweltverträglichkeit unserer Gesellschaft und nicht an der Verkaufbarkeit von einer Tonne Stahl und Motor.
Design kann alternative Lebensformen und den gesellschaftlichen Wandel attraktiv machen.“

Im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft wird die Zukunft einer Transformationsgesellschaft gehören, in der Design nicht die Aufgabe hat, schöne Produkte zu entwerfen, um möglichst viel davon zu verkaufen, sondern dem Design die wichtige Aufgabe zukommt, Gegenstände samt den notwendigen Ressourcen so einzusetzen, dass sie eine Zukunft mit einem guten Leben für alle ermöglichen.

Die Philosophie des Virus

Eine philosophische Betrachtung der Corona-Pandemie

Der französische Filmemacher Alain de Halleux nennt seinen Film über Corona „Sand im Weltgetriebe“ und legt damit den Finger auf die Wunde der Wachstumsideologie. Wir haben unsere Systeme ausgereizt, mindestens was die Ausbeutung von Mensch und Natur betrifft, im religiösen Sinne könnte man sagen, wir haben uns versündigt.

Um die Komplexität des Themas zu verstehen, müssen wir es auf mehreren Ebenen betrachten. Der Film hat mir dabei geholfen und mich vielfach inspiriert.

ERSTE EBENE: DAS VIRUS SELBST

Es (das Virus – oder der Virus?) ist angeblich nicht lebendig, weil es kein eigenes Stoffwechselsystem hat, es ist nur ein genetischer Code, oder – optisch dargestellt – eine Kugel mit einer Art von Stacheln, vergleichbar mit einer Treibmine.
Es ist winzig klein, Teil einer unsichtbaren Welt, in Relation so groß zu uns wie wir zur Welt. Es entsteht, verändert sich und zeigt doch so etwas wie ein eigenes Leben, in jedem Fall eine eigene Existenz. Es ist bedrohlich, hartnäckig, bekämpfbar, vielleicht sogar ausrottbar. Es existiert in vielen Formen und gehört zu unserem Leben.

Seine Variante Covid-19 hat die erste echte, weltweite Pandemie unserer Zeit ausgelöst. Dieses Virus und noch viele andere befallen lieber den Menschen als eine aussterbende oder stark dezimierte Gattung oder Art wie den Königstiger oder das Rentier. Es sucht sich die erfolgreichste und am weitesten verbreitete Gruppe von Lebewesen, um sie zu befallen. Es braucht lebende Zellen, um sich zu vermehren, um überhaupt zu existieren.
Für das Virus sind wir die Welt, so wie die Erde für uns die Welt ist, die wir befallen, in Besitz nehmen, verändern und zerstören. Wenn wir das geschafft haben, gehen wir genauso zu Grunde wie das Virus, wenn es seine gesamte Wirtspopulation ausgerottet hat.

Der Unterschied zwischen uns und dem Virus besteht eigentlich nur darin, dass wir die Wahl haben, wie wir mit unserer Welt umgehen.

„Luft… Luft! Das ist euer einziger Gedanke. Und während ich eure Lungen zerstöre, zerstört eure Maschine die Lunge der Erde. Das ist unser beider Dilemma. Wir leben von der Zerstörung und töten am Ende, was uns am Leben erhält“ sagt das Virus in dem Film.

Wer ist gefährlicher für das Leben der Menschen? Das Virus Covid-19 oder der Mensch selbst? Und wer ist verantwortlich für die derzeitige Corona-Situation mit Wirtschaftseinbrüchen, Depressionen, Armut und einer Vielzahl weiterer Folgen? Das Virus ist nur eines von tausenden Viren, die es in unserer Welt gibt und mit denen wir seit Anbeginn der Menschheit leben müssen.
Was ist das Besondere an gerade diesem Virus? Was ist der Unterschied zu anderen Viren?

ZWEITE EBENE: DAS VIRUS UND DIE WELT

Es ist nicht unbedeutend, ob das Virus in einem geheimen Labor im chinesischen Wuhan gezüchtet wurde oder von einer Fledermaus bzw. dem Schuppentier Pangolin stammt und auf einem Tiermarkt auf den ersten menschlichen Wirt übertragen wurde. Genau genommen ist es jedoch nur dann von zentraler Wichtigkeit, wenn alle bisherigen Viren (Grippe, Ebola, SARS, MERS etc.) künstlich gezüchtet wurden. Das wäre dann eine vollkommen andere Ausgangslage, als wenn die zweite Art des Ursprungs die Realität ist: Durch die ständig zunehmende Abholzung der Urwälder überall auf dieser Welt plus der massiven Bevölkerungszunahme geraten die bisherigen Balancen der Natur unter Druck und brechen zusammen. Dann kommt es zu vermehrtem Kontakt zwischen wilden Tieren und Menschen und irgendwo springt dann ein Virus auf einen Menschen um und verbreitet sich.
Diese Krankheiten heißen Zoonosen, weil sie von Tieren auf Menschen überspringen, auf Menschen, die dafür nicht bereit sind, weil sie nicht mehr nahe an der Natur leben.

Die Verbreitung wäre früher auch kein Problem gewesen, denn sie wäre lokal begrenzt geblieben. Selbst in frühen Globalisierungszeiten wäre das Virus nicht weit gekommen, denn nach einigen Wochen am Schiff wären entweder alle Träger gestorben oder geheilt und immunisiert in Europa oder wo auch immer angekommen.
Mit dem Flugzeug gelangt das Virus in wenigen Stunden rund um die Welt. Es sind wir, die das Virus verbreiten und es ist unsere Art zu leben.

Wir bleiben bei der zweiten Ursprungsvariante und identifizieren die Gründe für diese Pandemie.

1.) Starker Druck auf die Naturlandschaften, speziell die Urwälder, aufgrund der unkontrollierten Ausbeutung.
2.) Bevölkerungswachstum ohne geeignete Infrastruktur.
3.) Massiv ausgebauter Flugverkehr der letzten Jahrzehnte.
4.) Wenig Resilienz durch die Schwächung der Sicherheitsstrukturen

Diesen vierten Punkt gilt es zu erläutern. Die Resilienz ist die Widerstandskraft gegen Außeneinflüsse eines Systems. Die dominanten Strukturen der meisten Gesellschaften weltweit sind von zwei neoliberalen Grundprinzipien geprägt:

• Privat statt Staat – das bewirkt die Schwächung der staatlichen Strukturen.
• Nur die Stärksten sollen überleben – da in unserer Gesellschaft Stärke durch Macht ausgedrückt wird und Macht durch Geld, sollen die Reichen überleben.

DRITTE EBENE: DAS VIRUS UND DIE NATIONALSTAATEN

Als der österr. Bundeskanzler höchstpersönlich die Balkan-Route geschlossen hatte, durchströmte einen großen Teil der ÖsterreicherInnen das wohlige Wonnegefühl, das wir alle haben, wenn wir die Türe schließen und der kalte Schneesturm und mit ihm alles Grausliche draußen bleibt.
Wer am warmen Feuer sitzt, interessiert sich eher weniger für andere, die irgendwo draußen sind. Wenn diese anderen noch dazu auch gerne die wenigen Plätze rund um das wärmende Feuer hätten und wir diese anderen gar nicht kennen, wird aus dem Desinteresse klare Ablehnung.
Wer uns dann verspricht, diese anderen verlässlich draußen zu halten, bekommt unseren Applaus bzw. unsere Stimme.
Wir könnten zwar die menschlichen Eigenschaften Empathie und Mitleid auspacken, doch leider kommt uns die Behaglichkeitsdifferenz dazwischen, wie Eugen Roth treffend beschreibt:

„Ein Mensch liest, warm am Ofen hockend
Indem das Wetter nicht verlockend,
dass draußen, im Gebirg verloren,
elendiglich ein Mann erfroren.
Der Mann tut zwar dem Menschen leid,
doch steigert´s die Behaglichkeit.“
(Eugen Roth: „Traurige Wahrheit“ in: Von Mensch zu Mensch)

Dummerweise gibt es rund um das Feuer nicht genügend Holz und so müssen wir die Türe öffnen, um Nachschub zu holen. Ein Großteil unserer Konsumgüter kommt inzwischen aus Fernost, vor allem aus China. Rohstoffe bekommen wir aus Afrika und Südamerika und die Produktion der meisten Waren ist auch schon in Länder ausgelagert, in denen man billiger produzieren kann als in Europa.
Das ist äußerst bequem, denn wir verlagern die Umweltverschmutzung somit an das andere Ende der Welt und hoffen, dass sie auch dort bleibt. Zudem müssen uns die Arbeitsbedingungen am anderen Ende der Welt nicht kümmern und auch hier hoffen wir, dass die Menschen dort bleiben. Falls sie das nicht tun, kann man ja ein wenig nachhelfen. Wenn dann grausliche Bilder von zerstörten Landschaften und gequälten Menschen auftauchen, sagen wir einfach „Fake News“ dazu und müssen sie dann nicht ernst nehmen.

Und dann kam Covid19 und auf einmal mussten wir entdecken, dass unsere Behaglichkeit am Feuer gestört wird. Weil ein Mensch in China auf einem Markt ein Stück infiziertes Buschfleisch gekauft hat, dürfen wir unsere Oma nicht mehr besuchen. Der Bundeskanzler erklärt mit trauriger Miene, dass wir leider nicht zum Frisör dürfen und auch aus dem Strandurlaub in Dubai wird nichts, wenn wir nicht hinfliegen können.

Das Virus interessiert sich nicht für Nationalstaaten oder Grenzen. Es hat sich gezeigt, dass diese nicht so dicht gemacht werden können, dass sie durch das Virus unüberwindbar sind. Inselstaaten können das vielleicht eine Zeit lang, aber auch das misslingt meist. Das Virus zeigt, wie schwach unsere Identität ist, wenn wir sie auf Nationalität bauen. Die draußen, die im anderen Land sind so wie wir, deswegen können wir uns gegenseitig anstecken.
Im Frühling 2020 erwartete die Welt ein Schreckensszenario in Afrika, doch das trat nicht ein. Es stellte sich heraus, dass Covid-19 eine Krankheit alter Weißer ist, nicht junger Schwarzer. Das Virus weiß nichts von „White Supremacy“ und befällt alle. Es erwischt uns dort, wo wir auf die eigentliche, uralte Stärke des Homo Sapiens vergessen haben – die Kooperation.
Binnen kürzester Zeit brachen die Säulen der EU in sich zusammen: freier Personen- und Warenverkehr, das Defizitziel von max. 3% des BIP, aber auch die Solidarität in vielen Bereichen.
Das Virus zeigt uns, dass Abschottung nicht der richtige Weg ist.

VIERTE EBENE: DER VIRUS UND DIE GESELLSCHAFT

Schnell wird der Ruf nach mehr Freiheit laut. Wir wollen auf das Gewohnte, auf das als normal Empfundene auf gar keinen Fall verzichten und wenn, dann nur ganz kurz und möglichst wenig.
Da in unserem System das Geld der ausschlaggebende Faktor ist, gewinnen diejenigen, die das Geld haben. Ihre Bequemlichkeit wird fast nicht eingeschränkt, sie können zum Golfspielen nach Südafrika fliegen und sich Luxusgüter nach Hause liefern lassen. Sie können in ihrem großen Garten Freunde einladen und müssen sich auch nicht in enge U-Bahnen quetschen, weil in der Garage steht der Range Rover.
Selbst wenn wir nicht die Klischees strapazieren, bleibt übrig, dass das Geld regiert und die Politik dem Ruf des Geldes folgt. Auch die Entscheidungen punkto Pandemiebekämpfung werden leichter verständlich, wenn man sich ansieht, wem sie vor allem nützen.

WAS UNS DAS VIRUS ZEIGT

Es zeigt unsere menschliche Vergangenheit, aus der wir entstanden sind. Wir sind Produkte der Evolution der letzten zwei Millionen Jahre und haben Fähigkeiten entwickelt, aber auch deren Grenzen. Wir können Krisen gut bewältigen, wenn wir a.) zusammenhalten und b.) eine Perspektive haben, also ein Ende definieren oder erkennen können.

Wir sind soziale Wesen, die andere Wesen brauchen, um leben zu können. Das zeigt uns schon die Geburt, nach der wir auf fremde Hilfe angewiesen sind und ohne diese sehr schnell sterben. Unser Stress-System ist auf kurze, durchaus auch starke Stress-Spitzen eingestellt und kann diese gut bewältigen. Ein hohes Dauerbrummen an Stress macht uns kaputt und die Pandemie mit ihren ständig wechselnden Entscheidungen, den aufeinander folgenden und uns willkürlich erscheinenden Lockdowns bringen uns an Grenzen, die wir in der Größe und Art ihrer Folgen noch gar nicht einschätzen können.

Das Virus greift uns bei den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit an, aus der die Verletzlichkeit entstanden ist. Je schneller und effizienter unsere globale Wirtschaft arbeitet, desto verletzlicher wird sie, da die Puffer längst wegrationalisiert wurden. Es gibt keine Leerräume mehr, keine Rückzugsgebiete, weder für Tiere noch für Menschen, fast jeder irgendwie nutzbare Quadratmeter ist privatisiert und kommerzialisiert. Wir haben unser Leben und die Natur ausgepresst bis zum letzten Tropfen und jetzt kommt die Dürre in Form des Virus. Und wir haben die Menschen ausgepresst, die jetzt oft mehrere Jobs brauchen um sich das Leben leisten zu können.

Die größte Verletzlichkeit ist wohl derzeit die Abhängigkeit von der Produktion lebensrelevanter Produkte durch Menschen, Unternehmen und Nationen, deren Ziel nicht das Gemeinwohl ist. Wir können das sehr gut an den Pharmafirmen erkennen, die auch in der Pandemie das tun, was sie immer getan haben: ihren Profit maximieren, die Preise durch Verknappung in die Höhe treiben und maximal erzielbare Gewinne generieren und abschöpfen.
Besonders abhängig ist Europa von China, wo fast alles produziert wird, was wir hier brauchen, von landwirtschaftlichen Produkten über jede Art von Konsumgütern bis hin zu großen Teilen der medizinischen Versorgung.
Wir haben rationalisiert und alles ausgelagert, was irgendwie möglich war.
Ganz besonders effizient, aber auch ganz besonders verletzlich ist die „Just-in-Time-Produktion“. Sie bricht bei der kleinsten Störung zusammen.
Es war in Europa zwar möglich sehr schnell eine Produktion von Schutzmasken der einfachsten Art zu entwickeln, das gilt aber nicht für komplexere Produkte oder gar technisch hochwertige Dinge wie medizinische Instrumente oder Pharmazeutika.
Es zeigt sich, dass die Schwächen globalisiert wurden, nicht die Stärken. Wenn das schwächste Glied der Kette zusammenbricht, bricht das gesamte System zusammen.

Einer dieser Zusammenbrüche zeigt sich im Gesundheitssystem, wo der Ausdruck „kaputtgespart“ wohl mancherorts seine Berechtigung hat. In einem auf Effizienz und Profitmaximierung ausgerichteten System ist die oberste Maxime die der Kosteneinsparung. Das beginnt beim Personal, geht über die medizinischen Geräte und endet beim Klopapier.
In einer Diskussion wären sich wohl schnell alle einig, dass Gesundheit wichtig ist und ein gut funktionierendes Gesundheitssystem auch Kosten verursachen darf. Nicht mehr ganz so einig wären sich die DiskutantInnen bei der Frage, wie viel es kosten darf und wer dafür zu sorgen hat, dass es funktioniert. Die einen meinen, dies müsste staatlich organisiert sein, die anderen wollen es in privater Hand sehen.
Die Pandemie kam nicht überraschend, sie wurde weltweit durch ExpertInnen vorausgesagt, die natürlich nicht wissen konnten, wo genau sie entstehen wird und wann. Einige ostasiatische Länder hatten aus den Erfahrungen mit SARS und MERS gelernt und waren besser vorbereitet, andere mehr oder weniger gar nicht.
Aber auch hier ist das Thema komplex.

Das Virus zeigt unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod. Es zeigt unsere kulturellen Strukturen, unsere Grundwerte und wie wir damit umgehen. Sehr schnell tauchte ein Grundwiderspruch auf, nämlich der von jung und alt. Für die jungen Menschen ist es gut möglichst viel Freiheit zu haben, um sich gut entwickeln zu können. Jugendliche wollen sich treffen, über Kontakte mit Gleichaltrigen ihre soziale Kompetenz aufbauen, sie wollen möglichst viel differenzierte Interaktion, in der Schule, beim Mannschaftssport, in Lokalen, in Diskos, Clubs, Bars und privaten Feiern. Für sie ist jeder Lockdown schlecht.
All das verbreitet das Virus und trifft dann die Alten, die sich dagegen schlechter wehren können. Für sie ist jeder Lockdown gut.
Was ist nun wichtiger: das Leben der Jungen oder das Leben der Alten?
Mit anderen Worten: Wie viele Tote sind wir bereit zu akzeptieren?

Das Virus deckt aber noch etwas anderes auf: das Wegschauen, das Verleugnen, das Flüchten. Auch das gehört zu unserer Gesellschaft und zum Menschsein. Es zeigt unsere weniger schönen Seiten, den Egoismus, etwa bei den Hamsterkäufen oder wenn Menschen die Corona-Regeln brechen, zum Golfspielen nach Südafrika fliegen oder Parties feiern.

Das Virus zeigt die Grenzen unserer psychischen Widerstandskraft, und zwar die der Individuen und die der Gesellschaft. Nach einem Jahr Pandemie ist klar, dass Kinder und Jugendliche zum Teil stark betroffen sind, die Kliniken und Ambulanzen platzen aus allen Nähten: Angststörungen, Depressionen, Suizid, aber auch körperliche Schäden durch Bewegungsmangel und noch vieles mehr haben so massiv zugenommen, dass die Alarmglocken schrillen.
Durch Homeschooling und Homeoffice geraten Familiensysteme an ihre Belastbarkeitsgrenzen. Wenn beide Elternteile plus Kinder in einer kleinen Wohnung im Lockdown leben, arbeiten und lernen müssen, zeigen sich sehr schnell die Grenzen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Dazu kommen der fehlende Urlaub und die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten.

Das Virus hat uns einen Blick in die Zukunft werfen lassen. Seit Jahrzehnten perfektionieren und bewundern wir ein Wirtschaftssystem, das von uns die Idiotie („Vereinzelung“) verlangt. In einem System, das nur durch ewiges Produktions- und Konsumwachstum funktioniert, müssen immer mehr Menschen immer mehr Dinge kaufen. Sie müssen sie weder brauchen noch verwenden, es reicht, wenn sie möglichst viel davon kaufen. Die Spitze dieser Entwicklung ist derzeit die „Fast Fashion“. Der weltweite Bekleidungsdiskonter Zara produziert bis zu 300 neue Linien jedes Jahr und möchte, dass die KundInnen möglichst jede Linie kaufen. Jeden Tag eine neue Mode. Da die Menschen diese Bekleidung nicht mehr tragen können, wird sie weggeworfen, ohne je getragen worden zu sein. Die Dinge werden wegen des Kauferlebnisses gekauft (sieben Sekunden Adrenalinausschüttung) und das ist nach dem Kauf vorbei.
Der Feind dieses Systems sind die „Commons“, die gemeinsam genützten Dinge. Wer Dinge gemeinsam benützt, gar tauscht oder repariert, gilt als „Kommunist“ und wird belächelt oder beschimpft, in jedem Fall sozial stigmatisiert.
Das Virus zeigt uns, was mit uns geschieht, wenn wir vereinzelt werden, wenn wir uns selbst zu den Idioten (und Idiotinnen) machen, die wir laut dem System sein sollen, das uns erzählt: geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut. Ein System, das die Wirtschaft über das Leben stellt und das mit dem Argument erklärt, dass Arbeitsplätze verloren gehen können. Genau die Arbeitsplätze, die genau dieses System mit aller Kraft vernichtet, weil Personalkosten den Gewinn schmälern.

Das Virus zeigt uns, wie schnell wichtige Dinge knapp werden, obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben. Es zeigt uns die Schwäche eines Systems, das von vielen als unfehlbar beschrieben wird, das sich angeblich selbst reparieren kann.
Wir leben in einer Welt, die es in der Form erst seit dem Ende des zweiten Weltkriegs gibt. Und genau diese Welt hat jetzt das erste Mal einen Schock bekommen. Es gab das erste Mal eine Angebots- und eine Nachfragekrise zur gleichen Zeit. Das war auch in der bisher größten Krise (Finanzkrise 2009) nicht der Fall. Das erste Mal stehen weltweit Flughäfen leer, Autofabriken still und die Tourismusindustrie befindet sich am Rande des Abgrunds.

Das Virus zeigt, was aus uns wird, wenn wir uns isolieren. Vor ein paar Jahren saß ich in einem Kaffeehaus, als fünf junge Mädchen hereinkamen und sich an einen Tisch setzten. Sie redeten kein einziges Wort miteinander, sondern starrten über eine Stunde auf ihre Handy-Bildschirme, um dann wieder zu gehen.
Jetzt sollen wir das tun, was wir bisher freiwillig getan haben: möglichst über Bildschirme miteinander kommunizieren, möglichst viele Maschinen benützen und uns von ihnen möglichst abhängig machen. Wir sollen möglichst wenige Menschen treffen und möglichst viel online kaufen, um unsere Wohnungen nicht verlassen zu müssen.

Das Virus hat uns auch gezeigt, was wir brauchen und was nicht, welche Berufe für das Funktionieren unserer Gesellschaft wichtig sind und welche nicht. Es hat uns auch gezeigt, dass wir genau diese Menschen, die in diesen Berufen arbeiten, schlecht bezahlen, dass wir sie ganz unten in der Pyramide ansiedeln, an deren Spitze die Hedgefondsmanager stehen und die Anwälte und die EigentümerInnen großer Unternehmen.
Schlecht bezahlen tun wir die Pflegekräfte, die Müllmänner, die Putzfrauen, die Menschen, die unsere Kläranlagen reparieren und warten und noch viele andere.

Das Virus zeigt uns die Randbereiche unserer Gesellschaft. Es wirkt wie ein Röntgengerät, das uns in die Tiefe schauen und die Knochen erkennen lässt. Wir sehen auf einmal die Menschen in unserer Gesellschaft, die bisher unsichtbar waren, weil sie gerade mal mehr recht als schlecht existieren. Wir sehen die blitzschnell zusammenkrachenden Existenzen, die wir bisher nicht gesehen haben, weil sie knapp unter der Wahrnehmungsschwelle waren. Wir sehen Menschen, die bisher irgendwie über die Runden gekommen sind, weil sie am Rand der Gesellschaft von dem lebten, was jetzt nicht mehr runterfällt.
Es zeigt uns die Grenzen eines an die Grenze getriebenen Effizienz-Profitsystems, mit Fluglinien, die niemals wirtschaftlich gearbeitet haben und nur durch staatliche Subventionen bisher existieren konnten.
Es zeigt uns die Grenzen zwischen dem, was wir brauchen und dem, was wir uns wünschen. Es zeigt die Perversion in vielen Lebensbereichen. Wir züchten 1,7 Milliarden Rinder auf der Welt – Milchkühe nicht eingerechnet. Die Bio-Masse dieser Rinder ist größer als die aller Menschen.

Es zeigt uns die Maschine, in der wir uns befinden. Damit sind nicht nur die vielen Maschinen gemeint, die uns umgeben und unser Leben beeinflussen, ob das jetzt das Handy ist oder das Auto oder der Computer oder die Beatmungsmaschine, sondern ein System, von dem viele bisher dachten, dass es als Ganzes sowieso nicht mehr steuerbar ist und quasi wie von alleine funktioniert.
Und jetzt verlangt diese Maschine nach massiven Eingriffen, nach Steuerung, nach vernetzten Entscheidungen für Millionen von Menschen.

Damit zeigt uns das Virus die Machtlosigkeit der Mächtigen. PolitikerInnen sind sich nicht sicher, wie und auf welcher Grundlage sie Entscheidungen treffen sollen. Sie richten sich bisher nach der Macht der Mächtigen und finden diese in den Wirtschaftssystemen und ihren Lobbys. Die allerdings kämpfen nur für ihre eigenen Interessen.

Und dann zeigt uns das Virus noch das, was Michel Foucault „Bio-Politik“ genannt hat: Ein Gesundheitsproblem dient als Vorwand um das Kollektiv zu kontrollieren. Krisen verlangen nach Kontrolle und sowohl demokratische wie auch autoritäre Systeme folgen diesem Ruf. Mich erinnert das an 9/11, wo der Terroranschlag in den USA von der dortigen Regierung zum Anlass genommen wurde, ein repressives Kontroll- und Überwachungssystem massiv auszubauen, das übrigens nicht mehr abgebaut wurde, so wie in allen anderen Staaten dieser Erde, die dem Beispiel der USA gefolgt sind, angeführt von China mit seiner inzwischen fast lückenlosen Überwachung.
Jetzt zeigt uns das Virus die Strukturen unserer politischen Systeme, es wirkt wie ein Turbo, wie ein Verstärker des schon Vorhandenen.
Zugleich mit dem Ruf nach mehr Freiheit erschallt der Ruf nach mehr Kontrolle – die Freiheit für mich, die Kontrolle für die anderen. Das Virus zeigt die Grenze des Individualismus, der darin gipfelt, dass ich gerne in meiner kleinen Gasse ein Fahrverbot für alle außer für mich selbst möchte – vielleicht noch für meine besten Freunde oder Besucher. Dafür hätte ich aber gerne ungehinderte Fahrt im Rest der Stadt, und zwar in der Geschwindigkeit meiner Wahl, denn sonst ist ja meine Freiheit eingeschränkt.
Das Ziel, quasi der Idealzustand ist eine auf mich zentrierte Welt, in der ich alle Rechte und Freiheiten habe, aber keine Verantwortung. Dieser Zustand wird in der Bibel als „Paradies“ beschrieben, eine Welt, in der ich wohl behütet lustwandeln kann und mich um nichts kümmern muss.
Dummerweise bin ich in so einer Welt alles andere als frei, denn ich darf nicht die Früchte des Baumes der Erkenntnis essen. Hier ist die Grenze meiner Freiheit. Wenn ich es doch tue, werde ich aus dem Paradies vertrieben und muss die Verantwortung für mein Leben übernehmen, also mein Brot im Schweiße meines Angesichts verdienen.
Das Virus zeigt uns, dass uns das System bisher das Paradies vorgegaukelt hat und die Politikerinnen und Politiker uns die Verantwortung abgenommen haben, allerdings zum Preis der Freiheit und Selbstbestimmung.
Jetzt agieren wir wie Kinder, die selbst- oder zumindest mitbestimmen wollen, aber noch nicht wissen, wie das geht. Aus Millionen BürgerInnen werden Millionen Möchtegern-Virus- und Impfexpertinnen und -experten.
Politische Parteien und demokratische Wahlen scheinen als Mittel nicht mehr zureichend zu sein, aber was gibt es sonst?

DAS VIRUS ALS CHANCE

So seltsam es klingt, Covid-19 könnte so etwas wie eine globale Impfung sein, also eine kleine Portion von etwas Tödlichem, auf das wir uns einstellen, so dass wir eine globale Immunantwort finden können.
Die Menschheit kann möglicherweise Resilienz aufbauen, wenn sie die Botschaft versteht.
Warum kam diese Pandemie genau jetzt?
Vielleicht liefert die Summe aller globalen Veränderungen die Antwort. Diese Mischung aus Naturzerstörung, Wachstumsideologie, Globalisierung, Tourismusindustrie, Überflussgesellschaft, Ausbeutung und noch vieles mehr ist möglicherweise an einem Punkt angelangt, an dem bestimmte Auslöser so häufig auftreten, dass irgendwann ein Einzelereignis den Stein ins Rollen bringt.

„Ihr entwickelt zwar einen Impfstoff gegen mich, aber warum nicht gegen die Maschine? Einst habt ihr ihre Auswüchse mit einem Impfstoff bekämpft, den ihr Demokratie nanntet. Doch jetzt mutiert die Maschine, und zwar so schnell, dass eure Demokratie sie nicht mehr stoppen kann“ sagt das Virus im Film.

Schreckt die Dystopie auf?

„Wer glaubt, 2020 sei nur ein Krisenjahr und danach wird alles besser, oder wieder wie vor der Krise, der irrt. Ich glaube, in zehn Jahren wünschen wir uns 2020 zurück.“ Das sagt die Klimaschutzaktivistin Carola Rackete, die als streitbare Kapitänin in der Flüchtlingskrise bekannt wurde.
Stimmt das? Werden wir wesentlich ernstere Krisen als Covid-19 bewältigen müssen? Und wenn ja, müssen wir uns dann nicht jetzt bereits darauf vorbereiten? Und wie sollen diese Vorbereitungen aussehen?

Falls dieses dystopische Szenario zur Wirklichkeit wird, werden wir ohne Zusammenhalt, Kooperation und funktionierende Lebenserhaltungssysteme nicht weit kommen.
Eine dieser Krisen kennen wir bereits und sie könnte sich als die schlimmste herausstellen: die Klimakrise.
Ähnlich wie die Corona-Pandemie gab es seit Anbeginn der Menschheit auch noch nie einen so tiefgreifenden Klimawandel.
Der Unterschied besteht in der Geschwindigkeit und im Auslöser. Im Gegensatz zu anderen ähnlich gravierenden Klimawandelzeiten findet der jetzige zehnmal oder hundertmal so schnell statt. Und im Gegensatz zu allen schnellen Klimawandeln, die allesamt entweder durch Vulkanausbrüche oder durch einschlagende Himmelskörper ausgelöst wurden, ist dieser hausgemacht.

Maßnahmen sind schwierig, denn es handelt sich um komplexe Probleme. Es reicht nicht, an einer Schraube zu drehen, denn das löst nicht eine Veränderung aus, sondern möglicherweise zehn und davon sind neun unvorhersehbar.
Ein Beispiel: Die Zoonosen entstehen nicht nur bei der Übertragung von Viren von Wildtieren auf Menschen, sondern auch in der industriellen Tierhaltung, also bei der Lachszucht und der Fleischzucht. Entscheidend ist die Art und Weise, wie die Tiere gehalten werden. Wenn auf der einen Seite Menschen glauben, dass sie täglich Fleisch brauchen, haben wir auf der anderen Seite eine Entwicklung hin zu einer Tierhaltung, die wiederum Krankheiten produziert, denn jeden Tag Fleisch geht nur, wenn es billig ist. Billiges Fleisch lässt sich nur durch Ausbeutung der Umwelt erzeugen.
Wenn jetzt neue Virenstämme auftauchen, dann führen die Menschen dies nicht auf ihren stark gestiegenen Fleischkonsumwunsch zurück. Das ist Komplexität.

Werden wir lernen?

Was werden wir aus der Pandemie lernen? Werden wir danach weniger sinnlose Business-Flüge machen? Werden wir mehr in der näheren Umgebung Urlaub machen oder zum Ausgleich noch mehr möglichst billig rund um die Welt fliegen?
Werden wir die notwendigen Dinge für eine Krise wieder lokal produzieren oder wird künftig noch mehr in China und Afrika gemacht, weil es ausschließlich um den Preis geht?
Werden wir die Botschaft des Virus verstehen und – noch viel wichtiger – werden wir daraus Konsequenzen ziehen?
Werden wir in Zukunft in Diktaturen leben, die nach außen hin einen Rest von demokratischem Anschein bewahren oder werden wir neue Formen der Politik erfinden und anwenden?
Werden wir wie konterdependente Kinder nur gegen die Autorität demonstrieren oder selbst Verantwortung übernehmen, auch wenn diese nicht unbedingt angenehm ist? Wir können unsere eigene Konterdependenz daran erkennen, dass wir zwar sofort schreien, wenn der Staat Daten von uns verlangt, aber in der nächsten Sekunde all unsere Daten einem anonymen und völlig unkontrollierbaren Internetkonzern zur Verfügung stellen. Wie Kinder haben wir noch nicht gelernt hier vernünftig zu handeln.
Früher kannte man die Burg und den Burgherrn und wusste, wohin man mit den Mistgabeln gehen musste, um etwas zu ändern. Heute sind die Herrschaftssysteme unbekannt oder unsichtbar, global verteilt, virtuell und da wir nicht wissen, wie wir uns gegen sie auflehnen sollen, lehnen wir uns gegen die auf, die wir greifen können. Falls das die falschen sind, werden wir scheitern.
Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist die Rückkehr in das, was vor Corona war, also in ein System, das hundert Mal gefährlicher für die Menschheit ist als das Covid-19-Virus.
Es hat uns gezeigt, wie sich ein kleines Ereignis massiv auf ganze Menschheit auswirken kann. Vielleicht hilft es uns auch zu erkennen, dass uns die Klimakrise alle betrifft, auch wenn sie noch nicht die spürbaren Auswirkungen auf unser Leben hat.
Wir brauchen eine neue Zukunft und wenn wir uns berechtigterweise nach Normalität sehnen, dann sollte diese ein Teil der neuen Welt sein, in der mehr Menschen ein besseres und möglichst alle ein gutes Leben haben.

Was wir tun müssen

Das wichtigste wird sein, lokale Gemeinschaften zu finden oder aufzubauen, innerhalb derer wir bereit sind gemeinsam auf einen Teil unserer Bequemlichkeit und unseres Wohlstands zu verzichten. Im Idealfall auf das, was uns sowieso nicht mehr glücklich macht. Die wenigsten Menschen halten es aus auf etwas zu verzichten, wenn alle anderen rundherum das nicht tun. Die Vernetzung dieser Gemeinschaften wird die Aufgabe der größeren politischen Strukturen sein.

Noch können wir etwas tun, um zu verhindern, dass wir unsere Erde zerstören. Wir besitzen keine zweite, auf die wir wechseln können. Die Zahlen sind längst bekannt, das Wissen ist vorhanden, die Ist-Situation ist klar sichtbar. Was jetzt fehlt, ist gemeinsames, schnelles Handeln. Wir wissen, was das Richtige ist, jetzt müssen wir es auch tun.

Möglicherweise hilft uns Covid19 dabei. Und wenn nicht, dann wird das nächste Virus kommen und uns oder unsere Kinder möglicherweise noch deutlich härter treffen als Covid19.
Wir haben die Wahl und ich habe mich schon entschieden.

Und das sind die Schlussworte des Virus in dem Film:

„Die Maschine wird mich überleben. Schade. Ich hätte so gerne gesehen, wie ihr sie bändigt, sie zum Schweigen bringt. Ihr schafft das, da bin ich mir sicher. Denn ihr Menschen habt Waffen, die weder ich noch die Maschine kennen: Liebe, Humor, Kreativität.“

(Die Zahlen und Fakten dieses Artikels stammen aus dem Film „Corona – Sand im Weltgetriebe“)